Arthur Millers „Ein Blick von der Brücke“ im Schauspiel Frankfurt
Aktualität ist gerade im Theater zu einem systemrelevanten Kriterium geworden. Das kann heißen, dass dem Publikum nicht mehr zugetraut wird, Dramen von gestern heute nachzuvollziehen. Es kann aber auch bedeuten, dass der einstige Konflikt inzwischen behoben ist oder wir uns an ihn gewöhnt haben. Arthur Millers Stück „Blick von der Brücke“ von 1955/56 spielt in den frühen 50er Jahren, als es in den USA eine Einwanderungsproblematik und Hungersnöte gab. Martin Lüdke hat in der Frankfurter Premiere die Aktualität verfehlt gesehen.
Eine fällige Wiederentdeckung? Oder doch nur ein Ladenhüter? Als unserem Lehrmeister Hegel einmal vorgeworfen wurde, dass man mit seiner Philosophie keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorlocken könne, erwiderte er kurz und trocken, das sei auch nicht ihre Aufgabe. Ist also Millers Sozial- und Eifersuchtsdrama, so alles in allem siebzig Jahre nach seiner Entstehung, noch von irgendeinem Interesse? Der Holländer Eric de Vroedt, der es jetzt auf die Bühne brachte, entzieht sich einer klaren Antwort. Er liefert keinen „Blick von der Brücke“ also von oben, sondern belässt alles im kleinen Rahmen, der auch vom (schlüssigen) Bühnenbild (mit) gesetzt wird.
Es wirkt, als wären die Zuschauer in die Handlung einbezogen. Immer in anderen Konstellationen. Sie sitzen nämlich gleichsam mittendrin. Die hinteren Reihen des großen Saals im Frankfurter Schauspiel bleiben ungenutzt, im Dunklen, leer. Die Zuschauer in den ersten (etwa) zwanzig Reihen scheinen auf diese Weise dichter an das Geschehen heranzurücken, zumal in einem rechten Winkel auf der Bühne selbst noch kleine Tribünen aufgebaut sind, wodurch das gleichsam ins Zentrum rückt. Eine große Sitzlandschaft, grüne Schaumgummiteile, variabel und beweglich, die anfangs ein großes Quadrat aus vier jeweils gleich großen kleineren Quadraten bilden und den gesamten Raum der Handlung abgeben, aber immer wieder in ihrer Konstellation verändert werden. Eine einleuchtende Abstraktion, die durchaus eine Symbolik erkennen und gleichwohl keine eindeutige Deutung zulässt. (Bühnenbild: Dennis Vandenbroeck) Das Geschehen wird damit aber aus allen konkreten Bezügen gelöst. Alles konzentriert sich auf die handelnden Personen – und das, was sie zu sagen haben, ist Arthur Millers Text aus der Nachkriegszeit.
Durch die Handlung führt, als wäre es ein antikes Drama, eine Anwältin aus der Brooklyner Nachbarschaft, die nicht nur die Verhältnisse genau und ihre Protagonisten gut kennt, sondern auch auf die eine oder andere Weise selbst hineinbezogen wird und so ebenfalls mit eingreift. Heidi Ecks spielt diese Rolle ebenso souverän wie überzeugend.
Eddie Carbone (regelrecht, das heißt imponierend verkörpert von André Meyer) lebt als nicht fest angestellter Hafenarbeiter mit seiner Frau Beatrice (Christine Geiße) und der siebzehnjährigen Cathrin, einer Art Ziehtochter, deren Eltern gestorben sind, in einem ärmlichen Viertel von Brooklyn. Eddie, ein Koloss von Mann, liebt dieses Kind. Er ist dem Mädchen, das sich zu einer jungen Frau entwickelt hat, auf eine nicht mehr ganz koschere Weise zugetan, ohne jemals die schicklichen Grenzen zu überschreiten. Aber er will und kann nicht wahrhaben, dass sein Kind kein Kind mehr ist und, wie sich schon vor der Ankunft von zwei illegalen italienischen Einwanderern, Verwandten seiner Frau, herausstellen wird, plötzlich auch kein Kind mehr sein will.
Das ist der Stoff. Das ist der Konflikt. Daraus entwickelt sich die Tragik des Geschehens.
Amerika, genauer die USA, gelten längst nicht mehr als das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, wo die erträumte Karriere der damals noch vor allem europäischen Einwanderer, also Iren, Italiener, auf die Formel „vom Tellerwäscher zum Millionär“ zu bringen war. In den USA aber gibt es, anders als in Süditalien, den entscheidenden Unterschied: es gibt Arbeit. Arbeit, die gut bezahlt wird. Die USA hatten gerade kapiert, dass wachsende Profite nur durch wachsenden Konsum (der Arbeiter) zu erreichen war und so waren sie wieder für Einwanderer aus aller Welt interessant. Viele kamen illegal, konnten aber durchaus darauf hoffen, später eingebürgert zu werden.
So haben sich auch Marco und Rudolpho, zwei junge Italiener aus dem Süden Italiens, auf den Weg nach New York gemacht. Sie wussten, dass sie erst einmal bei Eddie Carbone und dessen Frau, ihrer Tante Beatrice unterkommen konnten. Marco ist verheiratet und hatte Frau und drei (kranke, auch hungernde) Kinder zu Hause zurückgelassen. Er schickt jeden Pfennig, der ihm übrigbleibt, an seine Familie und will natürlich, sobald es nur geht, nach Hause zurückkehren. Rudolpho, familiär ungebunden, sieht seine Zukunft eher in Amerika, zumal er sich bald schon in die junge Cathrin verliebt, die schon längst kein Kind mehr ist, für die sie Eddie, der mehr als liebevolle Onkel, immer noch halten möchte. Und so kommt es zum Konflikt. Eddie, der wahre Berg von einem Menschen, der anfangs in all seiner Massivität immer etwas Gutmütiges ausstrahlte, wird regelrecht eifersüchtig auf seine Nichte, was das Mädchen erst so gar nicht verstehen kann. Er versucht mit haarsträubenden Argumenten, die beiden auseinander zu bringen, was ihm nicht nur nicht gelingt, sondern ihn immer weiter von seinem geliebten Kind entfernt. Ebenso wie Beatrice sich längst von ihrem Mann entfernt hat. Eddie leidet, sichtbar. In seiner Verzweiflung denunziert Eddie schließlich seine beiden illegalen Hausgäste bei der Einwanderungsbehörde. So kommt es zu einer tragischen Konfrontation. Der natürliche Reflex jedes Betrachters ist in einem solchen Fall von Verrat: Ablehnung. Hier gelingt es André Meyer allerdings, seinen Eddie und dessen mieses Verhalten so darzustellen, dass diese Figur nicht einmal die Sympathie der Zuschauer verliert, sondern vor allem Mitleid erregt. Man erlebt eine arme Sau, der alles, was sie hat, und das war wahrlich nicht viel, auf einmal genommen wird.
Es ist durchaus eine dichte, konzentrierte Inszenierung, die uns Eric de Vroedt da präsentiert hat. Auch überzeugend? Am Ensemble liegt es nicht. Da haben allesamt, und allen vorweg André Meyer, ihr Bestes getan und uns heute glaubhafte Figuren aus vergangenen Zeiten vorgeführt. Nur der Stoff hat etwas Staub angesetzt und mit den Hinweisen auf eine fortwährende Flüchtlingskrise und dem Einwanderungsstopp, den die Damen Wagenknecht und Weidel fordern, ist noch keine Aktualität gegeben. Die Geschichte ist über die Verhältnisse in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts hinweg gegangen. Ehre, Rache, solche Vorstellungen wären womöglich zu übersetzen. Jetzt, da Amerika wieder groß werden will, gelten andere Voraussetzungen. Die Aktualität von Millers gut gemeintem Stoff hängt wohl in bisschen in der Luft. „Zwei kleine Italiener“ aus Napoli (oder sonst woher) wirkten, von Conny Froboess gesungen, damals als rührender Ausdruck tatsächlichen Elends. Mitleiderregend. Eric de Vroedts Frankfurter Inszenierung von Millers „Blick von der Brücke“, konsequenterweise von allen historischen Bezügen freigesetzt, wirkt dagegen eher als eine traurige Erinnerung an alte Zeiten. Als Männer noch Männer waren. Und Amerika noch für Hoffnung stand.
Ein Blick von der Brücke
von Arthur Miller
aus dem Englischen von Alexander F. Hoffmann und Hannelene Limpach
Regie: Eric de Vroedt
Bühne: Dennis Vandenbroeck
Kostüme: Lotto Goss
Darsteller:
Eddie Carbone: André Meyer
Beatrice Carbone: Christina Geiße
Cathrine: Nina Wolf
Marco: Omar El-Saeidi
Rodolpho: Arash Nayebbandi
Fr. 24.01.2025
19.30–21.40
Einführung 19.00
Fr. 31.01.2025
19.30–21.40
So. 02.02.2025
16.00–18.10
Einführung 15.30
Do. 06.02.2025
19.30–21.40
So. 09.02.2025
18.00–20.10
Mi. 12.02.2025
19.30–21.40
Einführung 19.00
Mo. 17.02.2025
19.30–21.40
Sa. 01.03.2025
19.30–21.40
Erstellungsdatum: 21.01.2025