Dass alles, was entsteht, wert ist, dass es zugrunde geht, sagt Mephisto zum Doktor Faust, der immer strebend sich bemüht. Die Spannung zwischen dem aggressiv eingesetzten Realitätssinn und dem überschreitenden Möglichkeitssinn ist das Feld der Poesie, die zwischen beiden Polen oszilliert. Im Buch „vom aufziehbaren blechhuhn“ hat Bess Dreyer dieses Feld abgelesen, und Elke Engelhardt hat sich die Gedichte genauer angesehen.
Es gibt viele Schlüssel im gerade erschienen Gedichtband „vom aufziehbaren blechhuhn“. Auch darum ist es ein kluger Entschluss gewesen, als Titel ein Gedicht des Bandes zu wählen, das nahezu alle Themenbereiche anspricht, die in diesem Buch verhandelt werden. In dem es allerdings den Schlüssel ausgerechnet zur Mutter nicht gibt.
Die Leserin jedoch findet zahlreiche Schlüssel. Und das liegt nicht an den Gedichten allein, sondern ebenso an der überaus klugen und schönen Gestaltung, aber auch im Zusammenspiel zwischen Gedicht und Bild. Bess Dreyers aktueller und insgesamt dritter Gedichtband, „vom aufziehbaren blechhuhn“ ist im Wortschau Verlag erschienen, einem exklusiven Verlag, der 2016, aus der Herausgeberschaft der Literaturzeitschrift mit dem selben Namen, hervorgegangen ist. Seitdem erscheinen in diesem Verlag nicht einfach gute Bücher, sondern besondere Bücher mit einer dem Namen und der Zeitschrift verpflichteten Gestaltung. Einer Gestaltung nämlich, die es versteht Inhalt und Bild, Lesen und Sehen in ein bereicherndes Gleichgewicht zu bringen.
Bess Dreyer, die seit 2006 mit eigenen Gedichten in Erscheinung tritt, besorgt dort das Lektorat. Die Zeichnungen in ihrem Band „vom aufziehbaren blechhuhn“ stammen von der Malerin und Schriftstellerin Johanna Hansen, die gemeinsam mit Wolfgang Allinger die Literaturzeitschrift Wortschau herausgibt.
Dem Lesefluss von Kapitel zu Kapitel entspricht in diesem Band die ungewöhnliche Gestaltung, bei der zu Anfang jedes neuen Kapitels sämtliche Kapitel aufgeführt werden, wobei nur das jeweils aktuelle schwarz gedruckt heraussticht, bevor ein klug gewähltes Bild die Leserin auf das Kommende einstimmt. Dabei ist es nicht so, dass die Zeichnungen die Gedichte illustrieren, vielmehr eröffnen die Bilder eine zusätzliche Ebene, bieten einen weiteren Schlüssel, um die Gedichte einzuordnen und immer wieder neu zu verstehen. So sieht man das Schlüssel suchende Ich des ersten Kapitels als schmerzroten Säugling, der auf einem fragilen und unterbrochenen Oval balanciert. Eine bessere Einstimmung auf das erste Kapitel ist kaum denkbar. Handelt es doch von einem Kind, das ungesehen wartet und
„mit jeder stunde
in eine neue winzigkeit“
hereinwächst. Ohne dabei jemals die Hoffnung zu verlieren, doch einmal gesehen zu werden.
„ich bin euer kind
sehr hört sprecht
mit mir“
Denn auch die ungeteilten Geschichten der Eltern, der Ahnen, fehlen dem Kind. Das erst spät
„zögernd beginn[t]
das jahrelange dunkel
von außen zu beleuchten“
Und somit den Ursprung einer von Anfang an wohlbekannten, lebensbegleitenden Angst zu finden.
In melancholisch zärtlichen Gedichten erzählt Dreyer von den Eltern, die wie Sprachen verlorengehen und neu gefunden werden. Die Gedichte handeln von einem immerzu fragilen Gleichgewicht, das jederzeit kippen kann. Dabei findet Bess Dreyer originelle Bilder und Metaphern für den menschlichen Zugang zueinander und zur eigenen Erinnerung. So sind im Gedicht „der weg lag voller schlüssel“ reichlich Schlüssel vorhanden, allerdings fehlt eine passende Tür.
Dreyers Lyrik erinnert an die Beständigkeit der Vergänglichkeit. So ist es auch immer wieder die Suche nach Orientierung, von der die Gedichte sprechen. Aber selbst die Einsicht, dass das einzig Beständige in unserem Leben der Wandel ist, liest sich nicht hoffnungslos, vielmehr gelingt Dreyer ein beständiges Memento Mori, das voller Dankbarkeit und Demut für die Schönheit der Schöpfung ist.
Das Verschwinden behauptet sich in diesem Buch als die alles bestimmende Daseinsform. Mithin erzählen Dreyers Gedichte von einem Leben, das sich fortwährend ändert, in dieser Bewegung des Verschwindens lebt, bevor es sich stellt. Und dabei erkennt, was Sprache vermag. Die eigene, aber auch die der anderen. Denn Dreyers Schreiben ist nie selbstbezüglich. Vielmehr bezieht sie die eigene Lektüre, die Begegnung mit anderen ein. Stellvertretend für die Bewegung und Verwandlung, die im Grunde dem gesamten Band zugrunde liegt, dieses Gedicht:
immer wieder wandel
jeden morgen, wenn ich erwache,
bin ich eine andere als die,
die sich am abend zu bett gelegt.
über mittag die sonne,
eine schicht wird entfernt.
am abend das wehrhafte Ich.
panzerversuch gegen böse träume.
schweben und schwimmen,
laufen, gewinnen.
trotz allem haftet wie labkraut
das gefühl,
nichts fruchte,
eine andere aus mir zu machen,
die ich auch gern wäre.
Die vielfältigen Arten zu schreiben, um lebendig zu sein, um „den tod zu üben“, sie alle führen in diesem Band aus der „grauzone“ heraus. Nicht zuletzt weil „ein großzügiger frieden“ herrscht unter Bess Dreyers Gedichtdach. Dort haben auch Geheimnisse Platz, die sich entfalten dürfen zu vieldeutigen Bildern und Vorstellungen.
Besonders berührend sind die Gedichte, die sich mit der Demenz der eigenen Mutter auseinandersetzen. „ich weiß nicht, wo meine worte sind“ lautet eine Zeile, die dem „alten Kind“ zugeschrieben sind. Es ist aber zugleich eine Zeile, die wie ein Motto, die Gedichte des gesamten Bandes durchzieht. Immer wieder leuchtet die Frage auf, wo die Worte sind, die befreien können. Wo sind die Worte, die der Traurigkeit und Angst einen Riegel vorschieben, die Zeilen, die uns verorten und spüren lassen, wie lebendig wir sind? Immer wieder findet Dreyer genau diese Worte und Zeilen, die den Tatsachen ins Auge sehen und gerade dadurch die Möglichkeit zur Selbstermächtigung bereitstellen.
„wenn du deinem tod gehörst
und dich mit ihm vereinst,
bestimmst du farbe und licht“
Nachdem man diese Gedichte gelesen hat, glaubt man wieder, dass der Tod eine gute und natürliche Sache ist und dass es möglich sein könnte, dass die Toten austreiben, wenn man sie „wie wurzeln vergräbt“. Denn Bess Dreyer nimmt den Todesacker wörtlich und überführt so Sterbensangst in Verwandlung und erreicht damit die Befriedung des Todesgedanken.
Immer wieder findet die Autorin überraschende Bilder. Der Dichterin die „ein glück / bekommen [hat], so reich, das [sie] verteilen / möchte [...] „ gelingt dieses Vorhaben nicht zuletzt aufgrund ihrer Fähigkeit sich immer wieder zu wundern, beständig über vermeintlich Selbstverständliches zu staunen.
Dass die Leserin mit Bess Dreyers „vom aufziehbaren blechhuhn“ ein besonders vielschichtiges Buch in Händen hält, ist neben ihren lebensweisen und klugen, häufig mit einem feinen Humor versehenen Gedichten, der Tatsache zu verdanken, dass in diesem Band alles aufeinander abgestimmt ist. Design und Zeichnungen sind kein Beiwerk, sondern ebenso elementar wie der Inhalt der Gedichte. Auch innerhalb der Gliederung, der Aufeinanderfolge der Gedichte, wird immer wieder ein Gleichgewicht hergestellt, eine Balance zwischen Anerkennung der Vergänglichkeit und dem Triumph des Dennoch. Denn trotz der existenziellen Themen und der melancholischen Grundierung blitzt in diesem Band immer wieder ein feiner Humor auf.
Man würde die Gedichte anders lesen, ohne die bildhafte Einleitung durch jeweils ein Bild von Johanna Hansen. Man sieht aber auch die Bilder von Hansen anders an, entdeckt Dinge in ihnen, die man vorher übersehen hat, nachdem man die Gedichte von Bess Dreyer gelesen hat. Auf diese Art bereichern sich Illustration und Inhalt auf eine bestmögliche Weise. Wie überhaupt die Gestaltung des Bandes nicht nur wunderschön, sondern auch klug durchdacht ist. „vom aufziehbaren blechhuhn“ ist einer der am schönsten gestalteten Bände, die ich in diesem Jahr in den Händen gehalten habe. Lebendig, fragil und funkelnd, wie das Leben selbst.
Bess Dreyer
vom aufziehbaren blechhuhn
Gedichte
Mit Zeichnungen von Johanna Hansen
180 S., brosch.
ISBN: 978-3-944286-45-7
Wortschau Verlag, Neustadt, Weinstraße 2024
Erstellungsdatum: 27.09.2024