Auf dem Pariser Friedhof Montparnasse
Die Nouvelle Vague hat ihre Toten, soweit sie in Paris verblieben, in die drei Prominentenfriedhöfe gespült. Viele von ihnen auf den Cimetière du Montparnasse, wo sie unsortiert und ohne Drehbuch in den stummen Rollen ihres Nachruhms verharren. Sie, die das Kino mit ihren Meisterwerken erneuert haben, sind dort verstreut und wollen gefunden werden. Rainer Erd bietet sich für eine cineastische Friedhofsführung an.
Wer den Pariser Friedhof Montparnasse im Süden der Stadt durch das Hauptportal vom Boulevard Edgar Quinet aus betritt, trifft nach wenigen Schritten auf der linken Seite auf ein Grab, das seit Jahren mit Fotos einer Frühverstorbenen und mit Blumen geschmückt ist. Seit mehr als vierzig Jahren liegt dort eine amerikanische Schauspielerin begraben, die unter mysteriösen Umständen im Alter von vierzig Jahren ums Leben gekommen ist, deren Ruhestätte aber nichts von den vergangenen Jahrzehnten erkennen lässt. Ganz im Gegenteil. Wenn der Besucher heute vor dem Grab steht, die Fotos der scheinbar unsterblichen Person sieht, dann scheinen aus dem Grab die Worte „New York Herald Tribune“ zu ertönen und man sieht sich ins Jahr 1960 versetzt, in dem Jean-Luc Godards Film „Außer Atem“ („À bout de souffle“) die internationale Filmwelt in Staunen versetzte.
Grab Jean Seberg. Alle Fotos Rainer Erd
Bis heute als Beginn eines die Filmwelt revolutionierenden Werks gefeiert, hat Jean Seberg mit der Rolle der Zeitungsverkäuferin Patricia einen neuen Frauentyp geschaffen und sich unsterblich gemacht. Deshalb strahlt ihr Grab noch nach Jahrzehnten die von ihr in dem Film verkörperte Jugendlichkeit aus, die filminteressierte Besucher des Friedhofs als erstes bei ihr halten lassen.
Was viele Friedhofsbesucher nicht wissen und erst nach Fragen beim Friedhofspersonal erfahren, ist, dass wenige Schritte von ihr entfernt, seit Herbst 2021 der begraben liegt, dessen Gegenpart Jean Seberg in „Außer Atem“ war: der lebenslustige Michel Poiccard, ebenfalls unvergessen verkörpert von Jean-Paul Belmondo. Als Belmondo im September 2021 vom französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron mit einer nationalen Trauerzeremonie im Ehrenhof des Pariser Invalidendoms verabschiedet wurde, harrten tausende Pariser Bürger vor dem Gelände aus, um ihren „Bébel“ noch einmal, wenn auch nur im Sarg, zu sehen. Heute liegt der Verstorbene ganz in der Nähe von Jean Seberg im Grab seines Vaters Paul Belmondo, dem berühmten Pariser Bildhauer, dem sein Sohn in Boulogne-Billancourt ein Museum eingerichtet hat. Die lebenslange Nähe von Vater und Sohn mag einer der Gründe dafür sein, dass der draufgängerische Jean-Paul im Grab seines immer ausgleichend auftretenden Vaters Paul seine letzte Ruhe gesucht hat. Diese Geschichte, die einige Friedhofswärter erzählen, bestreiten andere genauso leidenschaftlich. Für sie liegt Belmondo irgendwo in Frankreich, nur nicht auf dem Friedhof Montparnasse. Einig sind sie sich nur darin, dass die Beerdigungsfeier am Grab von Vater Belmondo stattgefunden hat.
Es bedarf keiner großen Fantasie, um auf dem kurzen Weg von Jean Seberg zu Jean-Paul Belmondo die beiden die Champs-Élysées hinabschlendern zu sehen und den Kleinganoven Poiccard die Zeitungsverkäuferin Patricia unaufhörlich (erfolglos) ansprechen zu hören: „Kommst du mit nach Rom“? Gäbe es so etwas wie Seelenwanderung, Seberg und Belmondo müssten keine großen Wege zurücklegen. Der filminteressierte Spaziergänger auf dem Friedhof Montparnasse hört die beiden so lange sprechen, bis er sich aus ihrer Nähe entfernt hat und, nur ein paar Schritte von Belmondo weiter, auf das Grab von Serge Gainsbourg an der Avenue Transversale trifft.
Grab Paul und Jean-Paul Belmondo
Grab Serge Gainsbourg
Bleibt das Grab von Belmondo für den Nichteingeweihten schwer auffindbar, so ist Gainsbourg einfach zu finden, weil beständig Touristen ihn besuchen. Und so sieht das Grab aus. Es ist übersäht mit Metro-Tickets, die darauf verweisen, dass viele Besucher einen längeren Weg zurückgelegt haben. Gainsbourg hat wie kein anderer die französische Popmusik beeinflusst und immer wieder für skandalträchtige Auftritte gesorgt. Als Darsteller in Filmen blieb er – ganz anders als Seberg und Belmondo – weit hinter seinen musikalischen Erfolgen zurück.
Als die ehemalige Frau von Gainsbourg, Jane Birkin, 2023 verstarb, hatte sie die Qual der Wahl, ob sie im Grab von Serge Gainsbourg oder bei ihrer ums Eck liegenden Tochter Kate Barry begraben werden wollte. Sie hat sich für ihre Tochter entschieden und liegt nun für die Ewigkeit wenige Gräber neben Mireille Darc, der ehemaligen Lebensgefährtin von Alain Delon.
Grab von Jane Birkin und ihrer Tochter Kate Barry
Grab von Mireille Darc
Für den Filminteressierten ist der Weg auf der Avenue Transversale in Richtung Rue Émile Richard ebenso ergiebig, wenn man den ersten Weg rechts auf die Allée Chauveau Largarde abbiegt. Auf der rechten Seite schaut uns das schlichte Grab eines großartigen französischen Filmregisseurs an, der in den siebziger Jahren, wie Belmondo und Seberg, seine große Zeit hatte: Claude Sautet. Als Godard mit seiner neuen Erzählsprache neben anderen die Nouvelle Vague begründete, schuf Claude Sautet einen Film nach dem anderen, in denen er sich bissig mit dem französischen Bürgertum auseinandersetze und nicht weniger als Godard das Publikum begeisterte. Mit ganz anderen, traditionelleren Stilmitteln allerdings.
Doch in ihrer kritischen Auseinandersetzung mit dem klassischen französischen Kino unterschieden sie sich wenig. Wenn bei Sautet Michel Piccoli, Romy Schneider und Lea Massari in „Die Dinge des Lebens“ vergeblich versuchen, ihre emotionalen und erotischen Bedürfnisse zu ordnen, oder Yves Montand, Sami Frey und (wiederum) Romy Schneider in „César und Rosalie“ vergleichbare Experimente unternehmen, dann scheitern sie daran genauso, wie sich Godards Helden in Widersprüche verstricken. Neben Sautet liegt nur einer seiner viel beschäftigten Darsteller auf Montparnasse: Serge Reggiani. Zu ihm muss man eine längere Strecke an die Westseite des Friedhofs zurücklegen, in die Avenue de l’Ouest zwischen der Allée Raffet und der Porte Froidevaux. Dort, gleich rechts nach dem Eingang, findet man ihn in einem Familiengrab.
Grab Claude und Graziella Sautet
A propos Allée Raffet. Hier, in der Nähe der Kreuzung zur Avenue Principale, findet man das schönste und verspielteste Grab gleich von zwei in der Filmbranche Engagierten. Dass hier so viele Sammelstücke von Steinen, Katzen und künstlichen Blumen zu finden sind, hat damit zu tun, dass eine der beiden hier Ruhenden früher ganz in der Nähe des Friedhofs, in der Rue Daguerre gelebt und häufig das Grab ihres Mannes besucht hat, bevor sie dann auch gestorben ist. 1990 hat Agnès Varda an dem Platz ihren langjährigen Mann Jacques Demy begraben, der nur 59 Jahre alt geworden ist, aber mit Filmen wie „Die Regenschirme von Cherbourg“ und „Die Mädchen von Rochefort“ die beiden Schwestern Francoise Dorléac und Catherine Dorléac (später Deneuve) für das französische Kino so unsterblich gemacht hat wie Godard Jean Seberg und Jean-Paul Belmondo. Nur auch wieder mit gänzlich unterschiedlichen Filmstilen. Zum modernen französischen Kino gehören sie aber allemal.
Grab Agnès Varda mit Familie
Experimenteller als ihr Mann war da Agnès Varda, die bereits 1954 mit „La Point Courte“ ihren ersten Film inszenierte (mit Philippe Noiret, der auch auf Montparnasse liegt, direkt am „Génie du Sommeil Éternel“, der Mittelachse des Friedhofs) und dann 1962 mit „Cleo – Mittwoch zwischen 5 und 7“ zum Kreis der Nouvelle Vague stieß. Der Film spielt in den Straßen von Montparnasse, mit denen sich Varda auskannte. Ihre Straße, die Rue Daguerre, ließ sie später vor ihrem Haus mit Sand aufschütten, um dann den Film „Die Strände von Agnès“ zu drehen. Varda und Demy sind das berühmteste Film-Paar auf dem Friedhof, für Filmliebhaber so berühmt wie Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre für die Philosophie. Beide ruhen auch auf Montparnasse, wenn man den Friedhof in Richtung Hauptporttal verlässt, links auf der Avenue du „Boulevart“, kurz vor dem Ausgang.
Grab von Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre
Hat man auf der kleinen Bank am Grab von Varda/Demy Kraft geschöpft, muss man noch unbedingt bei vier Personen vorbeigehen, wenn man das Spektrum moderner Filmschaffender auf dem Friedhof Montparnasse erfassen will. Bei Delphine Seyrig, der Schauspielerin, die in Alain Resnais Film „Letztes Jahr in Marienbad“ so eindrucksvoll gespielt hat. Nach der neuen Sight & Sound-Liste der 100 besten Filme aller Zeiten steht Delphine Seyrig mit „Jeanne Dielman“ (von Chantal Akerman) auf dem ersten Platz. Auch bei Louis Buñuel war sie häufig dabei. Sie liegt am westlichen Ende der Avenue du Nord, ganz an der Mauer.
Auf dem Weg zum verspielten Éric Rohmer ruht der ehemalige Leiter der Cinémathèque, Henri Langlois, dessen Entlassung 1968 durch Kulturminister André Malraux die komplette Pariser Filmwelt auf die Barrikaden getrieben hat und so verhindert werden konnte. Von Langlois und seinen gesammelten Filmen haben alle aus der Nouvelle Vague gelernt. Wie konnte man auf die Idee kommen, ihn loszuwerden?
Grab Éric Rohmer
Überquert man auf der Avenue du Nord die Avenue Principale, geht an Jean Seberg vorbei, dann kann man mit etwas Glück Éric Rohmer finden, den Zauberer des Lichts. Er hat das französische Nouvelle Vague-Kino mit wunderschönen Filmen zu den Themen „Moralische Erzählungen“, „Komödien und Stichwörter“ und „Erzählungen der vier Jahreszeiten“ bereichert. Wer unter den vielen, nicht immer leicht zu entdeckenden Gräbern Éric Rohmer nicht findet, tröste sich damit, dass eine der Großen der französischen Literatur und des Films einfach zu erreichen ist: Marguerite Duras. Duras hat die Drehbücher für Klassiker des französischen Kinos wie „Hiroshima, mon amour“ und „Mademoiselle“ und Romane wie „Der Liebhaber“ geschrieben. Auf ihrem Grab in der Avenue du „Boulevart“, auf der gegenüberliegenden Seite von Beauvoir/Sartre, findet sich ein weiterer Stein, über dessen Geschichte Insider viel zu erzählen wissen. „Yann Andrea“ war der langjährige junge Geliebte von Duras, mit dem sie eine tragische Geschichte verbunden hat, die Thema eines Films geworden ist, in dem Jeanne Moreau die Schriftstellerin und Filmemacherin Duras spielt: „Diese Liebe“.
Nach Duras ist man wieder am Hauptportal des Friedhofs und fragt sich, wo all die anderen Filmemacher der Nouvelle Vague liegen, die man nicht auf Montparnasse trifft. Wer das wissen möchte, muss die beiden anderen großen Friedhöfe von Paris besuchen. Auf dem Friedhof Montmartre liegen Francois Truffaut und Jeanne Moreau fast Rücken an Rücken in der Avenue Hector Berlioz und Cordier, während sich Jean-Claude Brialy von den beiden entfernt an die Mauer links vom Haupteingang am Chemin Saint-Eloy zurückgezogen hat. Und natürlich muss der Nouvelle Vague-Interessierte auf den Friedhof Père Lachaise, der größte der drei bedeutenden Pariser Friedhöfe, wo ihn Claude Chabrol, Simone Signoret und Yves Montand erwarten. Auf Père Lachaise schließt sich der Kreis der Regisseure und Schauspieler der Nouvelle Vague, sofern sie Paris nicht ganz verlassen haben und irgendwo in Frankreich ruhen.
Erstellungsdatum: 23.09.2025