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Götz Alys „Wie konnte das geschehen?“

Hitlers Deutsche

Helmut Ortner


Das Vergessen, Nichtwissenwollen, Leugnen, Verschweigen, Vertuschen von Verbrechen verändert Menschen. Vor allem, wenn die Schuld so gewaltig ist, dass man nicht vor ihr bestehen kann, wird man von ihr beschädigt. Wie aber kann der Schadensfall ein ganzes Volk betreffen? Der Historiker Götz Aly hat sich der Aufklärung der NS-Verbrechen verschrieben. In seinem neuen Buch beschreibt und analysiert er die zwölfjährige Epoche „Hitlerdeutschlands“ und fragt: „Wie konnte das geschehen?“ Helmut Ortner hat es gelesen.

 

Im Jahr 1948 wirbt das Waschmittel Persil mit einer Zeichentrick-Reklame, in der ein Marine-Matrose verdreckten Pinguinen die Bäuche wieder strahlend reinwäscht. Immer mehr Pinguine springen daraufhin an Bord und rufen im Chor „PERSIL – PERSIL – PERSIL! “… Dabei recken sie die Flügel wie weit ausgestreckte Arme. Mit stolzgeschwellter Brust defilieren sie schließlich in Reih und Glied an Land, zu Marschmusik singend: „Ja, unsere weiße Weste verdanken wir PERSIL!” Die Deutschen haben ihren Humor also noch nicht verloren oder schon wiedergefunden. In Fridolin Schleys Roman Die Verteidigung, in dem er die Ereignisse um den Nürnberger Wilhelmstraßen-Prozess in ein fesselndes Drama über Moral und Verantwortung verwandelt, taucht die Reklame für blütenweiße Wäsche kurz auf – als filmische Metapher, die veranschaulicht, wie die „Entnazifizierung“ schon frühzeitig funktionierte.

Deutschland in den Nachkriegsjahren: ein Volk müht sich, das zu vergessen, was es verschweigt – seine Bereitschaft zur Teilnahme an einem System der Barbarei. Geschichts-Verleugnung und Geschichts-Umdeutung haben Hochkonjunktur. So verliert sich der Schrecken und die Einzigartigkeit, den der Zivilisationsbruch des Holocaust und die Vernichtungskriege bedeuten im kollektiven Verdrängen und Vergessen. Der nationalsozialistische Wahn wird zur austauschbaren Metapher des Bösen, persönliche Schuld relativiert. Hitler allein soll es gewesen sein, verantwortlich für das Verderben der Deutschen und ihre millionenfachen Verbrechen. Wenn nicht allein, dann allenfalls eine kleine verbrecherische Nazi-Elite und ihre Getreuen. Im Nachkriegs-Deutschland sind die einstigen Volksgenossen dabei, die „dunklen Jahre“ von ihrem eigenen Erleben und Mit-Tun abzuspalten. Der kollektive Tenor: Wir wussten von nichts.

Dieser Mythologie wollen gerne viele glauben: den Legenden von der sauberen Wehrmacht, vom „Nichtwissen“ und „Nicht-dabei-gewesen-Sein“. An Hitler war vor allem Hitler schuld, nicht wir. Dominiert wird die Nachkriegszeit von einem „kommunikativen Beschweigen“ (Hermann Lübbe) der Schuldgefühle. Zu fest – und zu bequem – ist noch immer die Sichtweise von einer skrupellosen Machtelite und einem angeblich verführten Volk. So lässt sich persönliche Schuld gut entsorgen. Die Deutschen exkulpieren sich selbst. Sie vernichten Dokumente, verleugnen ihre Mit-Täterschaft und flüchten ins Vergessen. Zunächst benennen sie die Niederlage vom 8.Mai 1945 als „Zusammenbruch“. Danach erfinden sie den Begriff von der „Stunde null“, später ist die Rede vom „Neuanfang“ – allesamt Begriffe, mit den Hitlers Deutsche versuchen, die begangen Verbrechen geschichtlich zu amputieren, das Grauen und die Tyrannei vergessen zu machen. Ein Volk auf der Flucht vor seiner Vergangenheit.

„Nicht mitmachen ist kein Widerstand“

Aly blickt auf die Interdependenzen zwischen Führung und Volk: Wer Macht ausüben will, tut auch in einer Diktatur gut daran, sich des Wohlwollens und des Mitmachens einer Mehrheit, in Hitlers Worten: „der Masse der Mitte“, zu versichern. Aly zeigt anhand vieler Biografien, Tagebucheinträgen und Briefen ganz normaler Deutscher, vom BdM-Mädel bis zum Professor, wie Hitlers Regime die Gesellschaft in Begeisterung versetzte, atomisierte, aktivierte, ihren Bedürfnissen entgegenkam, sie in die eigenen Verbrechen verwickelte, etwa durch das Ersteigern jüdischen Hausrats. Viele Deutsche waren beteiligt an diesen Verbrechen: Mitgefangen, Mitgehangen. Goebbels, der für Volks-Stimmung in Reich verantwortlich war, ist neben Hitler die zentrale Person in Alys Buch. Er wird mit der Kapitelüberschrift „Goebbels erfindet die Kollektivschuld“ überzeugend dargestellt. Alle sollen Mitwisser und Mitprofiteure sein, als schuldige Geiseln ihrer eigenen Mitwirkung sollen sie jeden Gedanken an einen Kompromiss mit den Kriegsgegnern verwerfen und „durchhalten“. Goebbels Losung: „Volkgemeinschaft und Schicksalsgemeinschaft“. An die Stelle der „Kraft durch Freude“ tritt nun „Kraft durch Furcht“. Der heilige, nationale Schwur gilt bis in den Untergang – sinnlos und besinnungslos! Und wo Widerstand lauert, wartet Freislers Volksgerichtshof mit Hinrichtung. Also schweigsame Opposition, stille Verweigerung? Aly hat hier strenge Maßstäbe: „Nichtmitmachen ist kein Widerstand“.

Götz Aly weitet den Blick auf das gesamte Panorama nationalen Größenwahns und Barbarei. Viel- und tiefschichtig beschreibt er, was es mit dem „Wie?“ auf sich hat, das doch immer auch das „Wir“ braucht – das große kollektive Einverständnis. Er entlarvt das „Wir haben nichts gewusst“ nach 1945 als millionenfache Lebenslüge und zitiert als Fazit die Rede des (am 18. Oktober 2024 verstorbenen) israelischen Historikers Jehuda Bauer von 1998 vor dem Deutschen Bundestag: „Das Fürchterliche an der Shoah ist eben nicht, dass die Nazis unmenschlich waren, das Fürchterliche ist, dass sie menschlich waren – wie Sie und ich.“ Wer begreifen möchte, „wie es möglich war”, warum so viele durchaus normale, moralisch gefestigt erscheinende Deutsche 1932 bis 1945 dem Wahn Hitlers folgten, der findet in Alys Buch erhellende Analysen, Beschreibungen und Belege.

Die Frage, die bleibt: Ist die heutige, die politisch und moralisch schuldlose Generation, nun endgültig entlassen aus der Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur und seinem Erbe? Oder beginnt nicht die Verantwortung nachfolgender Generationen bei der Frage, ob sie sich erinnern will? Alys Buch kann als Plädoyer gegen jede Verharmlosung und Relativierung der NS-Vergangenheit gelesen werden, in einer Zeit, in der rechte Populisten und Parteien dafür sorgen, dass der Nationalismus seine Wiederkehr erlebt. Es geht um die Gegenwart der Vergangenheit – denn die nationalsozialistische Vergangenheit verjährt nicht. Und es gibt eine Verpflichtung: die des Erinnerns. Das Buch von Götz Aly erinnert daran.

 

 

Götz Aly
Wie konnte das geschehen? 
Deutschland 1933 bis 1944 
768 S., geb.
ISBN: 978-3-10-397364-8
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2025 
 
 
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Erstellungsdatum: 21.09.2025