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Micha Brumlik war eine öffentliche Person, ein streitbarer Intellektueller, der Auseinandersetzungen nicht aus dem Weg ging, sondern reflektiert auf die Widersprüche zusteuerte. Das konnte niemandem, der ihn auf den Podien diskutieren, ja einschreiten sah, entgangen sein. Bis 2013 hatte er als Erziehungswissenschaftler eine Professur an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt inne, war ein Dutzend Jahre als Frankfurter Stadtverordneter tätig und wurde als Publizist geschätzt. Frank-Olaf Radtke erinnert an Micha Brumlik.
Als er nach seinem spektakulären Engagement (buchstäblich ‚auf den Barrikaden‘ !) gegen die Zerstörung archäologischer Kostbarkeiten des vormaligen jüdischen Ghettos, die bei Bauarbeiten auf dem Börneplatz gefunden worden waren, in Frankfurt am Main 1989 zum grünen Stadtverordneten gewählt wurde und dort, bis zu seinem wütendem Austritt aus der Partei, viele Jahre die Ebenen des lokalen Parlamentarismus durchschritten hatte, schrieb Micha Brumlik in seinen frühen autobiographischen Notaten (1996), seine Zeit als Kommunalpolitiker sei gleichwohl eine Zeit gewesen, die er nicht missen mochte, „vor allem deshalb, weil ich in den beinahe acht Jahren meiner politischen Arbeit in der Grünen-Fraktion – mit Ausnahme der Zeit des zweiten Golfkrieges – den Eindruck haben durfte, mit meinen politischen Schwächen und Stärken als der, der ich bin, und nicht als ‚Jude‘ wahrgenommen zu werden“. Und er fährt fort: „Noch meine schlimmsten Konflikte und Niederlagen etwa im kulturpolitischen Bereich konnte ich in dieser Hinsicht als Gewinn ansehen: ein Feld öffentlicher Auseinandersetzung, in dem mein Judentum endlich einmal keine Rolle spielte...“
Micha Brumlik war freilich durch sein stadt- und bundesweit wahrgenommenes Engagement, wie er selbst bemerkt, „endgültig zu dem geworden, was man als einen ‚öffentlichen Juden‘ bezeichnen könnte, also als eine Gestalt, an die sich jene Kreise der vor allem gebildeten deutschen Bevölkerung halten konnten, die entweder ein ernsthaftes oder ein projektives Interesse daran hatten, sich mit dem Schicksal der Juden unter dem Nationalsozialismus auseinanderzusetzen.“ Er nahm die Rolle des „Dialogpartners“ an, war geschmeichelt von den vielen Einladungen zu Vorträgen, Podiumsdiskussionen, Radio- und Fernsehinterviews, sah aber mit Blick auf die Öffentlichkeit doch klar, „daß die Ehre entsprechender Einladungen (…) meist dieselben zehn bis fünfzehn Personen trifft (er nennt sie beim Namen, FOR), die ihre Rolle mit unterschiedlichem Akzent spielen (…) – wie Schurken und Helden beim Showcatchen – fest umschriebene Rollen, auf deren Erfüllung das jeweilige Publikum sorgfältig achtet.“ Der „hohl gewordene Titel ‚unbequem‘ ist uns allemal sicher“, ihm selbst, der auch als „oppositioneller Jude“ gegen das Establishment des Zentralrats wahrgenommen wurde, sei „die Rolle eines der Form nach oft aggressiven, aber doch im Kern sachlichen und um Authentizität bemühten ‚Gesprächspartners‘ zugedacht“, die er seit 1981 als Professor für Sozialpädagogik mit der Dignität des Amtes ausführen konnte. 2016 hat dann der Deutsche Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (DKR) Micha Brumlik mit der Buber-Rosenzweig-Medaille ausgezeichnet und „damit seinen jahrzehntelangen publizistischen und pädagogischen Einsatz für eine offene, von gegenseitigem Respekt geprägte Begegnung zwischen Juden und Christen“ gewürdigt.
Eine erste, folgenreiche fachliche Begegnung hatten wir, als ich Micha Brumlik als Referenten zu einer großen internationalen Tagung nach Bielefeld ins Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZIF) eingeladen hatte. Es ging aus wissenssoziologischer Perspektive um den „Beitrag der Wissenschaften zur Konstruktion ethnischer Minderheiten“. Micha hielt einen Vortrag über „Die Entwicklung der Begriffe ‚Rasse‘, ‚Kultur‘ und ‚Ethnizität‘ im sozialwissenschaftlichen Diskurs“, dessen letzte Sätze mich, als ich die Publikation vorbereitete (Dittrich/Radtke 1990), nachhaltig irritierten, herausforderten und über Jahre beschäftigen sollten.
Aber, von vorne. Mit seinem Referat hatte Micha auf gerade mal zehn Seiten in einem Parforceritt das Programm skizziert, das er Jahre später in seinem in mehreren Auflagen erschienenen Werk „Deutscher Geist und Judenhass. Das Verhältnis des philosophischen Idealismus zum Judentum“ (zuletzt 2022) gründlich ausarbeiten sollte. In dem hier in Rede stehenden Text kommt er nach Herder, Hegel, Dilthey, Cassirer, Scheler, Plessner und Gehlen, um nur einige zu nennen, ausführlich auf Max Weber zu sprechen. Dessen radikal-konstruktivistischer Einsatz aus „Wirtschaft und Gesellschaft“ zum Gegenstand „Ethnische Gemeinschaftsbeziehungen“, die Weber nur als „subjektiv geglaubte Gemeinschaften“ gelten lässt, hatte für mich mit seiner universalistischen, anti-essentialistischen Ausrichtung bis dahin geradezu katechetische Bedeutung.
Micha aber setzte später an, und las in Webers Vorbemerkung zur „Protestantischen Ethik“ eine Passage, in der „nicht mehr und nicht weniger als die Möglichkeit diskutiert (werde), den okzidentalen Rationalismus rassenneurologisch zu erklären…“; er referierte danach zustimmend Webers Ausführungen zum „ethnischen Gemeinschaftsglauben“, um dann mit einem mächtigen „Indessen“ einen neuen Abschnitt einzuleiten, indem das, was gerade noch plausibel erschien, gründlich wieder infrage gestellt wird. Das ist ein wiederkehrend charakteristisches Merkmal von Michas Rhetorik, in der mündlichen Rede noch prägnanter vorgetragen als sonores „Indes:“ Nichts ist eindeutig, es gib immer ein „freilich“ oder „obschon“.
Webers Dekomposition des ethnischen Gemeinschaftsglauben sei unvollständig, „da er auf das Gegenbild echter Gemeinschaft nicht verzichten möchte“, sein radikaler Konstruktivismus breche sich „an einem durchaus für die Zeit typischen Problem – der ‚Judenfrage‘“. Es zeige sich, „daß Webers Theorie der Ethnizität kaum anderes darstellt als eine Kritik des für ihn zeitgenössischen Judentums, dem er vorsorglich eine Ethnizität absprechen wollte, (…) dem er (…) allenfalls eine erstarrte Form verspäteter Konfessionalität zubilligen möchte“. Und dann kommt der letzte, meine Gewissheiten irritierende Satz: „Was immer uns die Geschichte von Webers Ethnizitätslehre mit ihrem radikalen Konstruktivismus sonst noch lehren mag, folgendes scheint zu gelten: wer dekonstruiert, möchte auch assimilieren!“ Das zielte nun nicht mehr auf Weber, sondern auf mich, auf das Konzept der Tagung, auf meine Kritik an allen Formen der ethnischen Selbstidentifikation und Mobilisierung, all dessen also, was später als Identitätspolitik kritisiert werden wird, damals exemplarisch am gerade modischen ‚Multikulturalismus‘.
Die Invektive musste mir zu denken geben, ich sollte begreifen, dass endgültig nach der Shoa Assimilation als Bedrohung gelten musste, dass die (Kinder der) Überlebenden nicht nur als Menschen, sondern als Juden wahrgenommen und anerkannt werden wollten, dass, wie Micha in seiner Biographie schreibt, ihn „nur ein bewußt aufrechterhaltenes, wenn auch nicht gelebtes Judentum vor den Gefahren der Assimilation und des Zionismus bewahren konnte“. Gibt es, braucht es so etwas wie ein Recht auf „echte Gemeinschaft“? Michas „Ausweg“ war erst der Zionismus, dann der Anti-Zionismus und schließlich die „undogmatische Linke“.
Auch Ernst Tugendhat berichtete in einem älteren Interview mit der TAZ positiv von seinen Erfahrungen an der Heidelberger Universität in den 1968er Jahren: „Man hat mich als normalen Menschen behandelt! Wir Professoren haben uns einfach gestritten. Meine Kollegen verhielten sich weder antisemitisch noch philosemitisch.“ Auch wir in Frankfurt haben uns immer wieder heftig gestritten, dann war’s aber auch wieder gut. Wie kann man als Nicht-Jude mit dieser Ambivalenz angemessen umgehen? Ich hoffe, es ist uns in den mehr als zehn Jahren unserer gemeinsamen Tätigkeit an der Johann Wolfgang Goethe-Universität irgendwie gelungen.
Erstellungsdatum: 18.11.2025