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Nahaufnahmen – Sonderausgabe der Literaturzeitschrift „Wortschau"

Können Frauen Kunst?

Monika Vasik


Artemisia Gentileschi: Selbstporträt als Allegorie der Malerei. Foto: David Short. wikimedia commons

Johanna Hansen und Wolfgang Allinger, Herausgeber der Literaturzeitschrift „Wortschau“, haben 35 Autorinnen gebeten, literarisch auf 20 Arbeiten bildender Künstlerinnen aus der Sammlung des Sprengel Museums Hannover zu reagieren. Wer so etwas unternimmt, ist wagemutig. Denn nicht alles, was zu sehen ist, kann sich in Worten wiederfinden. Dagegen können Worte ans Licht bringen, was sich der Darstellung entzieht. Die Lyrikerin und Ärztin Monika Vasik aber berichtet in diesem Zusammenhang von einem anderen Missverhältnis.

 

„Fast alle Kunstsammlungen in der westlichen Hemisphäre haben in ihrer Geschlechterstruktur eine massive Schieflage“, schreibt Reinhard Spieler, der Direktor des Sprengel Museum Hannover, in seinem Vorwort zur aktuellen Sonderausgabe der Literaturzeitschrift Wortschau. Er weiß, dass der Anteil von Künstlerinnen und ihrer Werke nicht nur in seinem Museum, das internationale Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts sammelt und ausstellt, „beschämend niedrig“ ist. Auch wenn man sich heute aktiv bemühe, ließen „jahrhundertelange Defizite“ diese Schieflage trotzdem nicht schnell ausgleichen, so Spieler. Die Unterrepräsentation von Künstlerinnen ist allerdings nicht auf die westliche Hemisphäre beschränkt, sondern weltweit sind Werke von Frauen seltener im Bestand von Museen und werden obendrein seltener ausgestellt, weil sie in Depots verräumt bleiben. Doch warum ist das so?

Betrachtet man Kunstwerke früherer Jahrhunderte, bemerkt man schnell, dass Kunst lange Zeit männlich war. Der Künstler war Schöpfer, verewigte seinen Blick und damit den Blick seines Geschlechts in Ölbildern und Skulpturen. Frauen in der Kunst waren Abgebildete und nicht selbst Gestaltende, waren Projektionsfläche für den männlichen Blick, der sie jung und apart, oft nackt oder spärlich bekleidet darstellte, reduziert auf ihr Äußeres. Frauen hingegen blieb der Weg zur Schöpferin und Akteurin in der bildenden Kunst lange verwehrt. Ihre Möglichkeiten waren in den patriarchalen Gesellschaften eingeschränkt, der Weg an Kunstakademien und Universitäten blieb versperrt. Sie konnten sich nur in privaten Ausbildungsstätten Kenntnisse aneignen, wobei für sie Teilbereiche wie etwa das Aktzeichnen verboten waren. Nicht zuletzt hatte Kunst von Frauen weniger Wert. Dennoch gab es vereinzelt Künstlerinnen, die schon zu ihrer Zeit bekannt waren, von ihrer Kunst leben konnten und deren Werke heute noch in Museen zu sehen sind. Beispielhaft seien die Renaissancemalerinnen Sofonisba Anguissola und Lavinia Fontana sowie die Barockmalerin Artemisia Gentileschi genannt. Untypisch für ihre Zeit wurden sie gefördert von ihren Vätern, Ehemännern und Mäzenen, schufen ein eigenständiges Werk, das von einer männlich dominierten Kunstgeschichtsschreibung nicht übergangen werden konnte. Auch diese Künstlerinnen waren jedoch frauenspezifischen Beschränkungen unterworfen. So erhielt Fontana zwar den Auftrag, Altarbilder zu malen, durfte diese aber nicht in der Kirche fertigstellen. Die meisten Frauen, die Malerin werden wollten, mussten ihren Berufswunsch begraben, weil sie auf das eigene Heim beschränkt, allenfalls angelernt wurden, um malenden Vätern, Brüdern und Ehemännern als einfache Hilfskraft bei der Fertigstellung ihrer Bilder zu dienen.

Richtet man den Blick hoffnungsvoll ins 20. und 21. Jahrhundert, sieht man, dass sich einiges für Künstlerinnen zum Besseren verändert hat. Vereine und Netzwerke zur Ausbildung und gegenseitigen Unterstützung etablierten sich, Frauen können an staatlichen Kunstakademien studieren. Von einer Gleichstellung und von objektiver Kunstbewertung kann jedoch nicht gesprochen werden, solange sich die geschlechtsspezifische Unterdrückung und Missachtung von Künstlerinnen hält. Das Festhalten an antiquierten Frauenbildern ist bequem, die Misogynie hartnäckig, mit der die Kunst von Frauen abgewertet, ihre künstlerische Entwicklung und die Vermarktung ihrer Werke behindert wird. Man sprach und spricht Frauen das kreative Potenzial für große Kunst ab, sieht sie lieber mit Harmlosem beschäftigt wie Kunsthandwerk und Dekor. So wurden sie im Bauhaus von Männerdomänen wie der Metallwerkstatt ferngehalten, während ihnen die als geringer eingeschätzte Weberei erlaubt war. Die amerikanische Künstlerin Georgia O’Keefe musste wiederholt hören, dass sie es als Frau im Kunstbetrieb niemals schaffen werde, weshalb sie es besser gleich bleiben lassen solle. Auch Louise Bourgeois, eine der 20 Künstlerinnen der Nahaufnahmen, erzählte von ähnlichen Erfahrungen. Es ist kaum vorstellbar, wie viel Mut und Energie beide Frauen wie auch ihre Geschlechtsgenossinnen aufbringen mussten, um ihre Ziele als Künstlerin zu erreichen, und beide erhielten erst sehr spät in ihrem Leben Anerkennung und internationale Sichtbarkeit. Und auch noch im Jahr 2013 kann ein Künstler wie Georg Baselitz öffentlich behaupten, „Frauen malen nicht so gut. Das ist ein Fakt.“, ohne dass ihm und seiner Abwertung weiblicher Genialität breit und energisch widersprochen wird. Dass Museen, zumal größere und finanziell besser aufgestellte, häufiger von Männern geleitet werden, dass die Entscheidung über Ankäufe und über die Programmierung von Ausstellungen öfter in Männerhand liegt, erleichtert die Situation von Frauen im Kunstbetrieb nicht. Bis heute werden weniger Kunstwerke von Museen angekauft, die von einer Künstlerin geschaffen wurden. Auch in vielen Kunstgalerien werden deutlich weniger Künstlerinnen als Künstler präsentiert.

Es ist also eine Mischung von Benachteiligungen, die zur jahrhundertelangen Diskriminierung von bildenden Künstlerinnen beitrug. Und es sind Fakten, die sich auch auf andere Sparten übertragen lassen, etwa jene der Literatur. Auch die schreibende Zunft kennt das männliche Genie, den begnadeten Schöpfer (schön)geistiger Erbauung und Erkenntnis. Weist eine Frau allerdings darauf hin, beklagt gar die Schieflage und die Tatsache, dass Texte von Schriftstellerinnen auch heute noch mit der Punze „Frauenliteratur“ abgewertet werden, findet sich bestimmt wie in der bildenden Kunst bald ein Mann, der das Missverhältnis leugnet, als Gegenbeweis zwei, drei historische Literatinnen nennt und die Klagende des Unwissens zeiht (Anm: Rebecca Solnit hat dazu Erhellendes in ihrem Buch „Wenn Männer mir die Welt erklären“ geschrieben). Wir wissen von Autorinnen, die ihre Werke aus mehrerlei Gründen anonym (Jane Austen, Mary Shelley) oder unter einem männlichen Pseudonym veröffentlichten (George Sand, George Eliot). Wir wissen auch, Stichwort Bertolt Brecht, um die im stillen Kämmerlein dienende Zuarbeiterin, die Teile des Werks eines Autors verfasst, aber als Schöpferin ungenannt bleibt. Und es gibt Schieflagen im Bereich der Literaturkritik und der Literaturwissenschaft, Positionen, die über Jahre vor allem Männer bekleideten, die den literarischen Kanon mitprägten und, so belegen zahlreiche Untersuchungen seit Jahren, eher geneigt waren, sich mit den Büchern von Autoren zu beschäftigen als mit jenen von Autorinnen. Apropos Vermittlung – ein rezentes Beispiel: Als ich 2016 im Rahmen einer Pressereise nach Antwerpen kam, wo im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse in die Literatur des Gastlandes eingeführt wurde, hörten wir einen sehr ausführlichen Vortrag über die Literatur Flanderns der vergangenen Jahrhunderte. Wir wunderten uns, dass ausschließlich Autoren mit ihren Werken genannt wurden. Der etwa 40-jährige Vortragende war ob unserer Nachfrage merkbar irritiert. Es hätte in der Vergangenheit wohl ein paar Autorinnen gegeben, deren Namen er ad hoc aber nicht parat habe. Hätte er gewusst, dass uns die interessieren, hätte er sich anders vorbereitet.

Die Schieflage setzt sich fort bei der Zuerkennung hochdotierter Literaturpreise, etwa dem Nobelpreis und dem Georg Büchner Preis, die deutlich öfter an Autoren als an Autorinnen vergeben wurden, wobei festzustellen ist, dass sich vielleicht langsam etwas ändert, zumindest bei den weniger hoch dotierten Preisen, die zuletzt häufiger Autorinnen zugesprochen wurden als noch vor wenigen Jahren. Man könnte jetzt ausrechnen, wie lange es noch dauern wird, bis ... Aber lassen wir das, es soll ja um eine aktuelle Publikation gehen, die sich aus dem Wahrnehmen dieser Schieflagen entwickelte, den zunehmenden Unmut künstlerisch tätiger Frauen und ihr Bestreben, ein deutliches Statement gegen Diskriminierungen zu setzen.

„Nahaufnahmen“ ist ein Kunstprojekt, das weibliche Positionen in Kunst und Literatur zeigt. Initiatorin und Motor des Projekts war Johanna Hansen, eine intermedial arbeitende Kreative, die sowohl als bildende Künstlerin als auch als Schriftstellerin arbeitet und zudem gemeinsam mit Wolfgang Allinger das Herausgeber:innenteam der Literaturzeitschrift Wortschau und des damit zusammenhängenden Wortschau Verlags bildet. Hansen hat viel Kreativität, Energie und Herzblut in das Projekt investiert. In Abstimmung mit dem Sprengel Museum Hannover, namentlich dem Direktor und den beiden Ansprechpartnerinnen Dörte Wiegand und Kristina Sinn, die für die Bereiche Bildung und Vermittlung zuständig sind, wurden aus den Beständen des Museums 20 Arbeiten von Künstlerinnen für dieses Wortschau-Sonderheft ausgewählt. Danach lud Johanna Hansen 35 Schriftstellerinnen ein, sich ein Werk auszuwählen und mit ihm in einen produktiven Dialog zu treten.

Ich bin eine der angefragten Autorinnen, habe Gedichte zu Käthe Kollwitz’ Bronze-Skulptur „Die Klage“ beigetragen. Deshalb kann ich über das Heft und seine lange, von gegenseitiger Wertschätzung geprägten Produktionsphase aus Teilnehmerinnenperspektive erzählen. Die Kunstwerke wurden nicht zugelost, sondern konnten von den Schriftstellerinnen gewählt werden. Es gab keinerlei Vorgaben des Genres, sodass wir frei in der literarischen Gestaltung unserer Texte waren. Entstanden sind keine kunsthistorischen Abhandlungen oder reine Beschreibungen, sondern jeder einzelne Beitrag ist Folge eines intensiven dialogischen Prozesses, in dem die Beitragenden sich zum gewählten Kunstwerk in Beziehung setzten und sich inspirieren ließen. Ergebnis ist eine eigenständige Sammlung mit bemerkenswert hoher Qualität der Beiträge, die durch künstlerische Vielfalt und Vielstimmigkeit gekennzeichnet ist. Diese beginnt bei den ausgewählten Werken, die einzeln aufzuzählen den Rahmen dieser Besprechung sprengen würden. Darunter sind figurative wie abstrakte Arbeiten, u.a. Skulpturen, Ölbilder, Aquarelle, eine Collage, Papierarbeiten, ein Strickbild. Geschaffen wurden sie von international bekannten Künstlerinnen wie Gabriele Münter, Hannah Höch, Niki de Saint Phalle oder Jenny Holzer, und von solchen, die, von Fachleuten geschätzt, gerade dabei sind, sich einen Namen in der Kunstwelt zu machen. Alle für die Nahaufnahmen ausgewählten Werke sind spannend, bieten den Hochgenuss des Betrachtens sowie reichlich Raum für Interpretation. Alle in dieser Sonderausgabe abgedruckten Arbeiten sind zudem hochwertig reproduziert, weshalb es sich lohnt, mehr als nur einen kurzen Blick in das Heft zu werfen. Man kann auch das Sprengel Museum Hannover aufsuchen und hoffen, dass diese Werke nicht gerade im Depot verräumt sind, sondern der Öffentlichkeit präsentiert werden.

Genauso vielfältig wie die künstlerischen Arbeiten imponieren die literarischen Texte, die sich mal mehr mit dem Werk, mal mehr mit der Künstlerin, mal mit politischen und gesellschaftlichen Bedingungen beschäftigen. Es sind erstaunlich viele Gedichte dabei, oft in freien Rhythmen, einmal in der Form eines Sonetts, dann wieder den Raum um die Verszeilen einbeziehend und mit ihm visuell experimentierend. Dazwischen gibt es Kurzprosatexte, die das Geschaute mit biografischem Material, mit Gedanken, Wünschen und Phantasien der Künstlerin amalgamieren, gelegentlich in Form eines Briefs, einer Ansprache, eines dramatischen Texts oder eines Essays.

In Ingrid Samels Prosatext, mit dem sie sich auf die Spuren der niederländischen Malerin Lou Loeber in Dessau und deren Interesse für das Bauhaus begibt, gibt es den Satz: „Ich bin der Filter, durch den andere das Haus sehen ...“ Dies trifft auch auf die Schriftstellerinnen dieser Sonderausgabe zu, denn sie waren solche Filter, die das Gesehene, Gefühlte und Durchdachte in Wortkonzentrate verwandelten und Leser:innen eine neue Form und damit eine andere Möglichkeit der Betrachtung eines Kunstwerks schenkten. 35 Literatinnen widmeten sich 20 Kunstwerken, sodass jedes von meist zwei Texten begleitet ist. Man kann beim Lesen entdecken, wie unterschiedlich Meisterinnen des Worts ihre Filter kalibrierten, wie sie ihr Medium, die Sprache, einsetzten und wie unterschiedlich zwei Texte werden können, die zum selben Bild entstanden. Es ist bereichernd zu lesen, wie differenziert Kathrin Schadt und Caroline Hartge auf „die Tragoedin“ von Hannah Höch, Elke Bludau und Jasmin Özel auf das Reprint „Hannover Innenstadt“ von Margaret Bourke-White, Ulrike Bail und Annette Hagemann auf Julia Schmids „walk around the block IV“ oder Elisabeth Wandeler-Deck und Stefanie Kopetschke auf ein titelloses Strickbild von Rosemarie Trockel reagieren.

In Kopetschkes Text Maschenaufnahme heißt es: „Vielleicht wäre das traditionelle Familienmodell einfacher gewesen, ...“ Man müsste angesichts dieses Sonderhefts fragen, für wen solch ein Modell denn einfacher wäre? Denkt man an Literaten wie Thomas Mann, weiß man, für wen sich solch ein Modell lohnt, nämlich für den Schöpfergott, der sich unbehelligt von Haushaltspflichten und Kinderversorgung der hehren Kunst widmet, während seine Frau den Kinderlärm von ihm fernhält und sich mütterlich um Haus, Hof und sein leibliches Wohl sorgt. Wir ahnen, wie viel Kunst nie entstehen konnte, weil Frauen behindert wurden. Wie viel Kunst uns heute entgehen würde, wenn Frauen allein den sogenannten „natürlichen Pflichten“ nachgingen, statt sich als Künstlerin zu verwirklichen, zeigt auf beeindruckende Weise dieses Sonderheft, das in gemeinschaftlicher Arbeit verwirklicht wurde durch die beinahe unermüdliche Initiatorin Johanna Hansen, die auch selbst einen Text zum Ölgemälde „Family Photos“ von Marlene Dumas beitrug, und den Einsatz vieler Künstlerinnen, die in großer Solidarität dafür eintraten, dass diese Nahaufnahmen das Licht der Öffentlichkeit erblicken konnten.

 

Johanna Hansen und Wolfgang Allinger (Hrsg.)
Nahaufnahmen
Sonderausgabe der Literaturzeitschrift Wortschau
in Kooperation mit dem Sprengel Museum Hannover
112 Seiten, Format: 21 × 28 cm

ISBN: 978-3-944286-43-3
Wortschau Verlag, Neustadt/Weinstraße 2024

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Erstellungsdatum: 11.12.2024