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Laudatio zum Bettina-Brentano-Preis an Nadja Küchenmeister

Im Wirbel der Erinnerung

Beate Tröger


Nadja Küchenmeister. Foto: Dirk Skiba

Am 27. November 2025 wurde der Schriftstellerin Nadja Küchenmeister der mit 10.000 Euro dotierte Bettina-Brentano-Preis für Gegenwartslyrik überreicht. Die Jury schrieb dazu: „Köln, Berlin und Lissabon, das sind die Schauplätze in Nadja Küchenmeisters Gedichtband Der Große Wagen. Es sind Städte, die auf jeder Landkarte verzeichnet sind, Orte, die jeder zu kennen glaubt – in diesem eleganten und formvollendeten Langgedicht in zehn Teilen jedoch bergen sie Geheimnisse, denen man niemals ganz auf die Spur kommt.“ Beate Tröger hielt die Laudatio.

 

Kürzlich las ich am Beginn des Romans einer geschätzten Autorin folgende Sätze: „Erinnern ist wie eine Kachel bei Instagram, für die es mal mehr, mal weniger Likes gibt. Oder eben ein Gang durch ein Museum mit wechselnder Hängung.“ Mich irritierte diese Charakterisierung des Erinnerns, seine Einengung auf das Visuelle. Wo bleiben Geräusche und Klänge, Gerüche, wo das Gustatorische, das Taktile, etwa der Hauch eines Windes, die Berührung einer Hand? Der Vergleich des so beweglichen, bewegten und bewegenden Vorgangs des Erinnerns scheint mir mit einer Kachel bei Instagram, mit dem Flackernden, Fließenden und Unwillkürlichen des Erinnerns so gar nichts zu tun zu haben, wie das Verteilen von Likes.

Der Vorgang des Erinnerns ist komplexer. Das zeigt Nadja Küchenmeister in ihrem vierten Gedichtband Der Große Wagen, den wir heute mit dem Bettina-Brentano-Preis für Gegenwartslyrik auszeichnen. Der Band reiht sich ein in ein lyrisches Werk, dessen Formstrenge vom ersten Band an von extremer Wahrnehmungsgenauigkeit, von sorgfältigstem Wägen der Worte und großer Klarheit geprägt wird. Er setzt etwas fort, was schon mit dem ersten Band Alle Lichter im Jahr 2010 ansetzte: Die Erkundung des Erinnerns.

Die Fahndung der Verse nach dem, was Erinnern und Erinnerung sind oder sein könnten, was sie als Bewegung und als Konzept vermögen, ist immer schon da in Nadja Küchenmeisters Gedichten, auch in den Bänden Unter dem Wacholder und Im Glasberg, aber noch nie so eindrücklich wie in diesem, sodass ich an dieser Stelle einen der bedeutendsten literarischen Erinnerungstexte der Moderne ins Spiel bringen möchte, nämlich Marcel Prousts A la recherche du temps perdu. Der rund dreitausend Seiten umfassende Roman, der zwischen 1913 und 1927 entstanden ist, stellt sich der schier unlösbaren Aufgabe, vermittels der Erinnerung die Vergangenheit wiederzufinden.

In Prousts Recherche wird unterschieden zwischen der vorsätzlichen bzw. willkürlichen Erinnerung, der „mémoire volontaire“, und der „mémoire involontaire“, die sich zufällig, ausgelöst über einen Sinnesreiz, einstellt. Letztere wird in der Recherche erzeugt über den Biss des Erzählers in die sprichwörtlich gewordene Madeleine, die, in Lindenblütentee getaucht, einen Geschmack auslöst, der den Zugang zur verlorenen Vergangenheit derart herstellt, dass sie verlebendigt wiederzukehren scheint. In welcher Weise die Suche nach der verlorenen Zeit in Der Große Wagen vonstatten geht, darauf werde ich zurückkommen.

Wenngleich Schreiben und Erinnern grundsätzlich ohnehin untrennbar verbunden sind, nehmen viele große literarische Erinnerungsprojekte, mit denen sich Nadja Küchenmeister im Rahmen einer für das Berliner Literaturhaus konzipierten Reihe kuratorisch auseinandergesetzt hat, ihren Ausgang etwa nach der ersten Hälfte des Lebens ihrer Verfasser und nicht selten im Zusammenhang mit Krisen, mit Zeiten der Gefährdung, an Höhe- und Wendepunkten einer schwierigen Situation. Marcel Proust war 1913 42 Jahre alt, sein Leben ist von Beginn an, mit bereits in der Kindheit auftretendem Asthma, mit Neurasthenien und zahlreichen depressiven Episoden, höchst krisenhaft. Peter Kurzeck war bei Erscheinen von Übers Eis, dem ersten Band seines Erinnerungsprojektes Das alte Jahrhundert, sogar schon 54 Jahre alt, die Trennung von seiner Frau und der gemeinsamen Tochter Carina befeuerte seinen Wunsch, sich schreibend zu erinnern.

Auch bei Nadja Küchenmeister, die, geboren 1981 in Berlin, heute 44 Jahre alt ist, geht eine krisenhafte Erfahrung dem insistierenden Erinnern ihres jüngsten Gedichtbandes voraus. Er formuliert ebenfalls einen gewaltigen Anspruch, vergleichbar mit Peter Kurzeck, der sich „als Schriftsteller zuständig für die Vielfalt der Welt“ fühlte.

In Der Große Wagen heißt es:

ich sehe den großen wagen und alles, was war.

Die Krise resultierte aus der Erfahrung des Verlusts der Dichterfreundin Barbara Köhler, die im Januar 2021 im Alter von 61 Jahren nach langer Krankheit starb. Küchenmeister und Köhler, beide Dozentinnen an der Kölner Kunsthochschule für Medien, hatten zeitweise in Köln zusammen in einer Wohngemeinschaft gelebt. In memoriam Barbara Köhler hat Nadja Küchenmeister ihrem Band Verse der Verstorbenen als Motto vorangestellt:

was will ich noch, das halten soll

an welchem Leben

 

Das Verb „halten“ ließ mich an einen Vers aus Rainer Maria Rilkes Liebes-Lied denken:

 

wie soll ich meine Seele halten

daß sie nicht an deine rührt

 

Doch wo es bei Rilke um das Existenzial der Liebe geht, steht bei Köhler das ganze Leben auf dem Prüfstand, drängen sich Zweifel, Fragilität und Selbstbehauptung in diesen Versen zusammen, wirken sie umso drängender im Wissen um den eigenen Tod dieser Autorin.

Woran halten sich nun aber Nadja Küchenmeisters Verse in Der Große Wagen?

Sie halten sich zunächst einmal an die Form. Noch stärker als bei Jan Wagner, der davon spricht, die Form könne zu einem Korsett werden, in dem es sich besonders gut atmen lässt, wenn man sie nicht als Verpflichtung begreife, sondern als einen Prozess, der die bildliche und gedankliche Entwicklung des Gedichts lenke. Bei Küchenmeister ist die Form eine so drängende Verpflichtung, dass sie fast etwas Mönchisches ausstrahlt.

Alle zehn Zyklen in Der Große Wagen sind in exakt vierzig Terzetten organisiert, wie eine säkulare Form der benediktinischen Stundengebete, die den Tag in liturgische Einheiten gliedern: Matutin in der Nacht, Laudes am Morgen, Terz, Sext, Non am Vormittag und Nachmittag, Vesper am Abend und schließlich die Komplet vor der Nachtruhe. Wie im Kloster der ganze Tag durchbetet ist, sodass das Leben in steter Beziehung zu Gott steht, werden in Küchenmeisters formstrengen Dreizeilern Erlebnisse und Reflexionen eines Ichs gleichsam durchbetet und insistierend in Sprache eingehegt. „Seht her“, scheinen die Verse auf Barbara Köhlers Frage zu antworten, „wir halten uns ans Sprechen und das Sprechen hält uns.“

Nadja Küchenmeisters Verse halten die Konfrontation mit der Vergänglichkeit aus. Sie halten, indem sie etwas in der Sprache festhalten und aufheben – die verlorene Zeit, nach der auch Proust suchte:

 

dann stille, jede stunde, jede minute

jede sekunde war da, um zu verschwinden.

 

Die Verse halten Erinnerungsbilder aus, wie Fermaten bestimmte Töne in der Musik. Das gelingt ihnen nicht nur durch extreme Konzentration auf die Form, sondern auch auf die Wahrnehmung, die sich über ein bewusstes Verlangsamen herstellt.
In Der Große Wagen wird das Wort „erinnern“ einige Male direkt ausgesprochen. Gleich im ersten Zyklus heißt es:

 

am ende

 

erinnert man vielleicht nur einen punkt

eine dreckige dichte, den scheuerlappen

für die winterschuhe, das loch im eis

 

das man umkurvte, den puck,

den man darüber fegen ließ, und wie

man einen basketball versenkte

 

geschmack von eisen auf der zunge

die therme wurde repariert, sobald

der herbst begann die einzelteile

 

fügen sich nicht zusammen, rauschen

strom, dann stille, jede stunde, jede minute

jede sekunde war da um zu verschlingen

 

Ein weiteres Element befördert die Erinnerung, das der Analogie: Der zu einem Rund geknüllte Scheuerlappen, mit dem man die Winterschuhe reinigt, ist rund wie ein Loch im Eis, in dem man den ebenfalls runden Puck beim Eishockeyspiel versenkt hat. Gegen das Runde dieser Formen steht die reparierte Therme, steht der Geschmack von Eisen, der womöglich von deren verrosteten Rohren herrühren könnte, nichts Rundes also, und folglich heißt es:

 

die einzelteile fügen sich nicht zusammen.

 

Die Kontinuität der Erinnerung und ihre Brüchigkeit stehen hier nebeneinander.

Im zweiten Zyklus heißt es:

 

ans kommende jahrtausend, sie hämmern

und zimmern, ölen, sägen und schmieden

sie bohren und biegen, du pulst, derweil

 

sie schrauben und schnaufen, splitter

aus dem zeigefinger, ohne pinzette

etwas bleibt stecken, soll dich erinnern

 

an das werkstück der werkelnden kinder

im keller, an das schloss der kommode

von rost überzogen, an das federballset

 

und das autoquartett, an die kreide

in der stimme wenn es dunkel wird

im keller an erdnussflips, skat

 

und gummitwist, an den hamsterkäfig

von betty und wilma, an brausepulver

in der handinnenfläche, den widerhall

 

vom tennisball unter der treppen das klicken

einer gürtelschnalle, an schlitten, schlittschuhe

einmachgläser, an deine erste tischtenniskelle.

 

Die Geformtheit der Sprache in den Mikrostrukturen der Verse, in ihren Alliterationen, Konsonanten, Binnenreimen wie „federballset“ und „autoquartett“, stützt hier die Erinnerung an die Kindheit. Die Hamster, deren Namen der Fernsehserie Familie Feuerstein entstammen, die Angst vor dem bösen Wolf aus Grimms Märchen, der „Kreide in der Stimme“ hat, um die Geißlein zu betören, werden beim Lesen überlagert von Erinnerungen der Leser, eigenen Assoziationen. Ein eigenes Erinnerungsnetz des Lesers legt sich über das ausgespannte der Verse, und wie bei Proust ist die Erinnerung an die Wahrnehmung mit allen Sinnen gebunden.

Die Gedichte benennen alle Sinne, im Geschmack von Eisen, im Gefühl des Schmerzes, wo ein Splitter wie ein Stachel erinnernd im Fleisch steckt. Mit dem Bild des Splitters, der im Zeigefinger steckt, wird das schmerzlich Einschneidende des Erinnerns aufgerufen, aber das Sensorische und Olfaktorische sind mitgedacht – Blut hat ja einen Geruch. Assoziative Erinnerungsketten scheinen ihre Netze ins Dreidimensionale immer weiter und feiner auszufalten, so auch im vierten Zyklus, in dem das „erinnern“ erneut explizit wird:

 

                 warum pausieren

wenn der wind einen anhebt wie ein blatt

 

papier, ich erinnere mich an deine hände

möge man über hände sagen, was man will

aber deine hände auf dem tisch

 

im la muse gueule, und wie du deine finger

kuppe befeuchtest, bevor du dich der nächsten

seite widmest, deine hände, die mich halten

 

wie ein blatt papier, deine hände auf der tastatur

deine hände unter dem wasserstrahl, ein regen

in meinem badezimmer, morgens um vier.

 

In dieser mächtigen Ausfaltung kann das Erinnern zugleich aber wieder in zirkuläre Bewegungen geraten, wenn im IX. Zyklus vom Erinnern gesagt wird:

 

am ende erinnert man vielleicht den anfang

als wespe in der nacht, zwei fernseher, und wie

sie übereinander stehen im schlafzimmer der eltern

 

flackern, das ende hat etappen, man kann es biegen

und strecken, man kann es um ein ende ergänzen

aber am ende schwimmt das ende oben.

 

Indem wir mit den Versen aus Der Große Wagen einem sprechenden Ich zuhören, mitfühlen, mitschmecken, mitriechen und mitsehen, ergeben sich im Blick auf die Zeit einander zuwiderlaufende Bewegungen. Während die Erinnerungswirbel soghafter und schneller werden, die Fülle größer, verlangsamt sich die Zeit so sehr, dass sie fast stillzustehen scheint, was eine ambivalente Wirkung hat.

 

           was ich dir sagen möchte

lass uns langsamer gehen, und ich sage

 

lass uns bitte langsamer gehen, luft scheint

kaum zur verfügung, luft, wie ich sie kannte

kenne, wirbel, die neue wirbel ergeben

 

schwer zu fassen, wie atmet man denn bloß

wenn alles sich entfernt

 

Die Erinnerungen drehen sich im Kreis, sie tanzen, und hier gelangen wir in einen anderen religiösen Kontext, wie tanzende Derwische des Mevlevi-Ordens, die sich im Tanz in Trance versetzen, in einen spirituellen Zustand verfallen, ihre Konzentration so richten, dass sich ihr Denken entleert, sie offen werden für Gott. So gehören nicht nur Beschleunigen und Verlangsamen zusammen, es ergibt sich etwas spirituell Anmutendes: Dem erinnernden Sein als Sein in der Welt läuft in Der Große Wagen ein Sein aus der Welt parallel.

Doch auch wenn sich das Erinnern sich ausdehnend wieder in sich zusammenzuballen scheint – verhält es sich mit dem Vergessen etwas anders. Man kann es nicht aufheben, solange man sich erinnert, ihm ist nicht zu entkommen, solange man lebt. Immer wieder bin ich beim Lesen hängen geblieben an den folgenden Versen:

 

sind die toten erstmal tot, lassen

sie sich auch besuchen, in berlin

köln oder in der nähe von köln

 

das einzige, das noch herüberweht

ist dieser schrecken, und irgendwas

muss wehen, deine hände auf dem tisch

 

im la muse gueule, für einen augenblick

keine idee, was eine pfeffermühle ist

früher reichte man kuchen und kaffee

 

jetzt schweigt man ohne mund

und komma, das vibrieren der vitrinen

die zunge in der cola-flasche

 

der teppich, kurzflor, voller hunde

haare, man kann die toten nicht vergessen

aber die toten vergessen uns

 

und es waren vor allem diese Verse:

 

man kann die toten nicht vergessen,

aber die toten vergessen uns,

 

an die ich immer wieder denke, seit ich Der Große Wagen gelesen habe. Robert Gernhardt hätte diese Verse in ihrer Prägekraft eine Hammerzeile genannt.

Diese Verse schenken in einer genauen, klaren und ungeschminkten Sprache reinen Wein ein, was die Begrenztheit und das Sisyphushafte des Menschseins betrifft.

Wie kann man sich darüber hinwegtrösten? Vielleicht, indem man der Toten in einer Weise gedenkt, die ihnen gerecht wird. Und so möchte ich schließen mit einem Gedicht von Barbara Köhler, die Zeit ihres Lebens viele jüngere Dichterinnen und Dichter gefördert hat. Du, liebe Nadja, wirst Deine Freundin damit vielleicht noch einmal für einen Moment in der Erinnerung wiedertreffen, und ich kann mir gut vorstellen, wie froh sie heute mit Dir wäre, sie würde Dir sicherlich freudig gratulieren, was auch ich an dieser Stelle tue, im Namen meiner MitjurorInnen Barbara Bingel und Jan Wilm.

Barbara Köhlers Gedicht ist ursprünglich ein Liebesgedicht, aber zugleich eines, das davon spricht, dass man sich wiederbegegnen kann, wenn nicht im Leben, so doch im Traum, dessen Sprache der poetischen ja aufs Engste verwandt ist:

 

Möbel

 

Alles Verläßliche verlassen,
die benutzten Sätze, das Besagte
verschweigen bis es geht,
bis zu den Dingen geht,
die im Raum stehen unbewegt:
der Tisch
die zwei Stühle
das Bett.
Hinaus gehen, die Tür schließen, die Dinge
stehen lassen für sich,
dir zu.

So wird alles anders,
so wird es Zeit:
wir begegnen im Anderen
einander, ein andermal
öffnet sich so die Tür,
wir sitzen auf den Stühlen, am Tisch,
auf dem Bett träumen wir
noch einmal das Holz zurück
in die Wälder.

 

Herzlichen Glückwunsch, liebe Nadja Küchenmeister, zum Bettina-Brentano-Preis 2025!

 

 

 

Nadja Küchenmeister
Der Große Wagen
Gedicht
96 Seiten
Gebunden
ISBN 978-3-89561-413-2
Schöffling & Co.

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Erstellungsdatum: 09.12.2025