Eine der grundsätzlichen Forderungen der Studentenrevolte in den Jahren 1967/1968 war die nach einer Bildungsreform. Die Administration aber konnte sich nicht von ihren alten hierarchischen Vorstellungen trennen. Der Muff von tausend Jahren befand sich nicht nur unter den Talaren, sondern in den Köpfen. Daraus entspringende Willkür stieß aber auch in den Gymnasien, wo sich der Emanzipationsgedanke ebenfalls verbreitete, auf den Widerstand der Schüler. Frank Schuster hat ein Buch über den Schüleraufstand in Darmstadt 1969 geschrieben, und PH Gruner hat es gelesen.
Ja, diese Sache mit literarischen Gattungsbegriffen. Roman ist das vorliegende Buch genannt, aber der Anteil des Episch-Fiktionalen rechtfertigt das nicht: Es handelt sich um eine mit einer fiktionalen Rahmenhandlung unterlegte Nacherzählung jener Geschehnisse, die sich von August bis Oktober 1969 in Darmstadt zugetragen haben. „Büchner Sixty-Nine“ rekapituliert eine Schulrevolte in Darmstädter Gymnasien, die sich mit Teach-Ins, Vollversammlungen, Streiks, Demos und Sitzblockaden zumindest in die Gedächtnisse der betroffenen Baby-Boomer und ihrer damaligen Elterngeneration tief eingeritzt hat. Primär ging es um die Entlassung aus dem Schuldienst, die einem beliebten Lehrer widerfuhr, weil er sich ganz anderer didaktischer Methoden bedient hatte, als sie in der konventionellen Gymnasial-Pädagogik bis dahin Alltag waren. Diesen Rauswurf ließen sich die Schüler so einfach, autokratisch von oben herab, nicht gefallen und opponierten lautstark. Und mit neuen Protestformen. Ein ungeheuerlicher Vorgang für den „Muff von tausend Jahren unter den Talaren“.
Damit kommen wir zum großen gesellschaftlichen Kontext jener Darmstädter Schüler-Aufmüpfigkeit, die Autor Frank Schuster schildert und vor dem nahen Hintergrund der Fridays-for-Future-Proteste wiederaufleben lässt. Und Aufklärung hilft ja immer, gerade dann, wenn sich schon mehr als ein halbes Jahrhundert vor die Tathergänge geschoben hat. Zeitgeschichte ist extrem schnelllebig geworden und „1968“ zu einer Chiffre geworden, der das Fleisch am Knochen häufig fehlt. Konkret: 1967 und 1968 waren für die junge Bundesrepublik Jahre des Protestes, der Auflehnung, der Verschiebung der politischen Achse innerhalb der Jugend nach links, eine Emanzipation der Jungen gegen die Alten. Dabei ging es bei den krawallartigen Studentenprotesten vor allem in (West-)Berlin nicht zimperlich zu. Der Student Benno Ohnesorg wurde 1967 von einem Polizisten erschossen, 1968 wurde der Studentenführer Rudi Dutschke von einem aufgehetzten Hilfsarbeiter am Rande einer Demo ebenfalls mit einer Schußwaffe schwer verletzt und überlebte nur knapp. Diese Aufgewühltheit, dieser sozial markante und immer besser organisierte Widerspruchsgeist forderte im Grunde nur die Einlösung vieler schöner, freiheitlich-demokratischer Rechtssubstanzen, die im Grundgesetz seit 1949 alle nachzulesen waren. Und er forderte neben dem offensiveren Aufräumen mit der NS-Zeit zuvorderst überfällige Bildungs- und Sozialreformen auf allen Ebenen.
„Büchner Sixty-Nine“ verweist plastisch darauf, dass dieser Widerspruchsgeist 1969 auch auf die Ebene der Schülerschaft in Gymnasien übersprang. Kein wirkliches Wunder: Hippie-Zeit und APO-Zeit wurden über Fernsehen und Radio und Zeitungen und Mode und die Internationale der Musik breit kommuniziert und damit auch jenseits der Metropolen sicht- und hörbar. In Darmstadt galt es nicht nur, das Erbe des Dichters und Rebellen Georg Büchner hochzuhalten, sondern auch konkret zu reagieren auf das Schicksal des Studienassessors Heinz Lüdde, den der Darmstädter Regierungspräsident in den Sommerferien 1969 aus dem Beamtenverhältnis entlassen hatte. Lüdde, kaum ein halbes Jahr Lehrkraft am Georg-Büchner-Gymnasium (GBS), hatte einen anderen Sexualkunde-Unterricht begonnen, andere Quellen genutzt zur Thematisierung der Judenverfolgung im Nationalsozialismus, und überhaupt: Lüdde nutzte die Chancen jener „antiauoritären Erziehung“, deren Grundsätze auch in der Gesamtgesellschaft drumherum munter disputiert wurden.
Kaum waren die Sommerferien vorüber, organisierten sich die Schülervertretungen von GBS, der Viktoria-Schule (ein reines Mädchen-Gymnasium) und des altsprachlichen Ludwig-Georg-Gymnasiums und verabredeten Stück für Stück einen Spätsommer des Widerstandes. Beratend halfen der „Republikanische Club“ und der AStA der Technischen Hochschule Darmstadt. Ein frühes Beispiel also für Protest-Vernetzung, dafür, wie zwischen unterschiedlich betroffenen Bildungseinrichtungen eine gemeinsame Handlungsstrategie entworfen wurde. Ein Höhepunkt waren die gemeinsam von Studenten und Schülern umgesetzten Störmanöver – inklusive versuchter Verlesung einer Resolution – während der Büchnerpreis-Verleihung 1969, damals an Helmut Heißenbüttel. Frank Schuster legt die klassische mediale Spekulation dahinter seinen Protagonisten so in den Mund: „Die Veranstaltung wird live im Fernsehen übertragen! Da können wir endlich mal allen da draußen zeigen, was hier in Darmstadt abgeht.“
Schuster nutzt alle verfügbaren Quellen für seine Darstellung des tumultösen Herbstes in Darmstadt. Er befragte Zeitzeugen und „Rädelsführer“ von damals, bediente sich aus Protokollen, Flugblättern, Briefwechseln, Bescheiden, Büchern und vor allem aus vielen Zeitungsartikeln, beispielsweise aus einem des Darmstädter Tagblatts vom 2.10.1969: „Demonstrierende Schüler handelten im Geiste Büchners“.
Das ist ein Stichwort: Dem „Geiste Büchners“ mehr alltagsgültige Gewichtung zu geben, ihn wieder präsenter zu halten in dessen ureigenem antiautoritären Impuls, zum Beispiel aus dem „Hessischen Landboten“ von 1834 („Friede den Hütten, Krieg den Palästen!“), dies ist der äußerst nutzbringende Nebeneffekt der Darstellungen in „Büchner Sixty-Nine“. Öffentlichkeit und Transparenz staatlichen Handelns sind Permanenz-Imperative in der und für die Demokratie. Insoweit liefert Schuster auch eine Hommage an den wachen Vormärz-Geist von Darmstadts Säulenheiligen. Bravo. Den Staub von dieser Figur immer wieder wegzupusten, und sei es durch eine Literarisierung von Schülerprotesten, ist ein höchst nötiger, aufklärerischer Akt.
Am Rande: Ex-Lehrer Heinz Lüdde, heute 89 Jahre alt, meint im Interview mit dem Darmstädter Echo im September 2025 auf die Frage, wie er das Biotop Schule heute sieht: „Das Streben nach Leistung und und die Vermittlung von Lernstoff stehen weiter im Vordergrund. Dabei gibt es doch so viel Wichtigeres, über das sich die Jugend Gedanken machen muss. Also, wenn ich heute nochmal an der Schule wäre: Ich fürchte, ich wäre schnell wieder draußen!“
Frank Schuster
Büchner Sixty-Nine
Roman
217 S., brosch.
ISBN: 978-3911008396
mainbook-Verlag, Frankfurt 2025
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Erstellungsdatum: 05.10.2025