Wenn der Funke vom Künstler zum Publikum überspringt, wenn Kunst nicht mehr gemacht wird, sondern geschieht, findet sich hintergründig oft ein enges Verhältnis von Training, Technik und Intuition. Die Rede ist von Pina Bausch, die gerade 85 Jahre alt geworden wäre, und Wim Wenders, der in Kürze 80 Jahre alt wird. Als Wim Wenders nach langer Vorbereitung seinen Film über die Arbeit von Pina Bausch herausbrachte, hat Marli Feldvoß mit ihm gesprochen.
Marli Feldvoß: Herr Wenders, wieso hat es eigentlich so lange gedauert, bis ein Film über Pina Bausch zustande kam?
Wim Wenders: Das ging so in Wellen. Die erste Welle habe ich geschlagen, als ich Pina gleich bei unserem ersten Treffen – das war in den achtziger Jahren – schon ganz begeistert gesagt habe: Wir müssen unbedingt mal einen Film gemeinsam machen und Pina dann nur ein Zigarettchen angemacht und weise gelächelt hat. Das war so ihre Art und Weise, eine Frage nicht zu beantworten. Das ging noch ein paar Jahre so, dass meine Begeisterung sich nicht zu übertragen schien, und dann ging es eine Weile umgekehrt. Wir haben auch angefangen, darüber zu reden, wie. Aber ich hatte eine Blockade. Da gab es eine Hürde, über die ich nicht rüberkam.
Und was war das?
Das Einzigartige von Pinas Kunst, diese ansteckende Körperlichkeit, diese Lebensfreude, ich wusste nicht, wie ich das filmen sollte. Ich wusste es wirklich nicht. Ich habe es Pina auch erklärt. Dass es anders sein müsste als das, was es bis jetzt gab. Weil das jeder könnte – Fernsehaufzeichnungen machen. Ich wüsste aber nicht, wie es essenziell besser ginge. Und das war mein Problem. Ich habe nur gedacht, wie, auf welche Art und Weise kann ich dem mit meinen Kameras begegnen. So dass es so emotional bleibt, wie es für mich bei jeder neuen Aufführung auf Pina Bauschs Bühne gewesen ist. Das kam dann erst 2007, als ich zum ersten Mal einen digitalen 3-D-Film gesehen habe und aus der Vorführung heraus noch Pina angerufen und gesagt habe: „Du Pina, jetzt hab‘ ich eine Idee.“
Konnte sich Pina Bausch eigentlich vorstellen, wie so etwas aussieht?
Nein. Pina hatte keine Zeit, ins Kino zu gehen. Ich habe ihr das beschrieben, was ich dachte, wozu die Technik demnächst fähig sei. Man war ja noch nicht so weit. Ich habe ihr auch meinen Stereographen Alain Derobe vorgestellt. Den großen ersten Dreh mit ihren Tänzern hatten wir dann für die erste Juliwoche 2009 geplant. Ab September sollten die Proben für die Stücke anfangen. Und dann war Pina plötzlich nicht mehr da. Pina hat also nie etwas gesehen, sie hatte nur meine Begeisterung gehört.
Was ist denn das Besondere des digitalen 3-D?
Es ist ja nicht die Technik, die dabei interessant ist, es ist ja die Affinität dieser Technik zum Tanz. Es ist ja so, dass diese Technik zum ersten Mal glaubhaft, schön und auch natürlich die Dimension des Raumes ins Kino gebracht hat. Und die Dimension des Raumes ist das Element der Tänzer selbst. Die Körperlichkeit von Pinas Tänzern gibt es nur im Raum, die gibt es nicht als Abbild, nicht als Foto, nicht als Film. Das heißt, das eigentliche wunderbare privilegierte Erlebnis ist es, dabei zu sein. Und erst durch diese Technik war es möglich, dass man auf andere Art dabei sein kann.
Im Nachhinein muss ich sagen, dass die 3-D-Technik wie für den Tanz gemacht ist, besser als für alles andere, wofür man sie einsetzen könnte. Sie wird im Moment fast ausschließlich für Animations- und für Actionfilme benutzt. Da ist sie nicht mehr als eine Attraktion. Die natürliche Hinzufügung der dritten Dimension zum Sehen ist ja keine Attraktion per se. Das ist eigentlich nur ein Umdenken dessen, was wir im Kino hundert Jahre lang gedacht haben. Wir haben ja gedacht, das Kino kann in den Raum. Das Kino hat ja tausend Tricks gehabt, uns immer glauben zu machen, wir seien im Raum. Aber der Raum war immer eine zweidimensionale Leinwand, und jetzt ist das zum ersten Mal durchbrochen worden. Die Körpersprache ist per Definition im Kino bis dahin gehandikapt gewesen, sie war bis dahin in Mono.
Warum war das Tanztheater der Pina Bausch eigentlich so wichtig für Sie?
Das war pure Emotion. Ich habe oft nur dagesessen und geheult. Das ist so in mich hineingegangen, diese wortlose Sprache. Ich habe das als so heilsam und so befreiend empfunden, dass ich einfach nur losgeflennt habe. Das ist mir immer wieder so gegangen, bei jedem neuen Stück.
Ergeht es Ihnen bei anderen Kunsterlebnissen auch so?
Nein. Das ist mit Abstand das intensivste. Das ist mir im Theater nicht so gegangen, nicht in Konzerten und auch nicht im Kino.
Sie haben behauptet, das digitale 3-D sei das ideale Medium für den Dokumentarfilm. Wie soll man sich das vorstellen? Der Dokumentarfilm will sich doch möglichst nicht einmischen, sondern einfach zeigen, was da ist. Jetzt geschieht aber doch ein Eingriff.
Im Gegenteil. Ich glaube, es gab noch nie wie mit der digitalen Technik des 3-D die Möglichkeit, einfach zu zeigen was ist. Gehen Sie doch einfach mal zurück. Vor fünfzehn Jahren, Anfang der neunziger Jahre, kamen die ersten digitalen Effekte. Bis dahin wusste man, digital war etwas, das mit Musik und Aufzeichnung zu tun hatte, im Kino gab’s das nicht. Die ersten digitalen Effekte waren nur in Riesenblockbustern zu sehen und in teuren Spektakeln. Als Michael Jackson zum ersten Mal den Spezialeffekt des Morphing zeigte, wie ein Gesicht sich in ein anderes verwandelt, da kostete das Millionen, davon hätte man einen ganzen Film drehen können. So kam das Wort digital ins Kino.
Vier, fünf Jahre später war die digitale Technik die Rettung des Dokumentarfilms. „Buena Vista Social Club“ hätte ich nie auf Film gemacht, wäre ohne die digitale Technik nie möglich gewesen. Die hat den Dokumentarfilm neu erfunden und auf neue Beine gestellt. Ich denke, dass mit dem digitalen 3-D etwas ganz Ähnliches passieren kann und wird. Weil man eben nicht auf Effekte setzt und auf Kasperletheater, weil man tatsächlich den Zuschauer in den Raum versetzen kann, von dem man erzählen will.
Aber es ist doch nicht der reale, sondern ein künstlicher Raum, eine überhöhte Form der Wirklichkeit, letztlich eine virtuelle Welt.
Das heißt nicht, dass man da manipuliert. Das 3-D ist nicht nur ein Affin zu Manipulation und zu Eingreifen in die Räume, es ist auch ganz affin zum Beobachten, eigentlich affiner zu unserer Beobachtungsgabe als das bisherige Kino. Ich glaube, dass man mit dieser neuen Technik in die Arbeits- und Lebenswelten von Menschen anders hinein kommt, genauso intim. Wir haben am Schluss mit einer Apparatur gedreht, die ich alleine tragen konnte. Da brauchte ich niemanden mehr um mich herum. Die Technik ist inzwischen genauso klein und handlich und auch so billig wie andere Apparate auch. Aber das, was uns so begeistert hat, war das Eindringen in die körperliche Welt, was vorher immer abstrakt geblieben und verwehrt worden ist. Diese Qualität ist eine, die vor allem und mehr dem Dokumentarfilm zugute kommt als jeder Fiktion.
Sie haben sich immer sehr fürs Erzählen eingesetzt, das kann man schon in ihren frühen Schriften nachlesen. Nun scheint die 3-D Technik für das narrative Kino doch gar nicht so viel zu bringen oder?
Wenn man einen Film macht, in dem der Raum auf eine Art thematisiert wird, wenn man eine Geschichte erzählt, in der die dritte Dimension zur Sprache kommt und in der es einen guten Grund gibt, das schöne Erzählen, was das Kino ja gelernt hat, zu verlassen - dann ja. Bei uns gab es einen guten Grund. Die Körperlichkeit der Tänzer war nicht anders zu erfassen.
Aber die Wirklichkeit der 3-D-Filme auf dem Markt sieht doch anders aus.
Ich habe jetzt eine ganze Menge 3-D-Filme gesehen – weil ich alles gucke was da kommt –, wo ich erstens Kopfschmerzen gekriegt habe und zweitens überhaupt nicht gesehen habe, warum das 3-D sein musste, außer dass es Spektakel war. Und als Spektakel allein ist es nicht gut genug. Das ist auch die Beschwerde von James Cameron, der wirklich etwas losgetreten hat. Der ist enttäuscht. Deshalb bin ich der Meinung, nicht jede Geschichte eignet sich dazu. Aber ich bin sicher, dass jenseits von Animation und Blockbustern die Technik phantasievolle Regisseure braucht, die wissen, wie man diese neue Dimension auf eine menschlichere und auch ästhetisch ansprechende Art und Weise in das Erzählen einbezieht. Ich würde das gerne rauskriegen, wie man eine Geschichte auf 3-D erzählt. Aber ich weiß noch keine. Mir fiele es sehr schwer, das alles zurückzudrehen. Natürlich ist „Pina“ ein narrativer Film, er hat auch einen dramatischen Bogen, aber er ist zuallererst ein Dokument der Kunst von Pina Bausch.
Das Gespräch wurde auf der Berlinale 2011 geführt.
Erstveröffentlichung: Filmbulletin (Schweiz), Nr 3/11
Erstellungsdatum: 04.08.2025