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Modest P. Mussorgskis Oper „Boris Godunow“ in Frankfurt

Macht in Russland

Andrea Richter


Vorne v.l.n.r. Karolina Makuła (Fjodor) und Anna Nekhames (Xenia) sowie im Hintergrund Ensemble. Foto: Barbara Aumüller

Vor dem Opernhaus in Frankfurt zur Premiere von Boris Godunow eine Gruppe von Ukrainern, die gegen die Aufführung dieses explizit russischen Werks protestierten. Drinnen dann eine fulminante Darbietung der Oper: die Titelpartie des russischen Zars Boris gesungen von einem Ukrainer. Sein Gegenspieler Grigori, der falsche Dimitri, von einem Russen interpretiert, der unter polnischer Flagge nach Moskau zieht, um den Zarenthron zu übernehmen. Das Ganze inszeniert, von einem Britten, musikalisch geleitet von einem Bayern und ein Beweis dafür, dass Musik-Theater über aktueller Politik stehen kann, weil es einen Wert an sich hat, meint Andrea Richter. 


Gab es einen deutschen Komponisten, den Hitler mehr verehrte als Wagner? Nein, und trotzdem führte die New Yorker Metropolitan Opera seine Werke während des 2. Weltkriegs durchgängig auf, weil sie trotz ihrer - bis heute fragwürdigen - Inhalte unter Aspekten der Musik-Kunst für würdig erachtet wurden. Dasselbe gilt heutzutage für eine Oper von Modest Mussorgski. Das ist deshalb besonders zu betonen, da er Mitbegründer und Mitglied des могучая кучка, des „Mächtigen Häufleins“ war, einer Gruppe von fünf russischen Komponisten des 19. Jahrhunderts, die sich als Novatoren bezeichneten. Zu ihr gehörten außer Mussorgski Mili Balakirew, Alexander Borodin, César Cui und Nikolai Rimski-Korsakow. Ihr Ziel war die Förderung der nationalrussischen Musik. Sie kämpften gegen den akademischen Professionalismus und wollten aus dem Volkstum Russlands etwas Neues schaffen, eine eigene urrussische Klangsprache finden. Sie setzten sich damit von Kollegen wie Tschaikowski oder Rubinstein ab, die sich stärker an westeuropäischen Maßstäben orientierten. So bezeichnete denn Mussorgski seinen Boris Godunow als „musikalisches Volksdrama“ und das Volk - in Form von großen und kleineren Chören sowie einzelner Personen – nimmt breiten und gewichtigen Platz ein. Insgesamt zeichnet er tatsächlich ein großes Panoramabild Russlands, seiner Geschichte, seiner Menschen, seiner Kultur, Religion und vor allem seiner Klänge.


Alexander Tsymbalyuk (Boris Godunow) und Ensemble. Foto: Barbara Aumüller


Die Entstehungsgeschichte ist ziemlich kompliziert. Schon für die sogenannte Urfassung erhielt der in Instrumentierung unerfahrene Komponist Unterstützung von Freund Nikolai Rimski-Korsakow. Eine Uraufführung wurde dennoch abgelehnt, weil eine große Frauenrolle fehlte. Daraufhin fügte er vor allem das große „Polenbild“ mit der machthungrigen polnischen Woiwodin Marina und weitere Bilder hinzu. 1874 die ersehnte Uraufführung in Sankt Petersburg, wobei auch diese nicht vollständig war, weil Mussorgski bis zu seinem frühen Tod 1881 mehrere weitere Szenen noch nicht instrumentiert hatte. Trotzdem wurde sie zunächst im von Konflikten gebeutelten Land ein voller Erfolg, aber nach 25 Aufführungen aus politischen Gründen, sprich nach dem Sprengstoff-Attentat auf Reform-Zar Alexander II. 1881, abgesetzt. (Regisseur Keith Warner lässt es wohl deshalb in der Aufführung nach der Szene in der Schänke gewaltig knallen und das Wirtshaus an der Grenze zu Lettland mit Dynamit in Trümmer legen.)
Danach kam es erst 1888 in Moskau wieder auf die Bühne, jetzt vollständig von Rimski-Korsakow bearbeitet und musikalisch geglättet. In dieser Fassung wurde es zunächst berühmt und zog ab 1908 (Grand Opéra, Paris) in die Welt. Doch diese Version geriet ebenfalls in die Kritik und man fand soweit wie möglich zum Original zurück, bis auf die ausschließlich von Rimski-Korsakow instrumentierten Teile.  Dimitri Schostakowitsch nahm sich das Werk 1939/40 in den Zeiten grausamsten Stalinismus, unter dem er selbst sehr zu leiden hatte, nochmal vor, führte die vorhandene Instrumentation wieder stärker zum klanglich schrofferen Original zurück, verstärkte die (Klang-) Ironie wieder und verlieh ihm (inklusive der Einführung neuer Instrumente wie Celesta oder Xylophon) damit wohl die Klangsprache, die Mussorgski sich gewünscht hätte. 

Das Ergebnis ist in Frankfurt zu hören und beeindruckt in vielerlei Hinsicht.  Generalmusikdirektor Thomas Guggeis lotet jede, wie auch immer geartete Bewegung des Mega-Werks sowohl analytisch als aus emotional aus. Aus den melancholisch-elegischen, kleinen Fagott-Melodie-Takten des Anfangs, die langsam vom ganzen Orchester übernommen und weiterentwickelt werden und bald die ersten Momente von Zerrissenheit hörbar machen, ist bald das gebeutelte, bettelarme, klagende Volk auf der Bühne, wird von der Staatsmacht unterdrückt und gezwungen Ruhe zu halten, bis der neue Zar Boris (Alexander Tsymbalyuk, Bass) an der Macht ist. Ein ausgewogenes Hin und Her von Chören und Einzelstimmen, das Guggeis zielgerichtet innerhalb weniger Minuten zur spektakulären, überwältigenden Krönungszeremonie mit allem nur denkbaren musikalischem Pomp (insbesondere Glocken) steuert. Und das war nur der Prolog! 


Bildmitte Alexander Tsymbalyuk (Boris Godunow) und Michael McCown (Gottesnarr; davor kniend). Foto: Barbara Aumüller

 

Weiter geht es im 1. Akt im stärksten aller denkbaren Kontraste zum Vorgeschehen stehend, quasi kammermusikalisch ins Kloster von Uglitsch, wo 17 Jahre später Mönch Pimen (Andreas Bauer Kanabas, Bass) eine Chronik über die russische Geschichte verfasst. In seiner langen Erzählung erfährt Novize Grigori (Dmitri Golovnin, Tenor), dass er Boris den Mord am kleinen ehemaligen Thronfolger Dimitri vorwirft, um selbst den Thron zu besteigen. Damit bringt er Grigori auf die Idee, sich als Dimitri auszugeben, der jetzt genau sein Alter hätte. Er flieht aus dem Kloster zunächst Richtung Lettland, wo er an der Grenze in einem Wirtshaus bei Trunkenbolden landet. Herrlich rumpelige und teils sehr komische Szenen, bis dunkle Gestalten erscheinen, die Grigori auf der Spur sind. Fast haben sie ihn, da explodiert unter ohrenbetäubendem Knall eine Bombe (s.o.).

Völlig anders die Stimmung anschließend im Zarenpalast des 2. Aktes. Traurige und heitere Momente sowie krass-dissonanter Wahn prallen aufeinander und erschüttern die Zuhörerin. Wir erleben den liebevollen, gütigen Familienvater Zar Boris, der sich auf dem Höhepunkt seiner Macht befindet, diese gleichzeitig hinterfragt und sich gegen Intrigen absichern muss. Er möchte ein guter Zar sein. Andererseits zerfressen ihn Bedenken, ob er seine Stellung angesichts des Mordes an Dimitri überhaupt verdient. Ob er ihn wirklich umgebracht hat oder es sich lediglich um ein Gerücht handelt, das von Pimen in Umlauf gesetzt wurde, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Er selbst wird jedenfalls von furchtbaren Visionen des toten Kindes, begleitet von einem irren Soundtrack, heimgesucht und behauptet: „Ich war es nicht“.  Kann sein, kann nicht sein.

Im 3. Akt wird dann die Klangsprache eine deutlich andere, denn wir sind in Polen. Zwar noch immer slawisch geprägt, ist aber der russisch-düster-melancholische Grundton in der Musik verschwunden. Grigori ist es gelungen, als angeblicher Thronfolger Dimitri bei der polnischen Woiwodin Marina (Sofia Petrovic, Sopran) zu landen. Beide sind macht- und ansonsten auch geil und liefern sich und dem Publikum ein, wäre es nicht bereits eine Oper, würde man sagen opernreifes Spiel um Sex, Liebe, Eifersucht und Machtfantasien allerhöchster Qualität mit wunderbaren Arien (zum Teil an Lensky in Tschaikowskis Eugen Onegin erinnernd).  Die Sopran-Partie könnte aus einer italienischen Oper stammen und der Frauenchor (Don Carlo!) erst recht. Marina verspricht „Dimitri“ ewige Treue, wenn er mit ihr den Zarenthron besteigt. Die Chancen stehen gut, denn das polnische Heer ist stark.  

4. Akt: Die Kunde von dem sich mit polnischer Unterstützung nähernden Grigori hat sich verbreitet. Die Zar-Boris-Unterstützer verurteilen ihn zum Tod. Doch das hungernde Volk glaubt, dass es sich um den wahren Zarewitsch Dimitri handelt, und hofft auf eine bessere Zukunft unter seiner Ägide. Boris wird nach neuen Vorwürfen von Mönch Pimen endgültig wahnsinnig und stirbt. Es bricht Anarchie aus, die aufgebrachte Menge geht gegen jeden und alles los. Massenszenen, Choräle, tobendes Orchester. Als „Dimitri“ mit seinen (welche Ironie: katholischen, lateinisch-gregorianisch singenden Begleitern!) erscheint, jubelt sie, drängt die orthodoxen Priester beiseite und stimmt ein Loblied auf „Dimitri“ an. Dem Gottesnarr, der auch die ersten Worte im Prolog der Oper sang, fallen 4 ½ Stunden (inklusive zwei Pausen) später auch die letzten Sätze zu: „Weine, weine, russisches Volk, hungerndes russisches Volk“.

Die bis in die kleinsten Rollen ausgewogene, hochkarätige und auch schauspielerisch ausnahmslos überzeugende Sänger:innen-Besetzung, die umwerfenden Chöre und das über sich selbst hinausgewachsene Orchester ließen keinen Moment lang ein Gefühl des Zuviels aufkommen, was bei einer solchen Dauer kein Wunder gewesen wäre.


Bildmitte Michael McCown (Gottesnarr; unter dem Tisch kniend) und Ensemble. Foto: Barbara Aumüller

 

Dazu trägt die Regie von Keith Warner bei. Zum Glück versucht er nicht, die Geschichte auf Aktualität zu trimmen.  Er hinterfragt vielmehr, was Macht in Russland speziell und ganz allgemein ausmacht und wie sie funktioniert, wie der Mensch im Spannungsfeld von Gegenwart und Vergangenheit lebt, was Wahrheit ist, was Lüge? Sei es im 16. Jahrhundert zu Zar Boris Zeiten oder zu denen von Mussorgski im 19. oder zu denen von Schostakowitsch im 20. Jahrhundert oder zu unseren heute. Er beschreibt es im Programmheft als „eine Befragung unserer Zeit, aller Zeiten…“ Das kommt durch mehrere Elemente gut zum Ausdruck: Die Kostüme, die Anleihen bei allen genannten Jahrhunderten nehmen. Der Thron, der sich vom geschnitzten Holzthron in ein aufklappbares Riesen-Fabergé-Ei wandelt. Eine große Uhr mit fortschreitenden Zeigern die irgendwann aufspringt und ihr inneres, ewig weiterarbeitendes Räderwerk zeigt.

Die sehr unterschiedlichen, großartigen Bühnenbilder, die mit wenigen Requisiten auskommen, werden durch ausgeklügelte Video-Informationen zu Geografie und zur Geschichte der Zaren angereichert oder visualisieren gekonnt Boris zunehmenden Wahn. Das heißt, das herkömmliche Musik-Bühnen-Theater wird um die Dimension „Kino“ erweitert. Was dem Werk gut bekommt, denn vieles könnte sowieso, genau wie bei Wagner, als Filmmusik dienen.

Summa, summarum: ein toller Abend!        

  

 

 

Foto: Barbara Aumüller

 

Boris Godunow
Oper in vier Akten mit Prolog
Musik: Modest P. Mussorgski (1839–1881)
Text: vom Komponisten nach Alexander S. Puschkin und Nikolai M. Karamsin
Uraufführung der zweiten Fassung 1874, Mariinski-Theater, St. Petersburg
Instrumentation von Dmitri D. Schostakowitsch (1939/40)

 

Besetzung
Musikalische Leitung
Thomas Guggeis

Inszenierung
Keith Warner

Bühnenbild, Kostüme
Kaspar Glarner

Video
Jorge Cousineau

Chor, Kinderchor
Álvaro Corral Matute

Dramaturgie
Mareike Wink

 

Boris Godunow
Alexander Tsymbalyuk

Fjodor
Karolina Makuła

Xenia
Anna Nekhames

Xenias Amme
Judita Nagyová

Fürst Schuiski / Bojar Chruschtschow
AJ Glueckert

Pimen
Andreas Bauer Kanabas

Grigori Otrepjew
Dmitry Golovnin

Marina Mnischek
Sofija Petrović

Rangoni
Thomas Faulkner

Warlaam
Inho Jeong

Missail
Peter Marsh

Schankwirtin
Claudia Mahnke

Gottesnarr / Leibbojar
Michael McCown

Andrei Schtschelkalow
Mikołaj Trąbka

Mikititsch / Tschernikowski
Morgan-Andrew King°

Mitjucha / Lawitzki
Frederic Jost

Frauen aus dem Volk
Magdalena Tomczuk
Chloe Robbins
Grace Eunchoung Choi
Tiina Lönnmark

Chor und Kinderchor der Oper Frankfurt
Frankfurter Opern- und Museumsorchester

Weitere Vorstellungen: 6., 8., 14., 21., 23., 26. November 2025

Oper Frankfurt

Erstellungsdatum: 05.11.2025