Der westafrikanische Staat Guinea, der neben Guinea-Bissau, Senegal, Mali, der Elfenbeinküste, Liberia und Sierra Leone an der Atlantikküste liegt, wird seit seiner Unabhängigkeit 1958 von autoritären Regimes beherrscht. Madiou Sow ist 2016 als minderjähriger unbegleiteter Flüchtling aus Guinea nach Frankfurt gekommen. Nach dem Abitur am Max-Beckmann-Gymnasium steht er nun kurz vor dem Abschluss zum Gesundheitsökonom. Mit ihm sprach Riccarda Gleichauf.
Riccarda Gleichauf: Sie sind 2016 aus Guinea nach Frankfurt gekommen. Was ist das für ein Land, das in Deutschland viel weniger bekannt ist als z.B. Ghana oder Kamerun?
Madiou Sow: Guinea ist ein Land mit ökonomischen Ressourcen, z.B. Bodenschätzen, wie Eisen, Bauxite, Gold und einer schönen Landschaft. Aber die Eliten haben bis jetzt versagt. Aus diesem Grund ist das Land politisch instabil. Ich bin mir aber sicher, dass es nicht mehr lange dauert, einen guten Weg zur Entwicklung zu finden. Großes Vertrauen habe ich auf jeden Fall in die neue Generation. Viele junge Leute, mit guter Bildung und Verantwortungsbewusstsein für das Land, interessieren sich für wichtige Themen wie Menschenrechte und (soziale) Gerechtigkeit.
Warum ein Studium im Bereich Gesundheitsökonomie?
Das Gesundheitswesen und gesundheitspolitische Themen haben mich schon immer interessiert. In Guinea hat mich gestört, dass Menschen oft nicht zum Arzt gehen können, weil sie keine Versicherung haben. Meine grundsätzliche Überlegung war, vielleicht einmal helfen zu können und ein besseres und gerechtes System aufzubauen oder dabei zu beraten.
Wie steht es mit dem Gesundheitssystem in Deutschland?
Es ist grundsätzlich gut. Ich würde aber die Unterscheidung zwischen privater und gesetzlicher Versicherung abschaffen. Es ist ein Zwei-Klassen-System. Das habe ich selbst erlebt. Jeder sollte die gleiche Chance auf schnelle Behandlung haben. Ein weiteres, sehr großes Problem ist der Pflegekräftemangel. Er wird sich in den kommenden Jahren verschärfen, weil die pflegenden „Babyboomer“ den Arbeitsmarkt verlassen. Gleichzeitig werden mehr Menschen auf Pflege angewiesen sein.
Welchen Minister oder welche Ministerin würden Sie gerne mal treffen?
Diese Frage zu beantworten ist zurzeit nicht einfach, weil die aktuelle Regierung beendet ist. Von der alten Regierung würde ich vielleicht Karl Lauterbach treffen, um mit ihm über seine Krankenhausreform zu sprechen. Themen wie die Wettbewerbsfähigkeit von Krankenhäusern aufgrund der Spezialisierung würden mich interessieren.
Warum tut sich Deutschland schwerer als z.B. Frankreich, Facharbeiter:innen anzuwerben?
Ich denke, Deutschland hat einen großen Nachteil aufgrund der deutschen Sprache. Sie ist kompliziert. Obwohl ich seit neun Jahren hier lebe, fühle ich mich noch nicht sicher mit ihr. Außerdem ist Deutsch im Ausland wenig repräsentiert, deswegen ist das Land wenig attraktiv. Auch bei den Zertifikaten ist Deutschland streng. Ausbildungen können teilweise nur mit C1-Niveau gemacht werden, und die Anerkennung ausländischer Unterlagen und Zertifikate, wie Schulzeugnisse, ist mit vielen Hindernissen verbunden.
Könnte das Erstarken rechter Parteien auch eine Rolle spielen?
Das glaube ich schon, da Kriminelle mit Migrationshintergrund in der Öffentlichkeit oft gleichgesetzt werden mit allen anderen Ausländern. Das erzeugt, von außen betrachtet, ein schlechtes Image für Deutschland.
Wie ist Ihr Blick auf Deutschland?
In Deutschland herrscht Frieden und Meinungsfreiheit. Das schätze ich. Aber es ist manchmal nicht leicht, aufgrund der finanziellen Situation zu studieren, alles ist teuer. Zum Beispiel eine bezahlbare Wohnung zu finden, ist eine große Herausforderung. Während des Studiums muss ich wie viele andere Studenten auch jobben. An sich ist arbeiten immer gut, da man Erfahrungen sammeln kann, aber es sollte nicht so stark mit finanziellem Druck verbunden sein. Zurzeit habe ich einen Werkstudentenvertrag am Uniklinikum und helfe im Fotolabor der Augenheilkunde; mir gefällt es sehr, mit den Menschen in Interaktion zu sein.
Was mögen Sie gar nicht an Deutschland?
Ich beobachte, dass die Menschen hier oft Einzelgänger sind. Sie sind nicht so beziehungsorientiert. Ich meine damit, sie sind sehr vorsichtig im Umgang mit anderen. Ich würde sogar sagen, dass sie Angst vor Fremden haben und es präferieren, unter sich zu bleiben. Nicht ALLE, aber viele sind zu reserviert. Bei uns in Guinea ist es anders; die Menschen halten sich gerne in Gruppen auf. Aber das heißt nicht, dass die Deutschen nicht hilfsbereit sind. Ich persönlich habe hier viel Unterstützung erfahren.
Wer hat Sie unterstützt?
Meine Sozialarbeiterinnen, mein Vormund und das Jugendamt waren für mich da. Auch meine Deutschlehrerin hat immer an mich geglaubt und mir interessante Literatur nahegebracht, wie z.B. „Die Verwandlung“ von Franz Kafka. Nach der Schule habe ich ehrenamtliche Personen getroffen, die mir beim Lernen geholfen oder ein günstiges Dach über dem Kopf angeboten haben.
Wo möchten Sie nach dem Studium arbeiten?
Boa. Am liebsten im Krankenhausmanagement, im Bereich Controlling oder einem ähnlichen Bereich. Irgendwo hier in Deutschland. Eine Arbeit im Ausland könnte ich mir auch gut vorstellen. Ich bin immer sehr froh, neue Kulturen und Menschen kennenzulernen. Ich bin immer reisebereit.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Ich wünsche mir mehr Demokratie und Frieden überall auf der Welt, und dass es Afrika insbesondere besser geht. Verstehen Sie mich nicht falsch, Frankfurt ist meine zweite Heimat geworden. Ich möchte aber, dass alle Menschen auch in Afrika gut leben können, nicht flüchten müssen, um eine lebenswerte Zukunft zu haben. Auch bin ich überzeugt davon, dass es eine positive, globale Veränderung ohne uns Afrikaner und Afrikanerinnen nicht geben kann! Ich hoffe, dass wir in Zukunft mehr zusammenarbeiten und unsere Ressourcen miteinander verbinden, um gemeinsam gut zu leben.
Das Interview erschien im Mai 2025 im Journal Frankfurt.
Erstellungsdatum: 21.06.2025