Das Wahrscheinliche kann sich gegen das Unwahrscheinliche nicht abschotten. Undenkbar, dass irgendjemand unserer direkten Vorfahren mit historischen Persönlichkeiten in Verbindung stand, die ihrerseits mit anderen Berühmtheiten vertraut gewesen sein sollen? Und dann die Überraschung. Der Schriftsteller Eric Giebel entdeckt auf einer Reise nach Güstrow Uwe Johnsons Verbindung zu Ernst Barlach.
Eidechsenort
Als ich am 15. Juli von Krakow am See nach Güstrow aufbreche, weiß ich noch nicht, was mich erwartet. Nun ja, Barlachstadt als Stichwort im Gepäck, mache ich mich mit meiner Familie bereit für einen weiteren Ausflug in diesem Sommer, der eher zu kühl und zu wolkig daherkommt.
Ernst Barlach hatte mich bereits in der ersten Urlaubswoche begleitet. In Eutin war im Ostholstein-Museum Der ganze Barlach zum 150. Geburtstag des Bildhauers gezeigt worden. Das Ausstellungsende traf mit unserer Ankunft zusammen. Plakate noch zu sehen, die Ausstellung bereits geschlossen. Später, im Staatlichen Museum Schwerin, war ich dann durch den Raum mit den Barlach-Bronzen gegangen.
Nun eine weitere Möglichkeit, sich dem Werk Barlachs zu nähern. Wir fahren von Süden in die Stadt, deren Namen, das lese ich erst viel später, aus der westslawischen Sprache Altpolabisch stammt, die im 18. Jahrhundert ausgestorben ist. Polabisch ist mit Kaschubisch verwandt, aber wohin soll mich diese Sprachforscherei führen? Ich sollte mich praktischen Dingen widmen: Wo am besten das Auto abstellen, was ansehen? Wo bin ich?
Beim Rundgang durch das Städtchen (Schloss, Dom, Markt) bekomme ich keine Ansammlung der namensgebenden Eidechsen zu Gesicht, zu kühl, zu schattig, um sich in der Sonne aufzuwärmen. Deswegen sind wir ja schließlich auch unterwegs. In der Bewegung von der Hitzestarre träumen!
Auf dem Weg zum Dom fällt mir die Skulptur auf dem Vorplatz ins Auge. Ich aber will zuerst Barlachs Der Schwebende sehen. Letztlich bleibt Enthusiasmus aus. Fühle mich müde, wenig aufnahmebereit. Ich lese und nehme pflichtschuldig zur Kenntnis, mit welchen Schwierigkeiten der Künstler unter den Nationalsozialisten zu kämpfen hatte, ein, zwei Infotafeln, auch Helmut Schmidts Wunsch, Barlachs Plastik zu sehen: Schwarzweiß-Aufnahme mit Erich Honecker, 1981.
Die Plastik vor dem Dom zeigt Uwe Johnson. Nein, sie steht nicht vor dem Dom, sondern vor dem John-Brinckman-Gymnasium, in dem der Schriftsteller 1952 seine Reifeprüfung ablegte. Die Plastik ist ein Werk von Wieland Förster.
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Ich halte zwei Fäden in der Hand und weiß noch nicht, dass ich sie später verknüpfen werde. Hier Barlach, dort Johnson. Zunächst halte ich den Faden Barlach im Vordergrund. Nach kurzer Umrundung des Johnson-Denkmals geht der Weg weiter durch die Straßen Güstrows – und wahrscheinlich wäre Uwe Johnson gar ganz in die Unsichtbarkeit des Hintergrunds gerückt, wäre ich nicht in die Touristeninformation gegangen, absichtslos, und hätte mein Blick nicht die Fotografie Heinz Lehmbäckers gestreift, der die Publikation Uwe Johnson. Die Güstrower Jahre ziert. Ohne hätte, wenn und aber, meine Müdigkeit ist augenblicklich weg, ich zahle an der Kasse und stecke mir dieses Schmuckstück zur späteren Lektüre ein.
Der Faden Barlach. Wir lassen die Gertrudenkapelle aus und fahren rüber zum Sitz der Barlachstiftung und zum Atelierhaus. Die Kinder haben genug von Skulpturen und Kultur, sie bleiben im Auto, warten, auf was? Dass uns die Kunst auch überdrüssig wird? Das Gegenteil geschieht.
Manfred Scheithauers Holzschnitt aus dem Jahr 1989 mit dem Titel Barlach, 5.7.1937 „Ich lebe noch“ lässt mich eindringen in das Elend eines Künstlers, der von den Nazis verfemt wurde.
Ich notiere:
Ein alter Mann in seinem Atelier,
tief in den Sessel versunken,
in Passivität gepresst.
Der Transporthaken an der Kette
wirkt bedrohlich und vertraut zugleich.
Die Exekution währt ein Leben
und dauert sieben Sekunden (Plötzensee).
Und doch: Sein Werk ging diesen Weg
aus dem hohen Atelier, das Gefängniszelle,
das Freiraum ist.
Am 23.08.1937 wurde Der Schwebende aus dem Güstrower Dom entfernt und später eingeschmolzen. Ernst Barlach stirbt 1938.
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Ich erinnere mich, dass meine Mutter, 1939 geboren, zuhause gerne kleine Teppiche knüpfte. Dieses Zuhause war im Westen, obwohl ihr Zuhause im Osten gelegen hatte. Meine Mutter ist nicht Ingrid Barbendererde, ihre Reifeprüfung legte sie nicht 1953 ab. Und doch, es wird mir schnell nach unserer Rückkehr nach Krakow am See klar, ich werde nicht umhinkommen, Uwe Johnsons ersten Roman zu lesen.
Vorerst aber mein erster Knüpfknoten: 1956 schließt Johnson sein Germanistikstudium mit einer Diplomarbeit über Ernst Barlachs Romanfragment Der gestohlene Mond ab. Da hat die rechte sich über die linke, oder andersherum die linke über die rechte Hand gelegt und den Knoten zugezogen. Barlach und Johnson. Zwei Kulturschaffende, zwei deutsche Lande: das alte, hässlich braune und das neue, ach das neue, das neue Deutschland.
Mir kommt wieder ein Satz in den Sinn, den ich aus Josef Haslingers Jáchymov zitiere:
„Dass es diesen Glauben gab, diese Zuversicht auf eine gerechtere Zukunft, in der wir es der Welt zeigen wollten. Dass es möglich war, diese Hoffnung zu entfachen, war für den Erhalt des Systems wichtiger als Gefängnisse und Panzer.“
Wo fange ich an? Die Lektüre Uwe Johnson Ingrid Barbendererde. Reifeprüfung 1953 ist abgeschlossen. Meine Welt ist um die literarischen Figuren Ingrid, Klaus und Jürgen reicher. Ingrids und Klaus‘ (Klausens) Ausschluss aus der Gustav-Adolf-Oberschule, für die die John-Brinckman-Oberschule als Vorbild (als Vorbild?) gedient hat, lässt die Zuversicht, die Hoffnung sterben. In Johnsons Roman sind wir kurz vor dem 17. Juli 1953. Bereits im September 1950 fand in Güstrow ein Schauprozess gegen die Mitglieder der Jungen Gemeinde statt:
„In dem Prozeß gegen die Güstrower Agentengruppe der anglo-amerikanischen Spionagezentrale in Westberlin wurde von der Großen Strafkammer des Landgerichts Schwerin in der Mittwochnacht das Urteil verkündet. Der Angeklagte Henke erhielt 10 Jahre Jugendgefängnis, die Angeklagten Möller, Gutschmidt und Boyster je 15 Jahre Zuchthaus.“
Es ekelt mich, die Quelle zu benennen, aus: Landeszeitung – Organ der SED für Mecklenburg, 29.09.1950.
Wenn es Zuversicht und Hoffnung in der Deutschen Demokratischen Republik gegeben hatte, kann sie nur von sehr, sehr kurzer Dauer gewesen sein. Das Alter der Verurteilten: Enno Henke, 17 Jahre. Peter Moeller, 19 Jahre. Fritz Gutschmidt, 19 Jahre usw.
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Christa M. hat im Sommer 1958 ihre Reifeprüfung an der Adolf-Reichwein-Oberschule in Halle (Saale) abgelegt und erfolgreich bestanden. Die Deutsche Demokratische Republik wollte meiner Mutter, die aus einer Proletarierfamilie stammte (Vater politisch unzuverlässig, aber dessen älterer Halbbruder ein Kommunist der ersten Stunde) den Zugang zu einem Studium ermöglichen.
Also doch Hoffnung entfachen? Während zeitgleich willkürlich Leute in den Knast kamen? Wie in einem Brennglas sehe ich die Versammlung in Johnsons Gustav-Adolf-Oberschule und frage mich, wo hätte, nein, wo hat meine Mutter gestanden? Hätte sie gewagt, gegen die Parteilinie zu sprechen? Wie Ingrid? Oder hätte sie solches missbilligt wie Jürgen, der seine Zukunft in einem sozialistischen Staat sah, aber den Dogmatismus verabscheute? Oder wäre meine Mutter eine stumme Unterzeichnerin gewesen, die Parteibeschlüsse absegnete oder eben auch Schulverweise? Ich weiß es nicht.
Ich habe es immer als ungerecht empfunden, dass das DDR-Abitur meiner Mutter im Westen keine Anerkennung fand.
„Unter ihnen [E.G.: den Schülerinnen und Schülern der Klasse 12a] hatte wahrlich niemand Anlass das kapitalistische Ausland zu lieben: nicht einmal Marianne. Die wäre dort nie bis in die Abiturklasse einer Oberstufe gekommen.“
(Uwe Johnson: Ingrid Barbendererde. Die Reifeprüfung 1953)
Dieser Satz gilt wohl auch für die Schülerin Christa M. Sie war fest davon überzeugt, dass ihre Leistungen nicht ausreichend waren, um das Abitur zu bestehen. Noch am Tag der Zeugnisübergabe war sie sicher: nicht bestanden. Sie wollte erst gar nicht hingehen. Eine Freundin überredete sie. Christa wurde dann noch vor ihrer Freundin aufgerufen. Mit gut bestanden. Ein Witz, so sagte es mir meine Mutter letztes Jahr, als ich ihr Zeugnis erstmals einsah. Heute weiß ich, dass der Staat, ihr Staat, ihr ein Geschenk machen wollte, ein vergiftetes Geschenk.
„der Erwerb von Kenntnissen auf der Oberschule geschehe in verpflichtenden Auftrage und zu späteren Nutzen der Republik“
(Uwe Johnson: Ingrid Barbendererde. Die Reifeprüfung 1953)
Sagen wir so, das großzügige Geschenk hat durch Republikflucht (ja, ja, der unzuverlässige Vater, ab durch die Mitte, wollte die Familie zurücklassen, ist nichts draus geworden!) keine Anwendung gefunden. Und das ist vielleicht auch gut so.
Und was ist mit meiner Reifeprüfung im südwestlichen Teil von Rheinland-Pfalz (dort wo Bären Sensen stehlen) im Orwell-Jahr 1984, im Todesjahr von Uwe Johnson, ein Jahr vor der postumen Veröffentlichung der Ingrid Barbendererde?
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Ich kann vorab schon mal sagen, wie sehr ich den deutsch-polnischen Schriftsteller Artur Becker um seinen natürlichen und unverkrampften Gebrauch des Kürzels BRD für den Westen Deutschlands beneide. Das war uns, im ach so freien Westen, nicht erlaubt.
Nun gut, der Schule wurden wir nicht verwiesen, aber scharfe Ermahnungen, uns nicht der Rhetorik der DDR (oder war es gar die „DDR“?) zu bedienen, das gab es häufig.
Leistungskurs Geschichte: Hausaufgabe vom 30.10.1983
Wie begründet der Kommunismus die Zwecklosigkeit des Widerstands gegen seinen Kampf? Nehme kurz kritisch dazu Stellung.
Nach Analyse der vorgelegten Quellen komme ich zum eigenständigen Schluss, dass ein wissenschaftlicher Beweis für die zwangsläufige Entwicklung der Menschheit hin zu einer klassenlosen, kommunistischen Gesellschaft nicht gegeben ist. Mein Schlusssatz, er hätte im Osten für einen Schulausschluss dicke gereicht:
„Denn so viel ist sicher, wir Menschen haben noch lange nicht alle Phänomene der Welt geklärt und werden dies auch nie schaffen. Fast möchte ich sagen: Gott sei Dank!“
Im Westen jedoch die Zensur Sehr gut und extra belobigende Worte durch den Lehrer Kd:
„Es scheint, als seist du in der Marx-Kritik belesen; deine Ansätze und Folgerungen treffen in der Tat Löwiths Gedanken. Deine Gedanken hierzu sind hervorragend formuliert; das gestellte Thema wird allerdings zu kurz dargelegt. Zu Marx selbst: es wäre (allerdings mehr philosophisch als historisch) vorzuziehen, ihn und nicht seine Kommentatoren zu studieren. Die 39 Bände seiner Werkausgabe habe ich zwecks Oberprimakurs nicht geschlossen bearbeitet; z.Zt. ist keine gute Zusammenstellung auf dem Markt. Eine Lücke?“
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Leistungskurs Deutsch. Eine Auseinandersetzung mit der Literatur der DDR oder Autor*innen, die diese verlassen hatten, fand nicht statt. Anna Seghers war wegen ihrer Biografie (Geburtsort Mainz) eine Ausnahme. Das siebte Kreuz spielt bekanntlich im Rheinhessischen, gehört freilich nicht zur Literatur der DDR. Immerhin spiegelte sich Kritik an den Zuständen im Westen Nachkriegsdeutschlands in Prosa und Lyrik von Heinrich Böll, Günter Grass, Günther Eich. Das kam im Unterricht. Aber über die Mauer geschaut haben wir kaum. Mal ein Gedicht: Ophelia von Peter Huchel, das war es!
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Ich habe gerade die Kurze Geschichte der deutschen Literatur zur Hand, Verlag Volk und Wissen, 1981. Immerhin ist Uwe Johnson darin nicht weggeleugnet.
„Das Hauptthema Uwe Johnsons (geb. 1934), der 1959 aus der DDR in die BRD übersiedelte und später in die USA ging, sind die komplizierten Auswirkungen der vom Autor als undurchschaubar apostrophierten gesellschaftlichen Verhältnisse, die er unterschiedslos als für das Individuum feindlich darstellt. Er vertritt die Position eines dritten Weges zwischen Kapitalismus und Sozialismus.“
Ich stelle mir vor, Jürgen aus Ingrid Barbendererde hätte dies vorsichtig würdigend formuliert. Dann aber setzt sich doch die Parteilinie durch:
„Dem Autor gelingt es weder hier [E.G.: Mutmaßungen über Jakob] noch in dem Roman Das dritte Buch über Achim (1961), die revolutionären Veränderungen in der DDR zu erfassen.“
Weiter:
„Uwe Johnson konfrontiert den Leser mit seinen Schreib- und Erkenntnisschwierigkeiten.“
(24.08.2020)
Erstellungsdatum: 09.09.2024