Wie sehr die Kultur in Berlin zur Stadt gehört, diese sie will und braucht, wurde wieder einmal mit der Produktion des „Messias“ der Komischen Oper klar. In den Hangar 4 des alten Flughafen Tempelhof strömten an 12 Abenden insgesamt 22.000 Besucher:innen, um einer der wahrscheinlich ergreifendsten Oratorien-Shows ihres Lebens beizuwohnen. Auch Andrea Richter war fasziniert und hält die geplanten drastischen Kürzungen im Kulturetat der Stadt für mehr als kontraproduktiv.
Ein etwa 4.000 Quadratmeter großer, in seiner ganzen Größe genutzter Hangar fällt einem wirklich nicht zwangsläufig als Aufführungsort für ein Händel-Oratorium mit biblischem Inhalt ein. Beim Reingehen für Klassik-Musik-Besucher:innen ungewohntes Gedrängel vor der Einlasstür, so als ginge es in ein Pop-Konzert mit unnummerierten Plätzen. Aber bei näherer Betrachtung ist der „Messias“ ja so etwas wie Klassik-Pop. Das „Halleluja“ haben viele Menschen auf der Welt schon einmal gehört und können die Melodie mitsingen, selbst wenn sie mit europäischer klassischer Musik ansonsten nichts am Hut haben. Die Zuschauertribüne eine Rohrkonstruktion mit Zugängen, die sie in Blöcke gliedern. Die Treppen ziemlich steil aufsteigend. Einmal oben, das Gefühl, in einer Eislaufhalle zu sitzen, denn die Fläche unten war weiß wie Eis, über ihr verteilte sich ein leichter Nebelschleier, kalt war es auch. Sechs in die Tribünen-Konstruktion eingebaute Bildschirme. Einziger Darsteller: Dirigent George Petrou. Einziger Zweck: alle Darsteller mussten ihn, wo auch immer sie sich gerade auf der großen Fläche befanden, sehen können.
Petrou ist ein Mann des Eindeutigen und Präzisen. Was sich als vorteilhaft erwies, wenn er etwa 400 Sänger:innen aus neun verschiedenen Berliner Chören fein aufeinander abgestimmt zu händelschen Klangwelten abheben ließ. Sobald Chor oder Solisten seinen Einsatz brauchten, drehte er sich frontal zur Kamera und dirigierte mal Viele, mal einzelne Solisten, sorgte dafür, dass kraftvolle Forti oder eindringliche Piani durch die Halle strömten, legte mehrstimmige Choräle so an, dass die jeweiligen Stimmen genau aufeinander folgend wahrnehmbar waren, bremste ab, wenn - bedingt durch die akustischen Verhältnisse in einer solchen Halle – Klang-Salat oder ein Nachhall entstehen konnten.
Getanzt wurde zum „Messias“ schon öfter (legendär die Choreografie von John Neumeier in Hamburg). Regisseur Damiano Michieletto hatte aus dem biblischen Oratorium weltliches Musiktheater, das in der heutigen Zeit spielte, gemacht: unter Beibehaltung der Originaltexte legte er die Geschichte einer jungen Frau (Anouk Elias, Schauspielerin), die an einem unheilbaren Hirntumor erkrankt ist und selbstbestimmt sterben möchte, was wiederum die Gegner der Sterbehilfe auf den Plan ruft, darüber. Mithilfe des darstellerisch arbeitenden Chores entstanden großartige und großformatige Bilder, wie auch sehr intime Szenen mit ihrer Ärztin (Julia Grüter, Sopran) oder der Familie (Mutter: Rachel Wilson, Alt, Vater: Tijl Faveyts, Bass und dem Ehemann: Rupert Charlesworth, Tenor). Damit hat die derzeit (oder dauerhaft? Dazu: link zu) wegen Modernisierung heimatlose und an mehreren Spielorten agierende Komische Oper trotz widrigster Umstände einen neuen Meilenstein in Sachen Kultur und deren Fortentwicklung geliefert. Einen Kassenmagneten dazu, denn der „Messias“ war zu über 99 Prozent ausgelastet.
Und vor allem hat sie einmal mehr einen großen Beitrag für das nationale und internationale Ansehen der Stadt getan. Denn diese lebt unter anderem von der Kultur als sogenanntem weichen Standortfaktor. Das gilt für die weltberühmte Clubszene genauso wie für die Theater-, Musik-, Museums-, Ausstellungs- und sonstige Kultur. Ihretwegen kommen Millionen von Touristen jährlich, ihretwegen lassen sich Kreative bevorzugt dort nieder. Vor allem junge Menschen aus ganz anderen Branchen deshalb, weil es dieses breite, international aufgestellte Angebot gibt. Davon profitiert, abgesehen vom lebensbereichernden Inhalt, ganz profan die Wirtschaft der Stadt. Schauten wir früher ziemlich neidisch auf (ungleich größere) Kulturmetropolen wie New York, Paris oder London, weil dort das Kulturleben tickte, so gibt es heute daneben auch Berlin als Kultur-Schmelztiegel und Experimental-Labor.
Dass die Regierung nun ausgerechnet beim kleinsten Etat des Haushaltes massiv einsparen will, muss jeden, der in Deutschland lebt, entsetzen. Denn Deutschland ist ein Land der Kultur, sie gehört zur DNA und ist nach der Autoindustrie (die wohl irgendwie auch die DNA ausmacht??) die zweitgrößte Branche für die inländische Bruttowertschöpfung, noch vor Maschinenbau, Chemie, Energie (s. www.satista.de). In vielen Bereichen wurde in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland vieles an Neuentwicklungen schlicht verpennt, wofür wir, in Kumulation mit den aktuellen Krisen, jetzt die Rechnung zahlen müssen. Nicht so in der Kultur- und Kreativbranche. Sie hat sich stetig fortentwickelt, weil sie offen für Veränderungen war, konnte und kann mit Innovationen, Diskussionen, Internationalität und dem unbedingten Willen – selbst bei hitzigen Gefechten um einzelne Projekte – zur friedlichen Auseinandersetzung den wohl größten Dienst für Bildung, Integration und Frieden leisten. Und noch etwas sollten die Berliner Politiker bedenken: Sie regieren wie gesagt die Hauptstadt einer international angesehenen Kulturnation. Wenn nun ausgerechnet von dort das Signal ausgeht, dass ausgerechnet im Bereich Kultur drastisch eingespart werden soll und eine Produktion wie der „Messias“ möglicherweise nicht realisiert werden könnte, so wird am Pfeiler des Selbst- und Fremdverständnisses unseres ganzen Landes gesägt. Das kommt gar nicht gut!
Siehe auch:
Stoppen Sie die Schande!
Offener Brief zu Haushaltseinsparungen
MESSIAS
Georg Friedrich Händel
Oratorium in drei Akten
Libretto von Charles Jennens
nach Bibeltexten
In Zusammenarbeit mit:
Berliner Konzert Chor, Vokalensemble Sakura, Kantorei Karlshorst der ev. Paul-Gerhardt-Kirchengemeinde Lichtenberg, Konzertchor Friedenau, Apollo-Chor der Staatsoper Unter den Linden, Unität, Händelchor Berlin, ORSO - Orchestra and Choral Society Berlin und Sänger:innen aus der Berliner Chorszene.
In Kooperation mit Chorverband Berlin.
Erstellungsdatum: 17.10.2024