Wir sind gewohnt, Kunst und Handwerk voneinander zu unterscheiden, obwohl wir wissen, dass die Unterscheidungskriterien sich an diese Unterscheidung nicht unbedingt halten. Und was die Praxis angehe, heißt es, gebe es keine Kunst ohne Handwerk. Dass das auch umgekehrt gilt, hat der Schriftsteller Alain energisch bestritten. In seinen zahllosen Notizen hat er sich unter anderem, aber wohl beharrlich, mit dem Handwerk beschäftigt. Felix Philipp Ingold stellt den Autor mit seinen Überlegungen zur Arbeit mit den Händen vor.
für Théo Leuthold & Associés
Émile-Auguste Chartier (1868-1951), bekannt unter seinem Namenskürzel „Alain“, wird in Frankreich gemeinhin als „Professor“ und „Journalist“ rubriziert. Beides ist zutreffend, entspricht aber nicht der hiesigen Begriffsverwendung. „Professor“, das heisst ganz einfach Lehrer, Unterrichtender, und mit „Journalist“ ist – wörtlich – jemand gemeint, der tagtäglich am Schreiben ist. Alain hatte nie eine universitäre Professur inne, hat nie eine systematische Lehre ausgebildet, und er hat auch keine Schule begründet; er war schlicht ein Schulmann, hat während Jahrzehnten als beliebter und anregender Dozent an französischen Gymnasien unterrichtet.
Alains journalistische Tätigkeit bestand nicht wie üblich darin, das Tagesgeschehen zu beobachten und zu kommentieren. Vielmehr war sie darauf angelegt, unterschiedlichste Anlässe – Alltags- und Leseerfahrungen, Neues aus der Wissenschaft, der Kunst, der Politik – zum Ausgangspunkt strikt privater Überlegungen und Exkurse zu machen, dies in Form von knapp gefassten Texten in stets gleichbleibendem Umfang und in stets gleichbleibendem Personalstil, locker und präzise zugleich. Alain selbst bezeichnete diese feuilletonistischen Mikroessays als „Propos“, und er schaffte es, in der Zeit zwischen 1906 und 1936 an jedem Wochentag einen derartigen Text nicht nur abzufassen, sondern auch zu veröffentlichen – rund 5.000 davon hat er insgesamt vorgelegt; in der zweibändigen Ausgabe der Bibliothèque de la Pléïade umfassen sie gut 2.700 Druckseiten.
Neben und nach den „Propos“ schrieb Alain eine Vielzahl anderer Werke, darunter Monographien über Spinoza, Stendhal, Balzac, ausserdem Essayistik in Form von „Gesprächen“, „Briefen“, „Elementen“, „Abrissen“, „Skizzen“, „Traktaten“ und „Kapiteln“ über vielerlei Themen (vom Allerheiligen und Atheismus bis zum „Zauber Darwins“ und zum „Zorn des Achill“); sogar ein „System der schönen Künste“ (1920) hat er vorgelegt, doch systematisch ist bei ihm nichts, weder sein Denken noch seine Schriften – alles vollzieht sich in kleinen Schritten, wird sprunghaft, manchmal widersprüchlich dargeboten, ist durchwegs zupackend, anspielungsreich, bisweilen in ironischer, gar polemischer Absicht. Stupende Gelehrsamkeit verbindet sich hier zwanglos mit burschikoser Allüre, meditativer Ernst mit didaktischem Eifer.
Kein Wunder, dass Alain von der universitären Wissenschaft und Philosophie bis heute kaum wahrgenommen, schon gar nicht adäquat gewürdigt wird. Wohl ist sein Werk noch immer weithin präsent, in Sammelbänden wie in Einzelausgaben, in Schulen wie in Lesezirkeln und Freundeskreisen (Les Amis d'Alain; Amis du Musée Alain u.a.), doch zu nachhaltiger Wirkung gelangt es nicht. Das ist zu bedauern, denn was Alain zu Phänomenen und Problemen der Alltagskultur, der Gesundheit, der Religiosität, des Rationalismus, der Technik oder der Architektur zu sagen hat, und wie er über Macht, Politik und Krieg reflektiert, ist von unabweisbarer Aktualität – aktuell nicht in progressiver, eher in konservativer Hinsicht; weniger als Annoncierung oder Bestätigung heutiger Errungenschaften und Befindlichkeiten, vielmehr als Rechtfertigung von Aktivitäten, Werten, Gegenständen, Verhaltens- und Denkweisen, die heute im Schwinden begriffen oder bereits verschwunden und vergessen sind, die man sich aber – gegenläufig zur Globalisierung und Digitalisierung der Lebenswelt – mehr und mehr zurückwünscht.
Beispielhaft dafür ist das neu erwachende Bedürfnis nach gesundem Geist in gesundem Körper, nach bewusster und bekömmlicher Ernährung, nach stressfreier Erziehung, Arbeit, Krankheits- und Alterspflege, nach schonendem Umgang mit der Natur und deren Ressourcen usf. – Durch den Erfolg von Vintage-Produkten hat auch das Interesse für althergebrachte Techniken und Erzeugnisse handwerklicher Arbeit deutlich zugenommen, und gerade diesbezüglich wäre bei Alain manches zu lernen. Denn er glaubt in allem menschlichen Tun, selbst in der Literatur und in der Philosophie, eine „handwerkliche“ Komponente zu erkennen.
Das Handwerk operiert im Aktionsbereich zwischen Technik und Kunst, und von da wie von dort bezieht es produktive Impulse. Wenn beim Techniker das Gelingen, der Lohn, der „Fortschritt“ im Vordergrund stehen, beim Künstler – Originalität, Individualität und wie auch immer geartete „Schönheit“, so ist es beim Handwerker das Material, mit dem er umzugehen und das er auszuarbeiten hat.
Der Handwerker arbeitet aus, was er als Material vorfindet, und er tut’s mit zweierlei Vorgaben. Vorgegeben ist einerseits das Verfahren, andrerseits das Ziel seiner Arbeit. Also weiss er, wie er was zu bewerkstelligen hat; zu erfinden oder gar zu erschaffen gibt es für ihn nichts; er macht, was andere vor ihm schon vielfach gemacht haben, bestenfalls verfeinert er es; sein Produkt ist zwar jedesmal eine Einzelanfertigung, aber nie – wie zumeist in der Kunst – ein einmaliges Werk, dessen Originalität durch die Signatur des Urhebers beglaubigt ist. Der Künstler kann, wenn er nicht im Auftrag tätig ist, sein Verfahren wie sein Ziel frei wählen, und beides kann im Arbeitsverlauf modifiziert werden. Weit weniger frei ist diesbezüglich der Techniker, der in aller Regel auf ein vorgefasstes Ergebnis hinarbeitet und dabei unterschiedliche Methoden erprobt. Nicht selten ist es der Zufall, der den Techniker zum Erfinder werden lässt; zu einem Schöpfer wird er dadurch freilich nicht.
Das gilt für den Handwerker ebenso. Dessen Arbeit ist nicht auf Innovation und Singularität angelegt, sie beruht weitgehend auf Nachahmung („aber nur der Besten!“), auf Erfahrung, Training, Routine, Geduld, Disziplin und – „Glück des Ausdrucks, der Ausführung“.
Allen Verschiedenheiten und Besonderheiten zum Trotz ist das Handwerk mit Kunst und Technik fundamental verbunden dadurch, dass es für beide Bereiche das unverzichtbare Rüstzeug bereithält: „In allen Künsten ist das Handwerk fast alles.“ Diese Gewissheit wird in Alains „Unterredungen beim Bildhauer“ (1937) hochgemut vorgetragen.
Und tatsächlich kommt weder der Techniker noch der Künstler ohne handwerkliche Qualifikation und Erfahrung aus – es sei denn, künstliche Intelligenz gewinne definitiv die Oberhand und ersetze verlustfrei den physischen menschlichen Zugriff auf das zu gestaltende Material.
In dieser Hinsicht durfte Alain noch zuversichtlich sein: „Der Handwerker, ob Töpfer, Schreiner oder Maurer, bringt ein besser umrissenes Objekt hervor, das mit allen Fiktionen Schluss macht. In solchem Verständnis wohnt jedem abgeschlossenen und dauerhaften Werk etwas Ästhetisches inne und jeder handwerklichen Arbeit das Glück eines Künstlers.“ So jedenfalls formulierte er den Sachverhalt noch in seinen „Zehn Lektionen zu den schönen Künsten“ (1930), um zu ergänzen: „In allen Künsten erwächst das Schöne aus der Bewerkstelligung (exécution), und nicht aus dem Projekt.“ Zu merken: „Man formt nicht, was man will; ich würde eher sagen, man formt das, was die Sache will.“
Denn der Qualität des Materials ist die Funktionalität des daraus gewonnenen Objekts inhärent. Das eine mit dem andern optimal zu verbinden, ist Leistung (und Toleranz) des Handwerks – zuzulassen, dass das „Werk“ wesentlich durch das jeweils verwendete Material determiniert wird. „Vielleicht sollte man“, überlegt Alain in seinem „Propos“ vom 28. Januar 1922, „alle Künste in Betracht ziehen, hauptsächlich jene, die einem Handwerk sehr nah sind, um zu begreifen, dass es stets der Inhalt oder das Material ist, was der Form kraft seiner Widerständigkeit Schönheit verleiht.“ Man denke hier an die materialbedingten Widerstände, die der Schmied, der Drechsler, der Töpfer, der Graveur, der Schreiner, der Juwelier zu bewältigen hat, um die gewünschte Form herauszuarbeiten.
Und weiter im Text: „Der Ausdruck (l’expression) muss gefunden, nicht etwa gesucht werden; die geringste Spur solcher Formsuche ist hässlich … Tatsache bleibt, dass das Material die Form bestimmt; und vermutlich ergibt sich die schöne Form alter Töpfereien aus dem Gleichgewicht, das noch vor dem Brennen in der plastischen Masse gefunden werden muss. Also hat jeder an die Form zu denken, die gefunden, nie aber gesucht werden soll.“
Die Beschaffenheit des Materials bedingt naturgemäss – erzwingt sogar – die Verwendung bestimmter Werkzeuge und den Einsatz entsprechender Verfahrensweisen: Immer wieder das Gleiche, aber jedesmal anders. Was in Kunst und Literatur als Stil fassbar wird, zeigt sich beim handwerklichen Erzeugnis als Faktur. Alain präzisiert (in „Propos zur Literatur“, 1934): „Diesem Stil haftet etwas Raues und Harsches an, und [er bezeugt] die Begegnung des Menschen mit dem Material, das den Ideen weit untergeordnet ist.“
Die Gesamtheit der Spuren, die das Werkzeug bei der Bearbeitung des Materials hinterlässt, ein Charakteristikum (eine Prägung), die industriellen Produkten abgeht; man vergleiche beispielshalber handgeschöpfte Papiere, handgenähte Schuhe oder mundgeblasene Gläser mit maschinell gefertigter Ware. Handwerkliche Arbeit behaupte selbst dann noch ihre Qualität, meint Alain, wenn das Produkt längst zerschlissen sei – sie bleibe in den Überresten (débris) sichtlich erhalten.
Zu Alains vielfachem Lob des Handwerks gehört immer auch die kritische Einschränkung, wonach handwerkliche Arbeit unabhängig von „Geist“ erfolgen müsse, heisst – unabhängig von Inspiration, Phantasie, Stimmung und „Ideen“. Diesbezüglich grenzt er das Handwerk klar von allen Künsten ab, die auf solche „Geistigkeit“ unabdingbar angewiesen sind. Der Handwerker stützt sich nicht auf Theorien, orientiert sich nicht an Ideen, sondern im Bedarfsfall an Musterkatalogen, Materialproben oder Arbeitsregeln, vorzugsweise jedoch an eigener und fremder Arbeitserfahrung; er „denkt“ gewissermassen mit seinen Augen und Händen: „Schmieden lerne ich, indem ich Eisen und Hammer erprobe; niemand zieht hier mein Denken zur Rechenschaft.“ Vielmehr sei es das Werk als solches in seiner Gemachtheit und Gegenständlichkeit, an dem man den Handwerker erkenne, liest man in Alains Kolumne über „Zweierlei Bildung“ (26. April 1923).
Der Handwerker hält sich demnach von „Gedanken“ und überhaupt von der Geisteswelt frei („Kunstwerke“, 20. August 1926): „Aus der Vollkommenheit des Handwerks heraus hat die Töpferei Formen entwickelt, auf die der Geist niemals gekommen wäre.“ Im Unterschied zum Künstler, zum Wissenschaftler oder zum Philosophen hat der Handwerker keinerlei „Lehre“, er ist, im Gegenteil, ein unentwegt Lernender, indem er stets ein Gleiches tut und eben durch die Wiederholung sich selbst belehrt. Zur Meisterschaft gelangt der Handwerker gleichermassen durch Selbstbeherrschung und Materialbeherrschung: „Man ist ein Meister nicht nur dann, wenn man zu machen versteht (sait faire), sondern ebenso dann, wenn man all seine Ressourcen aus dem Antrieb [zum Machen] schöpft.“ So lautet Alains „Definition“ der Meisterschaft (in „Définitions“, postum 1953). „Denn das Glück, ein Handwerk auszuüben, kennt nur der, welcher es beherrscht“, notiert er (in „Die Ideen und die Zeiten“, 1927). Solche „Beherrschung“ ist, wohlverstanden, Ausdruck von Gehorsam.
Ideenblitze, jähe Einfälle und Schaffensimpulse, die dem Techniker wie dem Künstler vertraut und hilfreich sind, bleiben dem Handwerker vorenthalten, mithin auch der Triumph der Entdeckung und des Schöpfertums. Das Handwerk kann und soll nicht Neues hervorbringen, sondern Bewährtes fortführen („Zehn Lektionen“, s.o.): „Man muss sich aufs Weitermachen vorbereiten, statt vergeblich nach einem Anfang zu suchen.“ Weitermachen, das heisst in diesem Fall – der althergebrachten Eigengesetzlichkeit des Handwerks und gleichzeitig den Eigenschaften des Materials folgen, und dies ohne jeden Anspruch auf künstlerische Geltung. In Alains „Unterredungen beim Bildhauer“ (s.o.) heisst es dazu dezidiert: „… das Handwerk bleibt absolut unterhalb der Erfindung.“
Das ist keine Herabsetzung, im Gegenteil, Alain scheint tendenziell das Handwerk der Kunst vorzuziehen, und immer wieder betont er jedenfalls die handwerkliche Rückverbindung aller Künste, selbst der Musik und der Literatur; für deren Originalitäts- und Innovationsanspruch hat er nichts als Spott übrig („Propos“, 21. Mai 1921): „Wenn ich unsern Künstlern dabei zusehe, wie sie sich auf der Suche nach Neuem und Unerhörtem drehen und winden, kann ich nur lachen.“
Dass und wie Alain auch die Dichtung – eine Kunst, die mit minimalstem materiellem und physischem Aufwand ausgeübt wird – als ein Handwerk auszuweisen sucht, ist in seinen Schriften vielfach belegt. Das nimmt sich zunächst befremdlich aus, da er doch jegliches handwerkliche Tun vom „Geist“ abkoppeln, es dem Anspruch der Originalität und der Werkherrschaft entziehen will. Wie aber sollte man sich geistfreie und unoriginelle dichterische Texte vorstellen und darin sogar eine besondere Qualität erkennen? Und wie kann eine Kunst als Handwerk definiert werden, die nichts anderes benötigt als einen Schriftträger und ein Schreibgerät, ja, die selbst darauf verzichten könnte, indem sie ihre Texte „auswendig“ formuliert, sie speichert und nach Bedarf mündlich weitergibt?
Nachzulesen ist das in Alains postum erschienenen „Definitionen“ (1953); unterm Stichwort „Poesie“ heisst es dort: „Eine Art literarischer Komposition, die sich vorab aus physiologischen Harmonien und aus lautlichen, in der Sprache verborgenen Verwandtschaften speist und die dadurch […] den gewöhnlichsten Gedanken eine Kraft und Effizient verleiht, die der Redner und der Erzähler nicht aufzubringen vermögen.“ Eine klare Definition ist das zwar nicht, im Vordergrund stehen aber doch unverkennbar die Physiologie und die Sprache in ihrer harmonischen Wechselbeziehung.
Als „physiologisch“ qualifiziert Alain offenbar den Anteil des menschlichen Körpers an der dichterischen Arbeit, also die Gestik des Schreibakts und den Rhythmus des Atmens – zwei formbildende Kräfte, die dem Gedicht seine harmonische Gestalt verleihen. Die Sprache wiederum bildet hier (wie beim Handwerk der Lehm, das Leder, das Holz, das Blech) die materielle Grundlage und Voraussetzung für die nachfolgende Ausarbeitung; und so wie der Handwerker seine „Physiologie“ den Eigenschaften seines Materials und der daraus zu entwickelnden Form anpasst, domestiziert der Dichter die Sprache im Hinblick auf die jeweils vorgefasste Werkform, etwa eine Ode, eine Elegie, ein Sonett, ein Distichon, „gebundene“ Formen also, die sich stets gleichbleiben und doch immer wieder anders zu gestalten sind.
Diese ungewöhnliche Gleichsetzung von Handwerk und Dichtung ist naturgemäss nur dann aufrechtzuerhalten, wenn das herzustellende Objekt formal exakt definiert ist, sei es nach Strophen- oder Versform, sei es nach dem Reim und dessen Anordnung (Paarreim, Kreuzreim u.a.). Sieht man indes von der Metrik, der Strophik und andern Verbindlichkeiten ab und akzeptiert den freien Vers wie überhaupt die offene dichterische Form, dann wird Alains Vergleich hinfällig. Ein Großteil moderner Poesie, vom Futurismus und Dadaismus bis zur Gegenwart, hat sich bekanntlich von der hergebrachten „Gebundenheit“ emanzipiert und kommt deshalb als „Handwerk“, wie Alain es versteht, nicht mehr in Betracht.
In der Einleitung zu seinem Buch über „Die Götter“ (1934) bekräftigt Alain sein gleichermassen physiologisches und handwerkliches Verständnis dichterischer Arbeit: „Die Regungen des Rachens und des Körpers insgesamt sind für die Poesie so gut wie alles, bringen sie doch die menschliche Ausgeglichenheit wie auch die Harmonie zwischen dem Menschen und der Dingwelt zum Ausdruck.“ Ob mündlich vorgetragen oder schriftlich abgefasst, in jedem Fall folgt der Dichter notwendigerweise (dabei natürlicherweise) „den Regeln des Rhythmus und des Reims“, um solcherart der geltenden poetischen Rhetorik „Respekt“ zu erweisen. Für Alain hat „Gehorsam“ gegenüber dem Material und den traditionellen Fertigungsverfahren klaren Vorrang vor jeglicher „Genialität“, in der Dichtung nicht anders als im Handwerk.
Man ist von daher nicht sonderlich erstaunt darüber, wie wegwerfend und pauschal Alain nicht nur das Neue in der Kunst, sondern Neues generell verurteilt: „Alles, was neu ist, ist hässlich.“ Dies erklärt er apodiktisch in einer Kolumne „Über die Rolle der Tradition in den Künsten“ (12. April 1912), zu einer Zeit, da mit dem Kubismus und dem Futurismus eine künstlerische Kultur initiiert wird, für die Innovation, wenn nicht gar Revolution zum Programm gehört. Alain gibt sich damit als ein reaktionärer Kunst- und Zeitkritiker zu erkennen, während er andrerseits das traditionelle Handwerk als Beleg dafür heranzieht, dass konsequente Imitation jeglicher Innovation überlegen sei: „Die Klugen kopierten, indes die Dummen erfanden; und die Begabten und Einfallsreichen unter ihnen verstanden es, die eigene Natur, die eigene Handschrift, den eigenen Tonfall in ihre Kopie zu legen.“ Fazit: „Alles, was man muss, ist, die Meisterwerke kopieren … Man muss nachahmen und noch einmal nachahmen; und indem man nachahmt, muss man erfinden.“
In einem späteren Propos („Künstler und Handwerk“, 15. April 1925) wendet sich Alain der Kompositionskunst Johann Sebastian Bachs zu, um sie als mustergültiges Handwerk herauszustellen: „… er hat nur daran gedacht, den Handwerksregeln gemäss seine Töne miteinander zu verbinden.“ Bach sei, meint Alain, „vor allem Arbeiter“, man erkenne an ihm „die Faktur des Handwerks“: „Das Thema kehrt wieder, die Verzierungen kehren wieder; das Stück entwickelt sich dem gleich zu Beginn angezeigten Plan entsprechend.“
Auch Michelangelo Buonarroti soll solcherart gearbeitet haben („Kunstwerke“, s.o.) – allein „über Kunstgriffe des Handwerks“ habe er zum Schönen und zu höchster Kunst gefunden, obwohl er „nie an das Schöne dachte“: „Das Genie war hier nichts als Kunstfertigkeit, und in einem Verstoß gegen den guten Geschmack sah er [Michelangelo] nie etwas anderes als einen Verstoß gegen die Handwerksregeln.“
Hier wird das Handwerk schlicht mit Kunst identifiziert – ohne dass diese dadurch entwertet würde, aber auch ohne Überhöhung des Handwerks als solches. Alains beharrliche Belobigung handwerklicher Arbeit könnte, sollte, müsste zu deren Rehabilitierung beitragen in einer – dieser – Zeit, da Hand und Werk nur noch ausnahmsweise zusammenfinden.
Literaturhinweis. – Alains Schriften liegen in einer kommentierten vierbändigen Werkausgabe der Bibliothèque de la Pléïade bei Gallimard vor: „Les Arts et les dieux“, Paris 1958, 1488 S.; „Les Passions et la sagesse“, Paris 1960, 1480 S.; „Propos“, I, Paris 1956, 1424 S.; „Propos“, II, Paris 1970, 1408 S. –
In deutscher Übersetzung sind gegenwärtig diverse Einzelausgaben greifbar, darunter „Spielregeln der Kunst“ (deutsch von Albrecht Fabri, 1985); „Das Glück ist hochherzig“ (deutsch von F. J. Krebs, 1987); „81 Kapitel über den menschlichen Geist und die Leidenschaften“ (deutsch von F. Hamann und P. Hammans, 1991); „Die Kunst, sich und andere zu erkennen“ (deutsch von F. J. Krebs, 1991); „Sich beobachten heißt sich verändern“ (deutsch von F. J. Krebs, 1994); „Im Haus des Menschen“ (deutsch von F. J. Krebs, 1997). –
Übersetzung der Zitate im Text vom Vf.
Alain
Die Kunst, sich und andere zu erkennen
Fünfundfünfzig Propos und ein Essay
Auswahl, Übersetzung und Nachwort von Franz Joseph Krebs.
194 S., brosch.
ISBN: 978-3-458-33803-1
Suhrkamp, Berlin 2016
Alain
Im Haus des Menschen
Betrachtungen
Auswahl, Übersetzung und Nachwort von Franz Joseph Krebs.
189 S., brosch.
ISBN: 978-3-458-33622-8
Suhrkamp Insel, Berlin 2016
Erstellungsdatum: 06.02.2025