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Eine psychoanalytische Betrachtung des Mythos von der Schrift an der Wand

Kein Wunder, dass Belsazar erbleichte

Eran Rolnik


Rembrandt van Rijn: Belsazar. Mene mene tekel upharsin. Foto: wikimedia commons

Wir sind es gewohnt, die Geschichte vom Gastmahl Belsazars und der „Schrift an der Wand“ als Gleichnis für Blindheit und moralischen Verfall mit vorhersehbarem Ende zu lesen. Der Psychoanalytiker Eran Rolnik schlägt eine ergänzende Lesart dieses Mythos vor, die sich stärker auf die psychologische und erkenntnistheoretische Ebene konzentriert. Er behandelt den Fall des Belsazars als eine Art psychoanalytische „Fallgeschichte“ mit tödlichem Ausgang. Auch in der Politik gebe es einen „letzten Moment“, nach dem Reue und Erkenntnis nichts mehr nützen.

 

 

In der Ruhmeshalle biblischer Redewendungen nimmt „die Schrift an der Wand“ einen Ehrenplatz ein. Der Ausdruck stammt aus dem Buch Daniel: In Kapitel 5, das auf Aramäisch verfasst ist, wird ein Festmahl geschildert, das Belsazar, ein babylonischer Prinz, veranstaltet. Er schenkt seinen Gästen – seinen Fürsten, Frauen und Nebenfrauen – Wein in die heiligen Gefäße ein, die sein Vater Nebukadnezar aus dem Tempel in Jerusalem mitgenommen hatte. Plötzlich erscheinen menschliche Finger und schreiben auf die Wand: „Mene Mene Tekel u-Pharsin“.

Der erschrockene Belsazar – laut der Beschreibung wird er blass und seine Knie zittern – ruft in Eile seine Berater und Zauberer. Er verspricht, dass derjenige, der die Schrift zu deuten vermag, mit kostbaren Gewändern und Schmuck geehrt und sogar in ein hohes Regierungsamt berufen wird. Doch keiner seiner Berater versteht die Schrift. Auf Anraten der Königin, der Frau seines Vaters, lässt er Daniel holen – einen hebräischen Weisen aus dem Exil Judas, in dem „der Geist der heiligen Götter“ wohnt –, damit dieser versucht, die Schrift zu deuten. Daniel liest die Schrift als Unheilsprophezeiung für Babylon. Gott, so sagt er zu Belsazar, habe die Tage der Herrschaft Babylons aufgewogen und für zu leicht befunden. Die Bedeutung: Babylon wird an die Perser fallen. Und tatsächlich – laut der weiteren Erzählung stirbt Belsazar noch in derselben Nacht.

Das Gastmahl Belsazars liest sich wie eine Geschichte über den Zusammenhang von Erkenntnis und Selbstwahrnehmung – ein Nachdenken über das spannungsvolle Verhältnis zwischen dem Umgang des Menschen mit der Wahrheit und seiner Fähigkeit, die Realität zu erkennen und ihren Schmerz zu ertragen. Auch wenn die Geschichte theologisch zu deuten ist, vermittelt sie zugleich eine tiefgreifende Einsicht in das komplexe Verhältnis des Menschen zum Genuss und zur Erkenntnis. Aus meiner Perspektive als Psychiater ist es eine Geschichte über das schmerzhafte Verhältnis des Menschen zu seiner Wahrheit und zum Unbewussten als Quelle von Wissen und Verständnis. In diesem Sinne ähnelt Belsazars Geschichte der von Ödipus. Auch dort werden generationenübergreifende Beziehungen, exzessive Lust (d. h. die Überschreitung des Inzesttabus) und fehlendes Wissen geschildert – ein Blindsein für das, was in uns geschieht, und danach auch für das, was in der Welt geschieht. Diese Beziehungen des Menschen zu sich selbst verdienen durchaus die Bezeichnung „politische Beziehungen“, weil sie dynamisch und konflikthaft sind und sich nicht nur zwischen dem Subjekt und sich selbst, sondern auch zwischen dem Subjekt und Kultur sowie Geschichte abspielen.

Die Frage, wie viel Realität oder Wahrheit ein Mensch ertragen kann, ist nicht nur eine Frage der seelischen Gesundheit. Sie ist auch eine politische Frage. Nicht zufällig ist es in Deutschland etwa strafbar, den Holocaust zu leugnen. Was bedeutet ein Gesetz, das die Leugnung eines konstitutiven historischen Ereignisses verbietet, das noch im lebendigen Gedächtnis vieler Menschen präsent ist? Es bedeutet implizit, dass der Staat sich das Recht vorbehält, mitzubestimmen, wie „verrückt“ die Bürger sein dürfen. Er verbietet ihnen eine bestimmte Form perversen Genusses – den Genuss, der in der Leugnung einer so grundlegenden und schmerzhaften Tatsache der gemeinsamen Identität und Geschichte liegt; eine Erinnerung an die Zerstörungs- und Mordlust, zu der Menschen fähig sind. Es ist kein Zufall, dass die Leugnung des Rabin-Mords als politischer Mord zu einem der Zeichen des Wahnsinns der gegenwärtigen israelischen Geschichte geworden ist.

Warum wurde Belsazar blass, als er die Schrift an der Wand sah? Die gängige Auslegung misst der Tatsache, dass Belsazar überrascht wurde, nicht genügend Bedeutung bei. Im Gegenteil: Diese Geschichte wird in vielen Sprachen als eine Chronik mit bekanntem Ausgang erzählt – Frevel und Entweihung führen zu Sturz und Zerstörung. Ich hingegen glaube, dass Belsazar überrascht war, weil ihm der Text vertraut war. Noch bevor er ihn verstand oder entzifferte, spürte er, dass der Text an der Wand ihn anspricht – wie ein Traum. Wir verstehen Träume nicht immer, aber wir fühlen, dass sie eine Bedeutung haben, dass in ihnen eine psychische Wahrheit liegt, die zu wichtig ist, um sie achselzuckend abzutun.

Belsazar ist ein Herrscher, der seine eigene Seele nicht kennt. Seine verzweifelten Versuche, sich der unbearbeiteten seelischen Inhalte zu entledigen, zeugen vom Gefühl des Mangels und der Auslöschung bei jemandem, der sein psychisches Überleben an einen maßlosen Genuss geknüpft hat. Das Erscheinen der Schrift an der Wand ist daher sowohl klinisch als auch historisch ein bedeutsamer Moment. In diesem Augenblick verschmelzen die Pathologie des Herrschers und die Geschichte zu einem schicksalhaften Moment. Für ihn ist es vielleicht nur ein weiterer Versuch, etwas Unerträgliches durch die Schaffung eines Symptoms loszuwerden. Ein weiterer verzweifelter Anfall auf dem Weg zur Wahrheit, mit der er im Streit liegt. Doch dieser Moment wird zu einem „historischen Moment“, weil Belsazar Daniel ruft – den Analytiker –, der ihm die Schrift deutet. Nun weiß er nicht nur die Wahrheit, sondern er ist auch gezwungen, sie zu denken. Jetzt ist die Welt nicht mehr dieselbe. In einer Psychotherapie kann die Wahrheit, um die es geht, eine unbewusste Fantasie sein, eine namenlose Angst oder ein frühkindlicher Wunsch – aber in dem Moment, in dem diese Wahrheit nicht nur ins Bewusstsein dringt, sondern auch entschlüsselt, also interpretiert wird, besteht das Risiko eines psychischen Zusammenbruchs. Im Fall von Belsazar kann man sagen: Er kam zu spät zur Behandlung. Auch in der Politik gibt es ein „letztes Moment“, nach dem Reue und Erkenntnis nichts mehr nützen. Dann ist nichts mehr zu retten. Die Schrift an der Wand wurde nicht rechtzeitig gelesen.

 

 

Erstellungsdatum: 24.05.2025