Nationale Grenzen sind nicht naturgegeben, sondern Folge eines Denkens, das Menschen nach bestimmten Kriterien kategorisiert und hierarchisiert. EU-Grenzen werden so nur für Wenige durchlässig, für die Menschheit in ihrer Vielzahl sind sie nahezu dicht. In ihrer Rede anlässlich der Gründung des „Fonds für Bewegungsfreiheit“ spricht die Journalistin Şeyda Kurt über eine autoritäre Wende sowie seelische und moralische Grenzziehungen im Innern.
Es bedeutet mir viel, heute hier zu sprechen. Ich selbst bin Kind und Enkelkind von Arbeitsmigrant*innen. Und ich erwähne das nicht, um Arbeitsmigration in irgendeiner Form mit der Flucht vor Verfolgung, Krieg oder Genoziden gleichzusetzen. Ich erwähne das, weil es Zusammenhänge gibt – das eine nicht ohne das andere vorstellbar ist. Zumal auch damals unter den Menschen, die in den 1960er und 70er Jahren etwa aus der Türkei und Kurdistan nach Deutschland kamen, viele politisch Verfolgte waren, die den Ausweg aus ihren Herkunftsländern über die Arbeitsmigration suchten. Aber das ist eine andere Geschichte.
Warum ist das eine nicht ohne das andere vorstellbar? Erst einmal stehen beide Kategorien von Einwandernden, die Arbeitsmigrant*innen und Flüchtenden, natürlich vor Grenzen. Diese Grenzen sind durchlässig, für die einen mehr und die anderen weniger, und das müssen und können sie nur sein, weil es eben unterschiedliche Kategorien von Einwanderung gibt, die staatlich festgelegt und reguliert sind. Und auf diese Weise unterschiedliche Kategorien von Migrant*innen hergestellt werden, die mit unterschiedlichen Rechten hierarchisiert werden.
Im Jahr 1980 wurde von der Bundesregierung ein Sofortprogramm zur Begrenzung der Einreise „unechter“ Asylbewerber*innen beschlossen. Dieses Programm sah unter anderem eine Beschleunigung des Asylverfahrens und viele weitere Restriktionen vor, die uns heute bekannt vorkommen sollten. Vorab und in der Folge jenes Beschlusses gab es eine Stigmatisierung und weitere Hierarchisierung unterschiedlicher Migrant*innenengruppen: „Gastarbeiter“ auf der einen, sog. „Asylanten“ oder „Illegale“ auf der anderen Seite. Der Staat unternahm auf diese Weise damals auch den Versuch, ehemalige, unliebsame Arbeitsmigrant*innen zu illegalisieren und loszuwerden, deren Arbeitskraft man nicht mehr brauchte. All das ist unter anderem nachzulesen in dem Buch Die windige Internationale der Soziologin Manuela Bojadžijev.
Die Kämpfe gegen und um Bewegungsfreiheit sind der DNA dieses Landes und Kontinents eingeschrieben. Genauso wie der Kampf um Bleibefreiheit. Denn wie die Philosophin Eva von Redecker treffend formuliert: Bewegungsfreiheit ist auch nur Freiheit, wo das Bleiben möglich wäre.
Diesen Kampf haben schon jene erwähnten Arbeitsmigrant*innen ab den 60ern geführt, deren dauerhafte Niederlassung man um jeden Preis verhindern wollte, in Ost- wie auch in Westdeutschland. Genauso wie Geflüchtete, Asylbewerber*innen und wie man sie noch genannt hat, in ganz Europa.
Ich habe gerade über die Hierarchisierung und Kategorisierung von Migrant*innen gesprochen. Und die gibt es auch noch mal innerhalb der Geflüchtetenbewegung, die schon zu genüge verfolgt und stigmatisiert wird. Die sogenannten Schleuser stehen nämlich in dieser moralischen und rechtlichen Hierarchie ganz unten. Und natürlich will ich nicht beschönigen, dass viele Menschen auf der Flucht in Kontakt mit Schleusern und Schleppern schreckliche Erfahrungen von Betrug, sexualisierter Gewalt, Vernachlässigung und Brutalität machen. Bis hin zum Tod. Aber erstens machen Schleuser*innen heute leider den Job, dem sich europäische Staaten durch die Verhinderung sicherer und legaler Fluchtwege verweigern. Und zweitens hilft die Entmenschlichung und Kriminalisierung von Schleuser*innen letztendlich nicht den Menschen auf der Flucht. Ganz im Gegenteil. Sie eröffnet lediglich neue Minenfelder, auf denen Flüchtende sich nun navigieren müssen, ständig vor der Angst vor noch größeren, noch brutaleren Repressionen.
Und – das zeigt uns auch die Geschichte der Kämpfe um Bewegungs- und Bleibefreiheit – wird über die Entrechtung und Kriminalisierung mancher Gruppen die Solidarität unter den sich Bewegenden gebrochen, unterschiedliche Gruppen gegeneinander ausgespielt.
Das heißt: Die staatlich hergestellten Kategorien von Arbeitsmigrant*innen, Flüchtenden und Schleusenden sind sich einander bedingende Teile eines umfassenden Systems, das ich mit Verweis auf den Philosophen Étienne Balibar als System einer europäischen Apartheid bezeichnen möchte. Jede Abschiebung, jede Kriminalisierung soll jene Apartheitsverhältnisse aufrechterhalten.
Und der Begriff der Apartheid verweist zugleich auf eine lange koloniale Tradition dieser Verhältnisse, an denen Deutschland mit in vorderster Front beteiligt ist und war: Im Nationalsozialismus wie auch in den deutschen Kolonien, in denen die Bewegungs- und Bleibefreiheit der Kolonisierten durch etwa sogenannte Eingeborenengesetzgebungen systematisch reguliert und eingeschränkt wurden.
Doch jene Apartheid stellt sich nicht nur über die Sicherung der Außengrenzen Europas her, sondern auch und vor allem über die rechtlichen und moralischen Grenzziehungen im Inneren. Und so ist es kein Zufall, dass in einer Zeit, in der die Außengrenzen höher und höher geschraubt werden, auch im europäischen und deutschen Inneren ein rechter Kulturkampf tobt, bereits seit Jahren, in dem etwa der Begriff anti-kolonial von Rechtsextremen bis hin zu selbsternannten liberalen Akteur*innen insbesondere in den vergangenen Monaten mit Häme und Hass überzogen wird.
Gewalt und Apartheid, das wissen wir von verschiedenen Kontexten auf der Welt, stellt etwas mit den Gewalttäter*innen an: Diese Zustände lassen sie verrohen, verhässlichen sie, verhässlichen im wahrsten Sinne des Wortes. In der Hässlichkeit steckt etymologisch der Hass. Diese Zustände machen diese Menschen, Europäer*innen, hasserfüllt und zugleich hassenswert. Die Zustände entmenschlichen jene, die die Grenzen der Apartheid im Namen europäischer Werte verteidigen. Das sehen wir nicht zuletzt an der aktuellen autoritären Wende und an dem Rechtsruck in Deutschland und Europa.
Aus diesen und noch viel mehr Gründen sind Flüchtende heute, wenn auch meist unfreiwillig, die politische Avantgarde im anti-kolonialen Kampf, im Kampf gegen die europäische Apartheid und im Kampf generell für universelle Menschenrechte. Weil sie allein durch ihre Existenz Fragen nach bürgerlichen Grundrechten in die Zentren Europas tragen. Und sie machen, manchmal ganz unabsichtlich, den "notwendig gewaltvollen Charakter“ sichtbar, der Nationalstaaten zugrunde liegt. Die Philosophin Donatella di Cesare formuliert das so: „In den Augen des Staates stellt der Migrant eine unerträgliche Anomalie dar, (…) eine Herausforderung für seine Souveränität. Doch der Migrant ist nicht nur ein Eindringling und auch nicht nur ein Gesetzloser, ein Illegaler. Allein durch seine bloße Existenz verstößt er gegen das fundamentale Prinzip, auf dem der Staat errichtet wurde: Er untergräbt den prekären Zusammenhang zwischen Nation, Boden und dem Monopol staatlicher Macht, welcher der gesamten Weltordnung zugrunde liegt.“ Zitat Ende.
Und die tatsächliche oder behauptete freiheitliche Grundordnung und moralische Standhaftigkeit Europas misst sich an seinem Umgang mit eben jenen Menschen auf der Flucht, den Fremden und ihren Unterstützer*innen. Auch den Schleuser*innen.
Niemand und auch kein Staat hat meines Erachtens das Anrecht auf territoriale Exklusivität. Und wenn es Nationen und Staatenbunde gibt, die eben das beanspruchen, müssen wir so weit gehen, und das Prinzip Nation an sich infrage stellen. Und auch das Prinzip EU.
Migration wird es immer geben. Jede, die geblieben ist, hat sich mal bewegt. Jede, die sich bewegt, ist mal geblieben. Jede Einzelne von uns. Es wird immer Menschen geben, die Migration möglich machen, wie in der Gegenwart Schleuser*innen und Schlepper*innen.
Es gibt keine Möglichkeit, die widerständige Bewegung von Geflüchteten zu verhindern und auch die praktische Solidarität mit ihnen. Ich hatte im Oktober vergangenen Jahres auf Einladung von Medico International die Möglichkeit, einige Tage auf Lampedusa zu verbringen, die südlichste italienische Insel, die seit Jahrzehnten als Ankunftsort von Menschen, die über das Mittelmeer flüchten, fungiert. Und dort habe ich gesehen, dass trotz aller Repressionen, trotz menschenunwürdiger Unterbringung in Hotspots, trotz Pushbacks, Pullbacks – es besteht ein ganz eigenes Vokabular und eine ganz eigene Grammatik der europäischen Apartheid – trotz EU-finanzierter Kalaschnikows der libyschen Küstenwache, mit der diese gerne mal auf Seenotretter*innen zielt, trotz aller hysterischen und hetzenden Medienberichte, das Ankommen von Menschen, die auf ein besseres Leben hoffen, ungebrochen ist – und auch die Solidarität vor Ort, vonseiten der Einheimischen und internationalen Aktivist*innen, unter ihnen viele, die selbst geflüchtete sind.
Die Frage ist nicht, das wissen wir längst, aber können es nicht häufig genug wiederholen, wie Migration verhindert werden kann, denn das kann sie nicht. Die Frage ist, wie menschlich und wie demokratisch wir mit dieser zivilisatorischen Grundbedingung umgehen wollen.
Wie und wo also kämpfen? Wie die Festungen Europas und überall zum Fall bringen? Genauso wie Grenzen keine statischen sind, nicht nur Steine und Mauern, Zäune und Gitter am europäischen Außen, müssen wir auch den Grenzen im Inneren überall den Kampf ansagen. Sei es in den rechts dominierten Kulturkämpfen, sei es in unserer Nachbarschaft, in unseren Gemeinden und Straßen. Ich komme aus Köln und stehe hier in Anerkennung der Kämpfe um Arbeits- und Bleiberechte, die in meiner Stadt seit Jahrzehnten von Geflüchteten und Arbeitsmigrant*innen geführt werden. Aber auch mit Eindrücken und Erfahrungen, die ich in den vergangenen Jahren voller Dankbarkeit in unterschiedlichsten aktivistischen Kontexten sehen und gewinnen durfte. Sei es in der direkten Nachbarschaftshilfe, seien es kritische Mediziner*innen, die unentgeltlich Illegalisierte behandeln, widerständige Jurist*innen, aktivistische Gruppen, die Abschiebungen verhindern, Menschen, die gegen die Gewalt und Brutalität der Polizei und anderer Repressionsorgane kämpfen, alle, die über nationale Grenzen hinweg die Gerüste der Gewalt, auf denen Nationen gründen, zum Wackeln bringen. Und in diesem Sinne: Ein Hoch auf die praktische Solidarität, ein Hoch auf den Fonds für Bewegungsfreiheit und auch ein Hoch auf die Schleuser*innen. Die angeblichen und tatsächlichen.
Erstellungsdatum: 20.09.2024