Nicht nur das Bauhaus setzte in Sachen Architektur und Design bleibende Zeichen. Das Projekt „Neues Frankfurt“ zählt ebenfalls zur Avantgarde der Klassischen Moderne und erntete mit seinen gestalterischen Vorstößen weltweit Resonanz. Doris Stickler skizziert die Entwicklung des vor 100 Jahren gestarteten Programms, das einer neuen Epoche des Städtebaus Bahn gebrochen hat.
Wenn von architektonischen Glanzleistungen die Rede ist, denken wohl die wenigsten Menschen an sozialen Wohnungsbau. Wer in Frankfurt durch die Siedlungen von Ernst May spaziert, wird eines Besseren belehrt. Was hier zwischen 1925 und 1930 unter der Ägide des damaligen Stadtbaurats entstand, ist Architekturgeschichte geworden. Im Rahmen des Projekts „Neues Frankfurt“ wurden mehr als 12.000 Wohnungen gebaut, die bis heute als herausragende Beispiele der frühen Moderne gelten und in dem Bereich wegweisende Maßstäbe setzten.
Während man andernorts den explodierenden Bevölkerungszahlen mit gesichtslosen Mietskasernen begegnete, überzeugte Ernst May nicht allein mit bestechender Ästhetik. Durch den Einsatz vorgefertigter Bauteile, optimierter Grundrisse und aufgelockerter Zeilenbauweise schuf er großzügige und von Licht durchflutete Unterkünfte, die für Mieter mit kleinem Einkommen erschwinglich waren. Ein geradezu revolutionärer Schritt in einer Zeit, in der Heinrich Zille angesichts feuchter, dunkler und enger Arbeiterbehausungen feststellen musste: „Man kann mit einer Wohnung einen Menschen genauso gut töten, wie mit einer Axt.“
Dass Ernst May in Frankfurt sein Credo „Wir brauchen Luft und Sonne“ buchstäblich in Stein meißeln konnte, lag an der Weitsicht von Oberbürgermeister Ludwig Landmann. Mit einem als gesellschaftliche Reformbewegung verstandenen Programm brachte er in vielen Bereichen die städtische Entwicklung wie kein anderer voran. Um den elenden Wohnverhältnissen der weniger Begüterten ein Ende zu setzen, holte er Ernst May in die Stadt und gewährte ihm als Hochbau- und Siedlungsamtsleiter freie Hand.
Damit ebnete Ludwig Landmann den Weg für ein einzigartiges Modell sozialdemokratischer Planungs- und Sozialpolitik. Dazu gehörte unter anderem, in eigens gegründeten Gesellschaften Menschen ohne Arbeit eine Beschäftigung zu verschaffen. Die nationale wie internationale Aufmerksamkeit, die das vielschichtige Projekt „Neues Frankfurt“ auf sich zog, war entsprechend groß. Neben den in Rekordzeit errichteten Siedlungen wurden auch viele öffentliche Gebäude und Einzelbauten wie etwa die Großmarkthalle, das IG-Farben-Haus, das Palmengartengebäude sowie Schulen realisiert.
Über die Wohnsiedlungen breitete das Denkmalamt leider erst in den 1970er Jahren seine schützenden Hände aus. Zahlreiche Häuser des bauhistorischen Schatzes waren da schon verkauft und nicht gerade im Sinne des „Neuen Frankfurt“ umgestaltet worden. Da an der Siedlung Römerstadt der Kelch der Privatisierung vorbeigegangen war schritten engagierte Kunsthistoriker:innen und Architekt:innen dort zur Tat. Sie riefen die „ernst-may-gesellschaft“ ins Leben und versetzten ein zweistöckiges Reihenhaus, dem einschließlich der „Frankfurter Küche“ größere Eingriffe erspart geblieben waren, bis hin zu den Türbeschlägen wieder in den ursprünglichen Zustand zurück. Das galt auch für den Garten, in dem wieder die für damals typischen Obst- und Gemüsesorten wachsen.
Das Musterhaus wurde in den Stadtführern umgehend als Sehenswürdigkeit aufgelistet. Der Rundgang über die etwa 90 Quadratmeter umfassende und authentisch möblierte Wohnfläche ist in der Tat ein Erlebnis. Das kleine Museum führt zum einen plastisch vor Augen, wie Familien in den 1920er Jahren lebten – zumindest jene, die das Glück hatten, ein May-Domizil zu ergattern. Zum anderen überrascht die frappierende Modernität des Interieurs. Abgesehen vom Kohleherd in der Küche dürften zeitgenössische Mieter:innen am gebotenen Komfort wenig auszusetzen haben.
Neben geräumigen Zimmern, Balkons oder Dachterrassen verfügen alle Wohnungen über Annehmlichkeiten, die zu Zeiten der Weimarer Republik allenfalls im großbürgerlichen Umfeld zu finden waren: Zentralheizung, Bad und Strom. Die 1928 fertig gestellte Römerstadt war deutschlandweit die erste vollelektrifizierte Siedlung. Ein umfangreiches Fotoarchiv, historisches Filmmaterial und vielerlei Dokumente finden die aus aller Welt anreisenden Besucher:innen im Musterhaus ebenfalls. 2023 hat die Geschäftsführerin der „ernst-may-gesellschaft“, Christina Treutlein, über 2.600 Gäste gezählt. Unter ihnen seien stets auch „viele Studierende, die sich von den Ideen des „Neuen Frankfurt“ inspirieren lassen“. Denn auch in Sachen Ausstattung setzte Ernst May Zeichen. Neben renommierten Architektur-Kolleg:innen holte er einen Stab namhafter Designer und Künstler der Avantgarde an den Main. Der Wiener Architekt Franz Schuster etwa entwarf für das Konzept des neuen Wohnens funktionale Möbelelemente, die den Bewohnern eine gleichermaßen individuelle wie preiswerte Einrichtung erlaubten. Als ausgesprochener Glücksfall sollte sich die Berufung von Margarete Schütte-Lihotzky erweisen. Die österreichische Architektin konzipierte die bis ins kleinste Detail durchdachte „Frankfurter Küche“.
Wie im hiesigen Museum Angewandte Kunst ist die „Mutter aller Einbauküchen“ längst weltweit in den Sammlungen namhaften Museen präsent. Anlässlich der 40-jährigen Städtepartnerschaft übergab die Stadt im vergangenen Herbst eine „Frankfurter Küche“ dem Max-Liebling-Haus in Tel Aviv, einem Zentrum für Denkmalschutz und Architektur. Die in Frankfurt zu findende Konzentration einer bahnbrechenden Architektur und Gestaltung ist einzigartig und lockt nach wie vor Menschen aus aller Herren Länder an.
Selbst in Sachen Begrünung besitzt das Projekt „Neues Frankfurt“ eine Vorreiterfunktion. Es sorgte für Wohnverhältnisse, von denen die unter wachsender Überhitzung leidenden Stadtbewohner:innen heute nur träumen können. Jedes Reihenhaus hatte einen kleinen Garten, zudem wurden zwischen den Siedlungen Grünflächen angelegt, die zum Teil die Grundlage des heutigen Grüngürtels bildeten. Im Programm „Neues Frankfurt“ räumten Ludwig Landmann und Ernst May nicht zuletzt den sozialen Aspekte eine tragende Rolle ein.
In einem Wochenschau-Beitrag aus den 1950er Jahren schrieb Ernst May dem modernen Städtebau die Aufgabe zu, „die unübersehbaren Häusermeere, wie sie vorwiegend im Zeitalter der Industrialisierung entstanden, aufzulockern“ und „wieder das soziale Zusammengehörigkeitsgefühl des Menschen zu wecken“. „Erst dann wird die Großstadt wieder eine wahre Heimat des Menschen werden.“ Diese städtebaulichen Visionen zu realisieren hatten er und Ludwig Landmann in einem weitaus größeren Umfang geplant.
Legte die Weltwirtschaftskrise der Umsetzung bereits Zügel an, versetzte der aufkommende Nationalsozialismus dem „Neuen Frankfurt“ dann den Todesstoß. Seit den Kommunalwahlen 1928 im Stadtparlament vertreten, attackierte die NSDAP mit Verweis auf ihre jüdische Herkunft den Oberbürgermeister und den Stadtbaurat nicht nur auf persönlicher Ebene. Sie schaffte es auch, für das Projekt eine rigide Sparpolitik durchzusetzen. Mit der Machtergreifung Hitlers 1933 war mit dem „Neuen Frankfurt“ dann endgültig Schluss.
In seiner Geburtsstadt Frankfurt arbeitete Ernst May bis 1914 als freier Architekt. Nach dem Ersten Weltkrieg verschlug es den 32-Jährigen nach Breslau, bis ihn Ludwig Landmann 1925 wieder nach Frankfurt holte und mit der gesamten Bauplanung einschließlich Garten- und Friedhofswesen betraute. Das innovative Wohnungsbauprogramm „Neues Frankfurt“ setzte Ernst May nicht nur unter architektonischen, sondern auch sozialpolitischen Aspekten um. So senkte er mit der Bauteiltypisierung beachtlich die Kosten, achtete auf die Auftragsvergabe an lokale Firmen und die Beschäftigung von Arbeitslosen. Zur Begleitung der Bauprojekte gab er ab 1926 die Zeitschrift „Das Neue Frankfurt“ heraus, in der er über seine wegweisenden Wohn- und Gestaltungsvorstellungen informierte.
Aufgrund der zunehmenden Attacken und Blockierungen seitens der Nationalsozialisten zog sich Ernst May 1930 aus dem Projekt „Neues Frankfurt“ zurück. Er folgte zunächst einer Einladung in die Sowjetunion, um Arbeitersiedlungen zu bauen, war jedoch bald von den Versprechungen Stalins desillusioniert. Da ihm 1933 als so genannter „Halbjude“ eine Rückkehr nach Deutschland nicht möglich war, verschlug es ihn nach Ostafrika. Dort widmete er sich anfangs dem Anbau von Kaffee und Getreide, 1937 zog es ihn aber wieder zur Architektur. In Kenias Hauptstadt Nairobi eröffnete Ernst May dann ein Büro. Nach Kriegsbeginn 1939 wurde er von den britischen Kolonialherren verdächtigt, ein Antisemit und als Nazispion in Russland tätig gewesen zu sein. Die absurden Anschuldigungen führten zu einer zweijährigen Internierung in der Südafrikanischen Union.
Nach der Befreiung Deutschlands kehrte Ernst May in sein Heimatland zurück und wirkte am Wiederaufbau mit. Bis zehn Tage vor seinem Tod 1970 beruflich aktiv, konzipierte er unter anderem in Hamburg und Bremen große Siedlungen, lehrte als Honorarprofessor an der Technischen Hochschule in Darmstadt und setzte sich in Wiesbaden für die Durchgrünung des Wohnraums ein. Die Nassauischen Heimstätten, denen ein Teil der Frankfurter May-Siedlungen gehören und die Fördermitglied der „ernst-may-gesellschaft“ sind, vergeben seit 1988 den Ernst-May-Preis für einen besonders sozial orientierten Wohnungs- und Städtebau an Architektur-Student:innen der Darmstädter TU. In Frankfurt ist seit 1995 in der von Ernst May gebauten Siedlung Bornheimer Hang der zentrale Platz nach ihm benannt.
Bereits in seiner Geburtsstadt Mannheim hatte es den Rechts- und Wirtschaftswissenschaftler Ludwig Landmann als persönlicher Referent des Oberbürgermeisters in die Politik verschlagen. 1917 wechselte er nach Frankfurt, um als Dezernenten für Wirtschaft, Verkehr und Wohnungswesen zu wirken. In dieser Funktion brachte er mit seinen weitsichtigen kommunalpolitischen Konzeptionen die Wirtschaftspolitik, den Wohnungsbau und das Siedlungswesen enorm voran. So belebte Ludwig Landmann wieder die an einen Tiefpunkt gelangten Internationalen Messen und den Handel, ließ am Rebstock einen Linienflughafen errichten, gründete Wohnungsbaugesellschaften und erstellte Pläne für den Bau von Sportstätten, Schulen und Krankenhäusern. Seine Leistungen wurden 1924 mit der Wahl zum Oberbürgermeister honoriert. Der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) angehörend, trieb der damals 55-Jährige neben bis heute das Stadtbild prägenden Gebäuden wie Großmarkthalle oder IG-Farben-Haus den Bau von Siedlungen voran. Um die weniger wohlhabende Menschen aus ihren elenden Wohnverhältnissen zu befreien, brachte er mit Ernst May das Programm „Neues Frankfurt“ auf den Weg.
Als der renommierte Architekt fünf Jahre später die Stadt verließ, weil die Nationalsozialisten die Umsetzung des städtebaulichen Vorzeigeprojekts immer heftiger sabotierten, setzte es Ludwig Landmann im Rahmen der ihm verbliebenen Möglichkeiten fort. Nach der Machtergreifung 1933 jagten die Frankfurter NS-Schergen den „Juden Landmann“ schließlich aus dem Amt. Hoffend, in der Anonymität der Großstadt Schutz zu finden, ging er zuerst nach Berlin. Kurz vor Kriegsbeginn flüchtete Ludwig Landmann in die Niederlande. Nach dem deutschen Einmarsch 1940 entging er durch die Hilfe von Freunden der Deportation, starb aber vor Kriegsende 1945 an Herzmuskelschwäche und Unterernährung.
Was Ludwig Landmann für Frankfurt getan hat, blieb in der städtischen Wahrnehmung lange Zeit außen vor. Erst 1987 wurde für seine sterblichen Überreste ein Ehrengrab auf dem Hauptfriedhof angelegt, zwei Jahre später an seinem Wohnhaus am Schaumainkai eine Gedenktafel angebracht. Um die Erinnerung an das visionäre Stadtoberhaupt wach zu halten, stiftete die „Gesellschaft der Freunde und Förderer des Jüdischen Museums Frankfurt“ 2019 den „Ludwig-Landmann-Preis für Mut und Haltung“, der 2021 erstmals verliehen wurde. Im gleichen Jahr wurde der Magistratssitzungssaal im Römer nach Ludwig Landmann benannt. Oberbürgermeister Mike Josef erinnerte bei seiner Amtsübernahme 2023 an die großen Verdienste seines Vorgängers und ließ keinen Zweifel, dass Ludwig Landmann die Stadt weit vorangebracht hat. „Von seinen Entscheidungen profitieren wir noch heute.“
Hinweis:
Erstellungsdatum: 17.02.2025