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Isolde Ohlbaums „Anderswo atmet man, hier lebt man“

Für Fotografen und Fotografinnen, die dem Charakteristischen nachstellen, gibt es den Kairos, den richtigen, vielleicht einzigen Moment, in dem das gelingt. Zu sehen sind solche Momente in den Porträts, Landschaften und Szenen von Isolde Ohlbaum. Mit Siebzehn ging sie ins unruhige Paris und genoss das Leben, wie es damals nur dort zu haben war. Zum Buch mit einer Auswahl ihrer Fotos aus dieser Zeit hat Rainer Erd einen persönlichen Zugang gefunden.

Wer sich in der Nachkriegszeit Fotos wie das abgebildete im Elternhaus mit dem Kommentar „das war mal uns“ anschauen musste und ein aufgeschlossener junger Mensch war, der entwickelte aus Schuldgefühl für die Taten der Väter eine Grundsympathie für die Stadt Paris. Wer sodann auf den Wunsch der Mutter, einmal in die großartige Stadt zu fahren, von Seiten des Vaters „erst dann, wenn sie wieder uns ist“, hören musste, für den verstärkte sich die Grundsympathie in ein wachsendes Interesse, dorthin zu fahren. Und wer dann als Gymnasiast französische Filme mit Brigitte Bardot und Alain Delon, Literatur von Eugène Ionesco und Jean Paul Sartre sowie und Jazz von Sidney Bechet und Boris Vian entdeckte, für den war eines Tages klar: da muss ich hin. Wegen der Schönheit der Stadt, aber auch um etwas wieder gut zu machen von dem, was die Väter angerichtet hatten.

Die Münchner Fotografin Isolde Ohlbaum hat andere Erfahrungen gemacht, als sie sich im Alter von 17 Jahren entschließt, München zu verlassen und nach Paris als „fille au pair“ zu gehen. Paris wurde ihr „Sehnsuchtsort“, weil sie französische Chansons, Bücher (wie Boris Vians L’Écume des jours), Fotografien von Robert Doisneau (Kuss-Foto) und die französische Sprache liebte. Und dann war da natürlich das Jahr 1968, in dem Pariser Student:innen den Traum nach einer neuen anti-autoritären Gesellschaft wahrzumachen schienen.
Ohlbaum verlässt deshalb München, fährt nach Paris und erlebt bei ihrer ersten Familie, was es heißt, mit drei anti-autoritär erzogenen Kindern konfrontiert zu werden: Für das Lernen der französischen Sprache blieb da keine Zeit. Sechs Wochen Erfahrungen genügten ihr, und sie wechselte nach einem Zwischenspiel als Sekretärin zu einer anderen, konservativen Familie, deren Kinder die Eltern mit „Sie“ ansprachen. Für den Französisch-Unterricht war jetzt Zeit.
In ihrem soeben in der Edition Isele erschienenen Bändchen über Paris schwärmt sie: „Was gab es Schöneres, als mit einem Buch im Jardin du Luxembourg zu sitzen oder in den Tuillerien oder im legendären Café Les Deux Magots oder auch nur auf einer Treppe am Ufer der Seine die Boote vorbeiziehen zu sehen. Es war ein bis dahin nie gekanntes Gefühl von Freiheit und Unbeschwertheit.“ (37)
Sie verbringt ganze Nachmittage in der Cinémathèque und ersieht sich die Welt der Regisseure der Nouvelle Vague (Godard, Truffaut, Chabrol, Rivette, Malle, Varda, Duras, Rohmer u.a.) und ihrer Schauspieler (Jean-Paul Belmondo, Alain Delon, Michel Piccoli, Yves Montand, Jean-Louis Trintignant, Catherine Deneuve, Jeanne Moreau, Simone Signoret u.a.). Obwohl sie keine Buchhändler-Ausbildung hat, stellt ihr der Betreiber der deutschen Buchhandlung Calligrammes eine Anstellung in Aussicht. Dazu kommt es nicht, weil sie Ende des Jahres 1968 Paris verlässt und nach München zurückkehrt, um sich dort an der Staatslehranstalt für Photographie zu bewerben.
Sie wird angenommen und beginnt danach eine Karriere als Fotografin, die ihr den Weg zur Starfotografin für Spiegel und Stern mit Fotos von damaligen Prominenten wie Klaus Kinski, Uschi Obermaier, David Bowie öffnet. Ein Porträtarchiv mit fast allen wichtigen deutschsprachigen Künstlern entsteht, mit dessen Bildern sie 1984 ihr erstes Buch „Fototermin“ publiziert.
Ohlbaum erweitert bald das Spektrum der von ihr porträtierten Personen. Der große französisch-rumänische Dramatiker Eugène Ionesco wird von ihr ebenso fotografiert wie Nathalie Sarraute, die bedeutende Schriftstellerin der französischen Nachkriegsliteratur, der amerikanisch-französische Schriftsteller Julien Green, der 1972 in die Académie française aufgenommen wird und der Literatur-Nobelpreisträger Claude Simon. Ihre frühe Paris-Erfahrung erweist sich dabei als sehr hilfreich. Mühelos kann sie für ihre Foto-Termine zwischen München und Paris pendeln, weil sie sich beiden Städten zugehörig fühlt.
Eine der Höhepunkte ihrer Foto-Termine ist 1986 das Treffen mit der Ikone der französischen Literatur, Marguerite Duras, im Pariser Luxus-Hotel Ritz am Place Vendôme. Duras bekommt an dem historischen Ort den Prix Riz-Paris-Hemingway für ihren Roman Der Liebhaber verliehen. Ein Vierteljahrhundert zuvor hatte Duras eine Oscar-Nominierung für das Drehbuch zu dem Film von Alain Resnais Hiroshima, mon amour erhalten. Ob sie während des Fototermins bereits einen Teil ihrer täglichen 6-8 Liter roten Burgunder getrunken hatte, zeigen die Aufnahmen nicht.
Neben den Fotos, die die porträtierten Personen mit feiner Lichtgestaltung zeichnen, verfasst Isolde Ohlbaum eine Hommage an den Kunstkritiker und -historiker Wilhelm Hausenstein, der 1950 vom damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer als Generalkonsul nach Paris geschickt wird. Später wird er dann Deutschlands erster Botschafter in Frankreich. In der Nazizeit politisch verfolgt, steht Hausenstein für den versuchten Neubeginn einer Freundschaft zwischen den einst verfeindeten Ländern.
Dass Hausenstein die richtige Wahl für die Pariser Tätigkeit sein würde, war deshalb vorhersehbar, weil er nach dem 2. Weltkrieg nicht nur zum ersten Präsidenten der Bayrischen Akademie der Schönen Künste gewählt worden war, sondern auch, weil er zur Gruppe der 48 Schriftsteller:innen gehörte, die 1949 in der Frankfurter Paulskirche die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung gründeten. Wie später Ohlbaum erlebt Hausenstein in Paris eine Atmosphäre großer intellektueller Freiheit, wenngleich er die traditionelle Eleganz der Stadt nach vier Jahren Besatzung durch die Nazis vermisst. Als Hauenstein fünf Jahre nach seiner Berufung nach München zurückkehrt, hat er zwar eine Reihe negativer Erfahrungen mit der Bonner Bürokratie gemacht, in denen noch viele ehemalige Nazis tätig waren. Aber es ist ihm gelungen, Grundlagen für den später von Konrad Adenauer und Charles de Gaulle unterzeichneten Élysée-Vertrag zu schaffen, der die „Erbfeindschaft“ der beiden Staaten beendete.
Neben Bildern der beschriebenen Personen enthält Ohlbaums Büchlein mehr als zwei Dutzend Fotografien charakteristischer Pariser Alltagssituationen, die dem, der eine gewisse Zeit nicht in Paris war, die Stimmung der Stadt in einer Weise einprägsam vermittelt, daß man sich unmittelbar dorthin versetzt fühlt. Für kurzzeitige Paris-Abstinenzler ist Isolde Ohlbaums empfehlenswertes Buch eine Art Zwischenmahlzeit bis zum nächsten Paris-Aufenthalt, der die Entzugserscheinungen zu mildern hilft.

Isolde Ohlbaum
„Anderswo atmet man, hier lebt man“
Über meine Pariser Zeit, Wilhelm Hausenstein, Joseph Breitbach und französische Literatur.
Erinnerungen und Photos
64 S., geb.
ISBN: ISBN 978-3-86142-679-0
Edition Isele, München 2025
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Erstellungsdatum: 23.11.2025