MenuMENU

zurück

Versuch über Clarice Lispector

„Ich bin ihr alle!“

Felix Philipp Ingold


Clarice Lispector. Foto: Ishiai. wikimedia commons

Jeder Mensch ist nicht nur für das verantwortlich, was er tut, sondern auch für das, was alle anderen tun: Fjodor Dostojewskis moralisches, überforderndes Axiom hat auch die brasilianische Schriftstellerin Clarice Lispector für sich in Anspruch genommen. Dennoch wurde sie nicht als intervenierende Aktivistin bekannt, sondern als erfolgreiche Autorin. Felix Philipp Ingold beschreibt die ambivalente Figur Lispector. Die Gesichter, die uns aus ihren Porträtfotos ansehen,  sind die einer entschlossenen Frau.

 

Eigentlich könnte, dürfte, sollte im laufenden Jahr Clarice Lispectors 100. Geburtstag gefeiert werden. Eigentlich? Die brasilianische Autorin selbst hat verschiedentlich 1925 als ihr Geburtsjahr angegeben, obwohl in all ihren Papieren 1920 offiziell als solches verzeichnet war. Tat sie es aus Eitelkeit (um sich zu verjüngen) oder aus spielerischem Übermut (um sich der kalendarischen Fixierung zu entziehen)? Letzteres ist eher anzunehmen und liesse sich durchaus ernsthaft erklären mit ihrer Abneigung gegen jede Art von Ein- und Zuordnung, aber auch mit ihrem vitalen Bedürfnis, in wechselnden Rollen das eigene fremdbestimmte Ich zu erweitern und zu überbieten, sich vorbehaltslos in andere zu versetzen und sie gleichzeitig in sich aufzunehmen. „Was ich mir immer gewünscht hatte“, bestätigte sie in einer ihrer späten Kolumnen: „Ich sollte eine andere sein als ich selbst.“ Und mehr als das: „Ich bin ihr alle.“

Die Fähigkeit, sich solcherart „gemein“ zu machen und dadurch stetig sich zu „erneuern“, führte Clarice Lispector ebenso selbstgewiss wie selbstlos auf ihre „intelligente Sensibilität“ zurück, die sie als angeborene Begabung (wie auch als Verantwortung) wahrnahm und – im Leben wie beim Schreiben – konsequent pflegte. Nach eigenem Bekunden ist ihr diese intelligent-sensible allseitige Einfühlung, die zugleich eine Verausgabung ihrer selbst war, nicht immer leichtgefallen. Dass sie dabei ihr Gesicht wie eine Maske ständig wechseln musste, brachte sie schliesslich zur Annahme, ihr eigenes Gesicht sei eine Maske und real seien einzig die Gesichter der andern, die sie sich zueigen machte.

Die zahlreichen Photos, die es von ihr aus allen Lebensphasen gibt, zeigen tatsächlich eine Person mit vielen Gesichtern – eine in jeder Situation und Aufmachung schöne Frau, attraktiv und doch distanziert, die Augen stets weit offen, der Mund stets geschlossen, stark geschminkt, kein Lachen, kein Lächeln, nie. Man sieht sie gebeugt am Schreibtisch, posierend auf dem Sofa, auf dem Balkon, am Strand, selten in Begleitung oder in Gesellschaft, und immer wirkt sie wie ausgeschnitten aus der jeweiligen Umgebung.

Auf jedem Bild ist Clarice Lispector anders zu sehen. Wohl bleibt sie an ihrer Körperhaltung zu erkennen, ihre Gesichtszüge sind aber so wechselhaft, als gehörten sie unterschiedlichen Menschen an: Momentaufnahmen, die jedesmal eine andere Maske erscheinen lassen, und … aber jede dieser Masken ist authentisch – einmalig, einzigartig wie jedes Gesicht.

Dazu mag ihre wechselhafte Biographie beigetragen haben: Geboren wurde sie in der ländlichen ukrainischen Provinz, aufgewachsen ist sie im brasilianischen Exil; dort fühlte sie sich zwar rasch „daheim“, war sich ihrer Fremdheit aber stets bewusst; als Journalistin und Diplomatengattin war sie später weltweit unterwegs; nebst ihren Erstsprachen Jiddisch und Hebräisch beherrschte sie Portugiesisch, Englisch, Französisch, auch Deutsch und Italienisch waren ihr vertraut. Ihrem Aussehen nach hielt man sie gern für eine „Exotin“, bald mit südlichen, bald mit östlichen Wurzeln. All diese Besonderheiten, verstärkt noch durch ihre schillernde literarische Präsenz, prägten ihr Image als abgehobene „Sphinx“, als „Lichtgestalt“, als „Engel“ und „Hexe“ gleichermassen. Schon zu Lebzeiten ist sie zur mehrdeutigen „Legende“ geworden.

  •  

Dieser ambivalente Augenschein steht in aufschlussreicher Analogie zu Clarice Lispectors literarischer Arbeit, zu ihren Texten ebenso wie zur Art und Weise ihres Schreibens. Vergegenwärtigt man sich ihr Werk (das in deutscher Übersetzung noch immer nicht vollständig vorliegt) in der Überschau, so fällt auch auf dieser Ebene die Synthetisierung von Diversität und Einheitlichkeit auf. Neun Romane, ein Dutzend Erzählbände, einige Kinderbücher, dazu Hunderte von Presseartikeln und Kolumnen fügen sich bei all ihrer thematischen Vielfalt zu einem kohärenten Ensemble, das mancherlei kompositorische und stilistische Brüche in sich aufnimmt, gerade dadurch aber seine Integralität behauptet. Manche ihrer Texte hat sie in unterschiedlicher Fassung und an unterschiedlichen Stellen publiziert, so dass deren Status – Entwurf oder Fragment? Essay oder Erzählung? – oftmals unklar bleibt.

Clarice Lispector entwickelt – genauer: entlässt – daraus eine Art Laufschrift, die alles mitzieht, was jeweils auftaucht oder einfällt, sinnliche Wahrnehmungen, Assoziationen, Reminiszenzen. Alles kommt gleichsam ins Fliessen, entwickelt eine eigene, durchaus graphomanisch zu nennende Dynamik, verhindert jede kompositorische Verfestigung. Selbst Anfang und Ende wirken oft zufällig, Logik und Kausalität werden relativiert, wenn nicht gar aufgehoben, die Autorin ist eher Medium denn Lenkerin der Schreibbewegung, und man versteht, dass ihr „Ideal“ darin bestand, ihr gesamtes Werk als eine unendliche Geschichte anzulegen, „a story that never ended“, wie sie es kurz vor ihrem Tod gesprächsweise formulierte.

„Ich schreibe mit der Schreibmaschine auf meinem Schoss“, präzisierte Clarice Lispector in jenem Gespräch: „Das fliesst gut, das fliesst reibungslos … und regt mein Fühlen und Denken an.“ Beim Lesen erzeugt dieses stetige Fliessen und Überfliessen den Eindruck, man habe es bei jedem ihrer Texte mit dem gleichen, das heisst mit einem und nur einem Text zu tun, und als Folge davon fällt es denn auch schwer, die vielen Geschichten und Berichte im Einzelnen zu memorieren, und trotz wechselnden Eigen- und Ortsnamen sind die vorkommenden Personen, Episoden, Räumlichkeiten oder Requisiten kaum auseinanderzuhalten. Diese Schwierigkeit wird noch dadurch erhöht, dass Clarice Lispectors Schreibfluss über dreissig Jahre hin keine merkliche Änderung erfahren hat: Thematisch wie stilistisch ist ihr Frühwerk von ihrem Spätwerk nicht zu unterscheiden, ihr erster und ihr letzter Roman lesen sich so, als wären sie aus dem gleichen Grundimpuls und zu gleicher Zeit geschrieben worden. Eine mögliche Erklärung für diese auffallende Gleichförmigkeit hat sie wohl selbst geliefert mit ihrer Aussage, wonach ihr Schreiben immer schon vorgeschrieben, also jeder Text vorgegeben sei: „The phrase arrives already made.“

Manche Figuren und Motive scheinen unentwegt wiederzukehren beziehungsweise sich zu vervielfachen, so auch – vorab – das multiple erzählerische Ich, das sich zwanglos und intim mit den Kunstfiguren verbinden kann. Gleichermassen eingeebnet sind die existentiellen Differenzen zwischen Menschen-, Tier- und Gegenstandswelt, alles scheint gleichberechtigt zu koexistieren, lauter „Hohlformen“, die nichts als das Nichts in sich bergen.

Ebenso fluktuierend sind Raum und Zeit – immer wieder das gleiche Setting in immer wieder anderer Präsentation. Die Protagonisten kommen gewöhnlich aus irgendeiner Provinz in irgendeine mittelgrosse Stadt, führen ein schlichtes Leben, wohnen unaufwendig zur Miete, absolvieren irgendeinen bescheidenen Job, sind oft unterwegs im Bus, in der Strassenbahn, im Taxi, wobei es, mit desinteressiertem Blick nach draussen oder seitwärts, zu unerwarteten „Augenblickskontakten“ kommt, zu Momenten des Entsetzens oder der Erleuchtung, die plötzlich „alles“ – Partnerschaft, Familie, Beruf – in neuem Licht erscheinen lassen. Solche Wahrnehmungsmomente („plötzlich“ ein Bettler, ein Blinder, ein kauender Tischnachbar, ein Hund – und der Rest der Welt ist ausgeblendet) markieren bei Clarice Lispector zumeist einen Neuanfang, und jedesmal ist es der Anfang vom Ende.

Hauptfigur manch ihrer Romane und Erzählungen ist „die“ junge glücklose Frau, die in ihrer Unbedarftheit, Unansehnlichkeit und alltagsweltlichen Untauglichkeit entweder übersehen oder verkannt oder missbraucht wird, wodurch ihr jede „Normalität“ – Würde, Liebe, Familie, Glück – vorenthalten bleibt. Nicht zuletzt ihre körperliche Schmächtigkeit (dürftige Haare, Brüste, Beine) hindert sie daran, als „normale“ Frau zu gelten und sich als solche auszuleben: In jeder Hinsicht das Gegenbild der Autorin, deren kühle Eleganz und sinnliche Ausstrahlung einst Giorgio de Chirico in einem oftmals reproduzierten Porträt festgehalten hat.

https://site.claricelispector.ims.com.br/en/2021/11/11/at-home-with-clarice/

In ihrem Debütroman („Nahe dem wilden Herzen”, 1944) schreibt Clarice Lispector diese desolate Rolle einer Gewissen Joana zu, die „gefühllos, stumpf und kräftig“ in ihrem Körper und in ihrer Sehnsucht gefangen bleibt. Danach tritt in der gleichen Rolle (in „Der Leuchter“, 1946) eine gewisse Virgínia auf, die ein ebenso qualvolles Schattendasein zu bestehen hat, und im letzten grossen Erzählwerk („Die Sternstunde“, 1977) wird mit der unerlösten Stenotypistin Macabéa noch einmal eine solch unerkannte Kindfrau zur Märtyrerin der Normalität. Unter immer wieder anderem Namen kehrt diese Frau, der die Menschwerdung verwehrt wird, in zahlreichen Geschichten wieder, und jedesmal macht sich die Erzählerin zu ihrer Komplizin, wenn nicht zu ihrer Doppelgängerin, so dass die Antiheldin bisweilen zur eigentlichen Heldin mutiert. Über den „Mut, der andere zu werden, der man ist“, schreibt die Autorin (in „Die Fremdenlegion“, 1964): „Aus der eigenen Geburt erstehen und den alten Körper am Boden zurücklassen.“ Und später (in „Glanz“, 1974) fügt sie bestätigend hinzu: „Wirklich wahr, ich bin eine einfache Frau und ein klein wenig kompliziert – eine Mischung aus Bäuerin und Stern am Himmel.“ Und sie ergänzt: „Es gibt nur ein gefälschtes Porträt eines Porträts eines anderen Porträts von mir.“

In „Die Sternstunde“ setzt Clarice Lispector einen Mann als fiktiven Erzähler ein, der naturgemäss weiss, dass er seine literarischen Figuren nach Belieben erschaffen, leben lassen und vernichten kann – er hat deren „Schicksal in Händen“. Zwischen ihm und der glücklosen Macabéa, die er auf dem Papier erschafft, kommt es zu einem existentiellen Konflikt; er überlegt, ob und wie er sie sterben lassen könnte, doch seine (des Schöpfers) Verbindung mit ihr (dem Geschöpf) ist so intim, dass ihr Tod auch seinen Tod bedeuten würde. Und tatsächlich: „Macabéa hat mich getötet. – Sie war endlich frei von sich und von uns. Erschreckt nicht, sterben ist nur ein Moment, es ist rasch vorbei, ich weiss das, weil ich selbst gerade gestorben bin mit der jungen Frau.“ Doch sterben genügt nicht, der Tod ist immer „zu wenig“, er kann weder Trost noch Erlösung sein, ist nichts als Luft: „Luft als Energie? Ich weiss es nicht“, gesteht der Erzähler: „Der Tod ist eine Begegnung mit sich selbst.“

  •  

Verschiedentlich hat man Clarice Lispectors erzählerische „Genialität“ herausgestellt, indem man sie mit den „Grössten“ ihrer Zeitgenossen verglich, mit Virginia Woolf, mit Kafka, Joyce, Borges, Sartre. Die Vergleiche sind fehl am Platz. Denn zur „Grösse“ und „Genialität“ dieser Autorin gehört gerade ihre Unvergleichlichkeit, ihre Unabhängigkeit von Vorbildern, ausserdem ihr unverwechselbarer Personalstil, der sich die Stillosigkeit zum Prinzip macht. Von gutem Stil und überhaupt von aller „schönen Literatur“ ist ihr Werk weit entfernt, mehrheitlich steht es der Trivialliteratur näher als kunstvoll komponierter Prosa, Klischees aller Art gehen in die fliessende Schreibbewegung ein, kitschige Metaphern, schiefe Vergleiche und fehlerhafte Syntax gehören wie selbstverständlich dazu. „Es gibt auch für Schund eine Zeit“, heisst es in Clarice Lispectors „Erklärung“, und andernorts (in „Glanz“) ergänzt sie: „Aber ich bin eben reine Fehlerhaftigkeit … Und mich retten nur Fehler.“

Man lese beispielshalber: „… die Sehnsucht nach der grossen Umarmung. Sie schmiegte sich an sich selbst, sehnsüchtig nach dem süssen Nichts.“ („Die Sternstunde“) – „Sie selbst war innerlich mit Grau überzogen und sah nichts in sich als einen Abglanz …“ („Nahe dem wilden Herzen“) – „Hin und wieder, in seiner ausserordentlichen Ruhe hinter Brillengläsern, ereignete sich etwas in ihm, das glänzte und ein wenig zuckte wie eine Inspiration.“ („Entwicklung einer Kurzsichtigkeit“) – „Ihr Mund war die Knospe einer roten Rose.“ („Er hat mich getrunken“) Usf.

Sätze von solch minderer Qualität sind bei Clarice Lispector gang und gäbe, und wenn man darob beim Lesen nicht resigniert, vielmehr mit stetig steigender Spannung sich auf die Texte einlässt, so deshalb, weil die Schwachstellen noch jedesmal durch Aussagen von singulärer Prägnanz und Originalität konterkariert werden, ehe erneut die fahrige Fließschrift überhandnimmt. Es ist so, als müsste (oder wollte) die Autorin punktuelle Qualität durch übersteigerte Quantität erreichen – graphomanische Produktion, die sich immer wieder (eher unbewusst denn bewusst) zu staunenswerten Intensitäten verdichtet, mithin zu dem, was Clarice Lispector als „Wahrheit“ begreift. Beiläufige „Wahrheiten“ dieser Art finden sich in ihrem Erzählwerk zu Hunderten, und würde man sie einzeln aus den Texten extrahieren, ergäbe sich daraus so etwas wie eine poetische Philosophie, die jenseits logischer Begrifflichkeit ihre Richtigkeit (oder genauer: ihre Stimmigkeit) hätten.

Manche dieser begriffsschwachen, aber bildstarken „Wahrheiten“ tendieren zum Nonsense, nehmen sich abstrus und abgehoben aus, gewinnen aber häufig eine geradezu magische Wirkung, wie man sie von surrealistischen Bildwerken oder aus Texten von Geisteskranken kennt. Solche Stellen zwingen beim Lesen zum Innehalten und ermöglichen (erfordern sogar) eigenmächtige Sinnbildung: „Zeitweise wurden die Augen zu reinen Wimpern, so gierig wie ein Ei.“ – „Der feine Mund nahm etwas Infantiles an, ein zertretenes Violett.“ – „Da haben Sie noch Glück gehabt, nicht als Land zu enden.“ – „Die junge Frau war rothaarig, und als ob das noch nicht genügte, auch innen war sie rot und zudem farbenblind.“ – „Dein neues Verständnis aus Eis und Herrlichkeit will mein grober Gedanke besingen.“ – „Geboren aus einem Augenblickskontakt des Mondes mit einer Stute.“ Usf.

Das stetige Fluktuieren zwischen Fahrigkeit und Verdichtung hält das Leserinteresse wach, bei der Kritik ebenso wie beim breiteren Publikum – Unterhaltung und Unterweisung gehen hier leichthin ineinander über, auf banale Beschreibungen und Episoden folgen regelmässig Kern- oder Leitsätze wie diese (aus „Die Passion nach G. H.“, 1963): „Ich weiss, dass ich gesehen habe – weil ich nicht verstehe.“ – „Irgendwie war ‘als wäre nicht ich es’ umfassender denn ‘als wäre ich es’.“ – „Alles sieht alles, alles lebt das andere: In dieser Weise wissen die Dinge die Dinge.“ – „Welch ein Abgrund zwischen dem Wort ‘Liebe’ und der Liebe, die ja keinerlei menschlichen Sinn hat.“ – „Die Wahrheit ist das, was sie ist.“ – „Ich fand keine menschliche Antwort auf das Rätsel. Sondern mehr, viel mehr: Ich fand das Rätsel selbst.“

Solche und ähnliche Sätze stören oder unterbrechen den ausufernden Erzählfluss durch ihre Sperrigkeit. Bald sind sie aphoristisch zugespitzt, bald paradox verschlauft oder nur einfach unverständlich; in jedem Fall drängen sie zum Einhalten, laden zum Nachdenken und Nachfragen ein. Dabei spricht das erzählerische Ich keineswegs einstimmig für die Autorin, vielmehr versucht es, unterschiedliche, auch divergierende Stimmen zu bündeln und damit alle zu Wort kommen zu lassen, nämlich den Menschen und damit das Menschliche, ungeachtet irgendwelcher angeborener oder angeeigneter Differenzen.

So ist auch die in Ich-Form verfasste „Passion nach G. H.“ nicht etwa ein autobiographischer Bericht oder gar eine Beichte, sondern eine vielstimmige Wortmeldung im Namen der Menschheit, der Menschlichkeit und auch der Unmenschlichkeit: „G. H.“ steht generell für das „Menschengeschlecht“ (Genus Humanum). Wie ambitioniert dieses Projekt auch sein mag, Clarice Lispector beansprucht dafür keinerlei Autorität, sie unterzieht sich nach eigener Auskunft (Kolumne vom März 1970) einer unausweichlichen, weil schicksalhaften Pflicht: „Man wird mich fragen, warum ich mich um die Welt kümmere: Ich wurde schlicht und einfach mit diesem Auftrag geboren. Ich bin für alles verantwortlich, was es gibt …“

Alles, alle – dazu gehört auch die Tierwelt. Tiere (besonders prominent: Hühner, Hunde, Pferde, Schlangen, Insekten) sind bei Clarice Lispector Teil des „Personals“, sie werden gleich den Menschen und gleich wie Gott behandelt. „Wisst ihr“, so fragt sie rhetorisch in ihrem späten Essay über Brasília (1974), „dass ich Hundesprache kann und auch die von Pflanzen und Samen?“ – Zu sagen: „Ich bin ein Hund … Ich bin mein Hund“ – das versteht sich für sie von selbst, und sie gibt es auch andern gern zu verstehen. Alles ist … alle sind gleichrangig einzustufen, die Welt ist ein Neben- und Miteinander von Gegensätzen, die überhaupt erst die Einheit des grossen Ganzen ausmachen.

Auch die Einheitlichkeit von Clarice Lispectors Gesamtwerk ist ein Konglomerat von Gegensätzen, von sprachlich und literarisch nicht zusammengehörigen und auch nicht zusammenpassenden Versatzstücken, die aber zu einem insgesamt harmonischen Rauschen verschmelzen, so als fügten sich lauter Misstöne zu einer niegehörten Symphonie. Befremdliche Schönheit! Perfekte Fehlerhaftigkeit!

Die Autorin gerät mit sich selbst in Widerspruch, wenn sie einerseits ihre Texte als eine Summa von vorgefundenen, immer schon „vorgegebenen“ Sätzen charakterisiert, andererseits jedoch darauf beharrt, sie könne „ohne Überraschung“ nicht schreiben; sie arbeite ihre „Sachen“ völlig unbewusst aus, und „plötzlich“ komme dann ein Satz: „Ich weiss nie, was ich schreiben werde“, berichtet sie in dem bereits erwähnten Gespräch: „Ich geh einfach los, und ich weiss nicht, worauf es hinausläuft. Erst danach versteh ich, was ich eigentlich wollte.“ Man könnte diese spontane Schreibweise als Improvisation bezeichnen. Einzig das Werkzeug dafür, die Sprache, steht zur Verfügung, ein zufälliges erstes Wort (oft ist es ein Name) kann einen ersten Satz provozieren, und damit gerät dann der Schrifttext in Fluss, der Themen, Metaphern und „Wahrheiten“ überhaupt erst hervorbringt.

Ein riskantes Unterfangen – in Clarice Lispectors „Passion nach G.H.“ findet sich dazu ein Kommentar, der den Vorgang klärt und ihn (typisch für die Autorin) gleichzeitig in Frage stellt: „ – das Unbekannte in eine Sprache übersetzen, die ich nicht kenne, und ohne auch nur ansatzweise zu verstehen, wozu die Signale nutzen. Ich werde in dieser somnambulen Sprache reden, die, falls ich wach wäre, keine Sprache wäre.“

Erstellungsdatum: 04.05.2025