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Julia Mantels „Autobiographie einer Bisswunde“

Gedichte wie Geschichten

Riccarda Gleichauf


Julia Mantel. Foto: Alfred Harth

„Autobiographie einer Bisswunde“ der Lyrikerin Julia Mantel ist soeben innerhalb eines Jahres in der zweiten Auflage erschienen. Beim Nischengenre Lyrik keine Selbstverständlichkeit. Riccarda Gleichauf reflektiert darüber, warum Julia Mantels Gedichte beim Publikum so gut ankommen und plädiert dafür, sie in den Kanon der Schullektüre aufzunehmen.

 

Julia Mantel schreibt keine Prosa, weil sie meint, dass sie das nicht kann. Wenn ich mir ihren aktuellen Lyrikband Autobiographie einer Bisswunde anschaue, dann fällt auf, dass sie längst prosaisch schreibt. Im Gedicht KEINE-BLINDEN-FLECKEN geht es zum Beispiel um einen Hautarztbesuch, bei dem das lyrische Ich Angst hat, Hautkrebs zu haben. Zuletzt beruhigt es der Arzt nüchtern:

 

bei Ihnen

wuchert nichts:

Sie haben

lediglich

ein paar

Altersflecken

mehr.

 

Breite, ausschweifende Prosa braucht Julia Mantel gar nicht zu schreiben, weil sie ihr Publikum bereits mit der kleinen Form in Geschichten hineinzieht, die skurril und schonungslos ehrlich das Menschliche im Menschen sichtbar machen. Angst vor Krankheit, Alter, Einsamkeit oder schlichtweg Veränderungen des eigenen Lebens kommentieren ihre Texte humorvoll und manchmal mit moralischem Appell, der aber niemals belehrend, sondern aufmunternd wirkt.

Was Julia Mantels Lyrik besonders kennzeichnet, sind Sprachspielereien, die (tod)ernste gesellschaftspolitische Strukturen entlarven. In (V)ERFOLG(T) seziert sie beispielsweise das Wort „Erfolg“ bis in seine Einzelteile, fügt V und T dazu und fragt provokant, was nach dem Erfolg kommen mag:

 

Der Erfolger?

Wir sind das Volk. Er ist Volker.

Er folgt. Wir folgen.

Wir verfolgen unsere Erfolge.

 

Erfolg macht unfrei. Süchtig nach „mehr“ wirst du zur Gejagten, bis du vor lauter Abhängigkeit Gefahr läufst, dich selbst zu verkaufen, weil du nur noch reagierst, ohne selbstbestimmt zu handeln. (V)ERFOLG(T) ist ein Gedicht bei dem das übergeordnete Thema, der Erfolg, zentral ist. Typisch für Mantels Texte entsteht beim zweiten Lesen die Irritation auf diese zunächst angenommene Eindeutigkeit; bei der dritten Durchsicht eröffnen sich Interpretationsebenen, die Mantel zunächst durch die einfache, klare Sprache überspielt. Diese schafft für die Leser:innen eine aufmunternde Zugänglichkeit, um im zweiten Schritt die Lust an einem tieferen Verständnis an Text und Thema zu wecken. Aus diesem Grund sollte ihre Lyrik Eingang in den Schulkanon finden. Freude an der Lektüre, gepaart mit Möglichkeiten unterschiedlicher Interpretationsansätze, wären den Schüler:innen gewiss.

Auch ruhige, nachdenkliche Töne finden sich im aktuellen Band. DIE VERWAISTE BANK thematisiert die sterbenden Bankfilialen, die wie „letzte Mohikaner“ im Glaskasten die „übriggebliebene Schlange“ bedienen, ohne die Bedürfnisse der vor allem älteren Menschen weiter im Blick zu haben. Zu viel Digitalisierung erzeugt Einsamkeit, scheint das lyrische Ich zu prognostizieren, und ich denke dabei traurig an meinen letzten Einkauf bei ALDI, bei dem ich meine Waren selbst einscannen musste, weil kein menschliches Wesen an einer der vielen leeren Kassen saß, um mich, vielleicht mit einem Lächeln, zu bedienen.

Ein wahres, gerade auch junge Leser:innen empowerndes Kleinod rundet den Band ab, in dem Julia Mantel eine Beruhigungsformel als Reaktion auf den ewigen Leistungsdruck bereithält, den uns Familie und Gesellschaft oft suggerieren. DU BIST DOCH SCHON ETWAS kommt zur Erkenntnis, dass das heideggerianische „Sich-Vorweg-Sein“, im Sinne von, gedanklich immer schon am nächsten Entwurf arbeitend, gar nicht zwingend sein muss. Wichtig ist die Besinnung auf das Jetzt, das Da-Sein:

 

Was willst

du werden

hier auf Erden

 

Vielleicht

will ich mich

erstmal erden

 

Das mit

dem Werden

werden wir

dann sehen.

Julia Mantel
Autobiographie einer Bisswunde
Gedichte
16 S., brosch.,
ISBN: 3-933444-64-0
Spatzen #14
Edition Michael Kellner, Hamburg 2024 
 
 
 
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Erstellungsdatum: 07.09.2025