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Vor 100 Jahren startete das Projekt „Neues Frankfurt“

In Rekordzeit errichtet

Doris Stickler


Gebäude in der Römerstadt. Foto: Christos Vittoratos. Wikimedia commons

Nicht nur das Bauhaus setzte in Sachen Architektur und Design bleibende Zeichen. Das Projekt „Neues Frankfurt“ zählt ebenfalls zur Avantgarde der Klassischen Moderne und erntete mit seinen gestalterischen Vorstößen weltweit Resonanz. Doris Stickler skizziert die Entwicklung des vor 100 Jahren gestarteten Programms, das einer neuen Epoche des Städtebaus Bahn gebrochen hat.

 

Wenn von architektonischen Glanzleistungen die Rede ist, denken wohl die wenigsten Menschen an sozialen Wohnungsbau. Wer in Frankfurt durch die Siedlungen von Ernst May spaziert, wird eines Besseren belehrt. Was hier zwischen 1925 und 1930 unter der Ägide des damaligen Stadtbaurats entstand, ist Architekturgeschichte geworden. Im Rahmen des Projekts „Neues Frankfurt“ wurden mehr als 12.000 Wohnungen gebaut, die bis heute als herausragende Beispiele der frühen Moderne gelten und in dem Bereich wegweisende Maßstäbe setzten.

Während man andernorts den explodierenden Bevölkerungszahlen mit gesichtslosen Mietskasernen begegnete, überzeugte Ernst May nicht allein mit bestechender Ästhetik. Durch den Einsatz vorgefertigter Bauteile, optimierter Grundrisse und aufgelockerter Zeilenbauweise schuf er großzügige und von Licht durchflutete Unterkünfte, die für Mieter mit kleinem Einkommen erschwinglich waren. Ein geradezu revolutionärer Schritt in einer Zeit, in der Heinrich Zille angesichts feuchter, dunkler und enger Arbeiterbehausungen feststellen musste: „Man kann mit einer Wohnung einen Menschen genauso gut töten, wie mit einer Axt.“

Dass Ernst May in Frankfurt sein Credo „Wir brauchen Luft und Sonne“ buchstäblich in Stein meißeln konnte, lag an der Weitsicht von Oberbürgermeister Ludwig Landmann. Mit einem als gesellschaftliche Reformbewegung verstandenen Programm brachte er in vielen Bereichen die städtische Entwicklung wie kein anderer voran. Um den elenden Wohnverhältnissen der weniger Begüterten ein Ende zu setzen, holte er Ernst May in die Stadt und gewährte ihm als Hochbau- und Siedlungsamtsleiter freie Hand.

Damit ebnete Ludwig Landmann den Weg für ein einzigartiges Modell sozialdemokratischer Planungs- und Sozialpolitik. Dazu gehörte unter anderem, in eigens gegründeten Gesellschaften Menschen ohne Arbeit eine Beschäftigung zu verschaffen. Die nationale wie internationale Aufmerksamkeit, die das vielschichtige Projekt „Neues Frankfurt“ auf sich zog, war entsprechend groß. Neben den in Rekordzeit errichteten Siedlungen wurden auch viele öffentliche Gebäude und Einzelbauten wie etwa die Großmarkthalle, das IG-Farben-Haus, das Palmengartengebäude sowie Schulen realisiert.

Über die Wohnsiedlungen breitete das Denkmalamt leider erst in den 1970er Jahren seine schützenden Hände aus. Zahlreiche Häuser des bauhistorischen Schatzes waren da schon verkauft und nicht gerade im Sinne des „Neuen Frankfurt“ umgestaltet worden. Da an der Siedlung Römerstadt der Kelch der Privatisierung vorbeigegangen war schritten engagierte Kunsthistoriker:innen und Architekt:innen dort zur Tat. Sie riefen die „ernst-may-gesellschaft“ ins Leben und versetzten ein zweistöckiges Reihenhaus, dem einschließlich der „Frankfurter Küche“ größere Eingriffe erspart geblieben waren, bis hin zu den Türbeschlägen wieder in den ursprünglichen Zustand zurück. Das galt auch für den Garten, in dem wieder die für damals typischen Obst- und Gemüsesorten wachsen.

Das Musterhaus wurde in den Stadtführern umgehend als Sehenswürdigkeit aufgelistet. Der Rundgang über die etwa 90 Quadratmeter umfassende und authentisch möblierte Wohnfläche ist in der Tat ein Erlebnis. Das kleine Museum führt zum einen plastisch vor Augen, wie Familien in den 1920er Jahren lebten – zumindest jene, die das Glück hatten, ein May-Domizil zu ergattern. Zum anderen überrascht die frappierende Modernität des Interieurs. Abgesehen vom Kohleherd in der Küche dürften zeitgenössische Mieter:innen am gebotenen Komfort wenig auszusetzen haben.

Neben geräumigen Zimmern, Balkons oder Dachterrassen verfügen alle Wohnungen über Annehmlichkeiten, die zu Zeiten der Weimarer Republik allenfalls im großbürgerlichen Umfeld zu finden waren: Zentralheizung, Bad und Strom. Die 1928 fertig gestellte Römerstadt war deutschlandweit die erste vollelektrifizierte Siedlung. Ein umfangreiches Fotoarchiv, historisches Filmmaterial und vielerlei Dokumente finden die aus aller Welt anreisenden Besucher:innen im Musterhaus ebenfalls. 2023 hat die Geschäftsführerin der „ernst-may-gesellschaft“, Christina Treutlein, über 2.600 Gäste gezählt. Unter ihnen seien stets auch „viele Studierende, die sich von den Ideen des „Neuen Frankfurt“ inspirieren lassen“. Denn auch in Sachen Ausstattung setzte Ernst May Zeichen. Neben renommierten Architektur-Kolleg:innen holte er einen Stab namhafter Designer und Künstler der Avantgarde an den Main. Der Wiener Architekt Franz Schuster etwa entwarf für das Konzept des neuen Wohnens funktionale Möbelelemente, die den Bewohnern eine gleichermaßen individuelle wie preiswerte Einrichtung erlaubten. Als ausgesprochener Glücksfall sollte sich die Berufung von Margarete Schütte-Lihotzky erweisen. Die österreichische Architektin konzipierte die bis ins kleinste Detail durchdachte „Frankfurter Küche“.


Frankfurter Küche, Festung Ehrenbreitstein, Koblenz. Foto: Marion Halft. Wikimedia commons

 

Wie im hiesigen Museum Angewandte Kunst ist die „Mutter aller Einbauküchen“ längst weltweit in den Sammlungen namhaften Museen präsent. Anlässlich der 40-jährigen Städtepartnerschaft übergab die Stadt im vergangenen Herbst eine „Frankfurter Küche“ dem Max-Liebling-Haus in Tel Aviv, einem Zentrum für Denkmalschutz und Architektur. Die in Frankfurt zu findende Konzentration einer bahnbrechenden Architektur und Gestaltung ist einzigartig und lockt nach wie vor Menschen aus aller Herren Länder an.

Selbst in Sachen Begrünung besitzt das Projekt „Neues Frankfurt“ eine Vorreiterfunktion. Es sorgte für Wohnverhältnisse, von denen die unter wachsender Überhitzung leidenden Stadtbewohner:innen heute nur träumen können. Jedes Reihenhaus hatte einen kleinen Garten, zudem wurden zwischen den Siedlungen Grünflächen angelegt, die zum Teil die Grundlage des heutigen Grüngürtels bildeten. Im Programm „Neues Frankfurt“ räumten Ludwig Landmann und Ernst May nicht zuletzt den sozialen Aspekte eine tragende Rolle ein.

In einem Wochenschau-Beitrag aus den 1950er Jahren schrieb Ernst May dem modernen Städtebau die Aufgabe zu, „die unübersehbaren Häusermeere, wie sie vorwiegend im Zeitalter der Industrialisierung entstanden, aufzulockern“ und „wieder das soziale Zusammengehörigkeitsgefühl des Menschen zu wecken“. „Erst dann wird die Großstadt wieder eine wahre Heimat des Menschen werden.“ Diese städtebaulichen Visionen zu realisieren hatten er und Ludwig Landmann in einem weitaus größeren Umfang geplant.

Legte die Weltwirtschaftskrise der Umsetzung bereits Zügel an, versetzte der aufkommende Nationalsozialismus dem „Neuen Frankfurt“ dann den Todesstoß. Seit den Kommunalwahlen 1928 im Stadtparlament vertreten, attackierte die NSDAP mit Verweis auf ihre jüdische Herkunft den Oberbürgermeister und den Stadtbaurat nicht nur auf persönlicher Ebene. Sie schaffte es auch, für das Projekt eine rigide Sparpolitik durchzusetzen. Mit der Machtergreifung Hitlers 1933 war mit dem „Neuen Frankfurt“ dann endgültig Schluss.

Erstellungsdatum: 17.02.2025