Jemanden hungern zu lassen, ist der Versuch, ihm das Leben zu nehmen. Der Name dafür ist Holodomor, im Russischen: Golodomor. Die Geschichte hat Millionen Opfer dieser Art der Menschenvernichtung verzeichnet – durch bewusstes Unterbinden der Nahrungsmittelversorgung. Ein Kommentar der italienischen Schriftstellerin Dacia Maraini macht deutlich, worum es geht.
Viele Menschen denken, Hunger zu haben, sei dasselbe, wie Appetit zu haben. Der Magen knurrt, man schnallt den Gürtel enger und hält durch bis zur nächsten Mahlzeit. Es gibt Menschen, die hungern, um abzunehmen, oder sie hungern, wie es bei Magersüchtigen der Fall ist, auf der Suche nach Spiritualität, die durch unsere Kultur des Konsums unterdrückt wird. Aber der Hunger derer, die aufgrund politischer Unterdrückung nichts zu essen haben, ist etwas anderes.
Ich weiß, was Hunger ist, und wie er Tag für Tag mehr zur Vernichtung führt. Der Hunger, der einen dazu treibt, eine tote Maus zu vertilgen oder Ameisen zu schlucken. Wie ich es als Kind im japanischen Konzentrationslager für italienische Antifaschisten getan habe. Der echte Hunger, der dich zuerst dazu bringt, dich selbst zu verzehren, indem du alles Fett und alle Proteine verbrauchst, die dein Körper enthält. Dann beginnen die Krankheiten: Da du keine Energie und keine Antikörper mehr bildest, vermehren sich die Bakterien und verursachen mehr oder weniger schwere Erkrankungen. Da du keine Abwehrkräfte mehr hast, wirst du von Parasiten befallen: weiße Würmer, die fadenförmig oder klein und glitschig wie graue Schnecken sind. Der Kopf, der Schambereich und die Achselhöhlen werden von Wanzen und Läusen befallen. All das habe ich selbst erlebt, deshalb weiß ich sehr genau, welche Auswirkungen der Hunger hat. Ich kann mich als Hunger-Expertin bezeichnen, im entwürdigendsten und verheerendsten Sinne des Wortes.
Unter diesen demütigenden und verheerenden Folgen des Hungers leiden derzeit die Kinder in Gaza, und ich frage mich, wie es sein kann, dass wir dieses Grauen nicht stoppen können.
Menschen auszuhungern, ist typisch für autoritäre Regime, die die Vernichtung ihres Feindes anstreben. Man tötet sie nicht direkt, sodass man immer noch behaupten kann, sie seien an einer Krankheit gestorben.
Es ist dumm und rassistisch, das israelische Volk mit dem Regime zu verwechseln, das diese Gräueltaten begeht. Das wäre eine weitere Gräueltat. Viele denken, dass ein Volk, das sich nicht gegen ein mörderisches Regime auflehnt, pauschal schuldig ist. Dabei macht man sich nicht klar, dass es fast unmöglich ist, zu reagieren, wenn eine Regierung erst einmal die Polizei, die Armee, den Geheimdienst und die Mehrheit der Medien unter ihre Kontrolle gebracht hat. Man kann nicht erwarten, dass sich alle in Helden wie Alexej Nawalny oder den Antifaschisten Giacomo Matteotti verwandeln, die sich ihrer Regierung widersetzten, obwohl sie wussten, dass sie damit den Tod riskierten.
Übersetzung aus dem Italienischen von Gudrun Jäger.
Der Artikel ist am 04.08.2025 in der italienischen Tageszeitung Corriere della sera als „Uccidere con la fame è tipico dei regimi“ erschienen. Dacia Marainis Autobiografie ist 2025 unter dem Titel „Ein halber Löffel Reis – Kindheit in einem japanischen Internierungslager“ auf Deutsch erschienen.
Erstellungsdatum: 18.08.2025