Bevor er als 16-Jähriger Kompositionsunterricht nahm, hatte er sich schon mit Streichquartett und Streichorchester ausprobiert. Ins Bewusstsein der Öffentlichkeit geriet Wolfgang Rihm zehn Jahre später mit seiner Kammeroper „Jakob Lenz“, in der alte und neue Musik gleichberechtigt nebeneinander stand. Er war ein gefragter, weltberühmter und beliebter Komponist; seine überbordende Werkliste zeigt den rastlos Schaffenden. Achim Heidenreich beschreibt seine Arbeitsweise.
Wolfgang Rihm wollte als Kind zuerst Maler werden, sein Vater besuchte mit ihm gerne und regelmäßig Ausstellungen in seiner Heimatstadt Karlsruhe, dann Schriftsteller und schließlich Komponist.(1) Komponist wurde er dann in der Hauptsache, als Schriftsteller und Essayist war er nicht minder bedeutsam für das Musikleben vor allem im deutschsprachigen Raum und manchmal bleib er auch Maler, wenn man die ästhetische Qualität seiner Manuskripte, aber auch seine in der Sacher Stiftung hinterlegten Zeichnungen betrachtet. Als Schriftsteller und Essayist wurde er im Herbst 2014 mit dem „Robert-Schumann-Preis für Dichtung und Musik“ der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz ausgezeichnet, um an dieser Stelle nur exemplarisch eine seiner überaus zahlreichen, bereits im jungen Alter erhaltenen Auszeichnungen, Orden und Kreuze zu nennen.
Das Malen, Schreiben und Komponieren repräsentiert in dieser Reihenfolge aber auch den Weg des Künstlers Rihm vom Kind zum Erwachsenen, stets energiereich begleitet von seinem gleichermaßen ethisch fest im aufgeklärten Menschenbild verankerten Denken und Empfinden, einem hehren, intrinsischen Arbeitsbegriff.
So befand sich sein Komponieren in ständiger Metamorphose und in einem immerwährenden Bearbeitungsstadium. Wolfgang Rihms jeweilige Gestaltung eines angenommenen und auch real fortwährenden Musikstroms ähnelte der Arbeit an einem nie trocken und abgeschlossen werdenden Fresko: Frisch und spontan wirken die Impulse, tief schauend ist die psychologische sowie historische Dimension seines Schaffens.
Die Tinte ging Wolfgang Rihm also nie aus. Eigentlich täglich schrieb er an seinem Musikfluss weiter. In Anlehnung an Schuberts sogenannte „Unvollendete“ Sinfonie stellt sich die Frage nach dem jeweils erreichten Werkstadium innerhalb dieses Prozess fast von selbst, worauf Wolfgang Rihm einmal antwortete: „Das Begriffspaar ‚vollendet-unvollendet’ scheint mir eine Art Pol-Gebilde, eine polare Situation zu sein, die das, was Musik ist, nicht in den Begriff bekommt, aber in den Griff nimmt. Musik kann ja niemals, in der Weise wie es z.B. ein bildnerisches Werk ist, vollendet sein. Es gibt in der Musik nicht das vollendete Original. Allerdings auch nicht das unvollendete – weil es gar keine Originale gibt. Musik ist immer Vollzug, immer etwas, das im Durchgang ist, das sich im Entstehen befindet und im selben Moment vergeht. (…) Wir können die Partitur lesen und sie als ‚vollendet’ bezeichnen, aber der Nachbar im Konzert versteht schon gar nicht mehr, wo von wir reden. Wir können eine Aufführung ‚vollendet’ finden, aber am nächsten Tag lesen wir in der Zeitung: ‚Alles war schlecht’, weil der Kritiker es schlecht fand. Ihm hat sich die etwaige Vollendung nicht mitgeteilt. Es gibt kein Maß, in dem eine musikalische Vollendung in irgendeiner Form fassbar wäre.“(1)
Die Beschreibung der Genese seiner Klavierwerke macht dies Dichotomie „vollendet-unvollendet“ deutlich, in die sich das Werk für Klavier und Orchester „Con Piano? Certo!“ einordnen lässt und damit einen großen – Karlsruher – Schaffensbogen von Rihms Anfängen bis zu seinen letzten Werken spannt: Wolfgang Rihm begann sein Komponieren in jungen Jahren mit Klavierwerken, er selbst war ein ausgezeichneter Pianist. Sein erstes Klavierkonzert entstand in dieser frühen Schaffensphase bereits 1969. Ein Jahr später und ein Jahrzehnt dauernd, schuf er sehr unterschiedliche und raumgreifende Klavierstücke und -zyklen, die in der zeitgenössischen Klaviermusik spieltechnische, klangsinnliche, energetische und ästhetische Maßstäbe gesetzt haben – fern jeder Bauanleitungsästhetik jener Zeit. Mit seiner fast halbstündigen „Nachstudie“ für Klavier (1992/1994) komponierte er später ein vorläufiges Opus summum seiner Klaviermusik. Sein Violinkonzert „Gesungene Zeit“ für Anne Sophie Mutter entstand ebenfalls während dieser Zeit.
Dass er 2014 eine in Salzburg uraufgeführte Komposition „2. Klavierkonzert“ nannte, war Zitat und Bekenntnis zugleich. Im Wortspiel „Con Piano? Certo!“ spiegelt sich die Bedeutung des Klaviers innerhalb seines musikalischen Schaffens, also dem Instrument, dass er ständig selbst berührte. Hier findet ein großes Bekenntnis und auch erneut eine Auseinandersetzung mit vor allem Mozarts Klavierkonzerten statt, der, wie er in den letzten Jahren immer wieder im Gespräch betonte, für ihn gleich nach Brahms kam! Mit dem fast halbstündigen Werk hatte Rihm die musikalische Tradition eben dieser Gattung reflektiert und (um)geformt. Tradition wurde kompostiert und zur neuen Mutter Erde.
Der Weg von der Bildenden Kunst zu seinem objekthaften, körperlich-gestischen Komponieren (und umgekehrt) war demnach noch kürzer als bislang vermutet oder über seinen Werkkatalog hergeleitet. Ganze Werkgruppen veranschaulichen seine enge Beziehung zur Bildenden Kunst, zahlreiche Künstlerfreundschaften zeugen vom ständigen Energiefluss Wolfgang Rihms von und zur Malerei, beispielsweise die Kompositionenen „Kolchis“ (1992), „Antlitz“ (1993), „Dritte Musik“ für Orchester und Violine (1993) als Ausdruck der künstlerischen Verbundenheit zu Werk und Person Kurt Kocherscheits. Wolfgang Rihms Komponieren war dabei ein skulpturales Arbeiten am unendlichen Klang, den er in sich wahrnahm.
„Ich habe die Vorstellung eines großen Musikblocks, der in mir ist. Jede Komposition ist zugleich ein Teil von ihm, als auch eine in ihm gemeißelte Physiognomie. (...) Mit mir geschieht etwas ähnliches wie mit meinem Musikblock. Ein Zeitfaden trennt einen bemessenen Teil ab und schafft so erst meine Physiognomie.“(2)
Wolfgang Rihms Musikdenken durchzog ein sich in vielfach schillernden Besetzungstypen brechendes Fortschreiben, ein „Übermalen“ bereits vorhandener Werke und Werkteile in großangelegten und zeitlich offenen Reihen und Komplexen, wie etwa dem „Séraphin“-Komplex oder den „Symphonie fleuves“-Kompositionen. Bereits mit seinem „Chiffren“- und „Tutuguri“-Zyklus aus den 1980er Jahren setzte er damit ein. Mit den Versionen von „Jagden und Formen“ (1995-2001) wird das Prinzip der fortschreibenden Formung bereits im Titel benannt. Zwar wird im Begriff der Übermalung, als einfachste Form der Plastik, bereits auf einen Ansatz aus der Bildenden Kunst verwiesen. Rihms Musik basiert allerdings noch viel stärker in seiner Vorstellung eines Musikblocks, aus dem er förmlich seine Werke bildhauerisch in skulpturaler Manier herausschneidet und danach plastisch formt, wie er mit dem Bild des Musikblocks in ihm 1979 bekannte und später noch einmal deutlich betonte: „Der alte Traum der Musiker ist es, Ort und Klang zusammenzubringen, ineinanderzuzwingen, dass der Klang auch gleichzeitig sein Ort ist und der Ort er selbst erst durch seinen Klang werden kann. Der Raum wird durch Orte definiert, denen der Klang zu entstammen scheint, der Klang ist aber wiederum perspektiv geortet, nach der Art eines Raumes geformt.(...) Es entsteht der durch den Klang individualisierte Raum-Körper. Ein Körper aus Raum. Der Komponist betritt diesen geschaffenen Raum als Bildhauer.“(2)
1) „Was Musik wirklich ist....“ Wolfgang Rihm im Gespräch mit Achim Heidenreich, in: Neue Zeitschrift für Musik, 2012/Heft 3, S. 9.
2) Wolfgang Rihm., in: Sabine Schäfer, Topophonien, Karlsruhe 1994, S. 22.
Erstellungsdatum: 26.08.2024