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Chantal Akerman im Gespräch mit Marli Feldvoß

Männer sind weitgehend am Ende

Marli Feldvoß


Chantal Akerman (2015) Foto: Mario De Munck. wikimedia commons

Mut und unabhängiges Denken sind die Voraussetzungen dafür, etablierte Regeln des Films zu ignorieren, der eigenen Intuition zu vertrauen, der Eigentendenz des Bildes, dem Gestaltungswillen und der Szene zu folgen. Das Resultat ist die Neuerfindung der Formen und damit der Filmästhetik: Am 5. Oktober vor zehn Jahren schied Chantal Akerman aus dem Leben. Was mit ihr verloren gegangen ist, ist nachzulesen in einem Interview, das Marli Feldvoß mit der belgischen Filmregisseurin führte.

 

Marli Feldvoß: Chantal Akerman, Sie sind von Anfang an mit einem eigenwilligen Stil aufgefallen, mit einem Gefühl für Strenge, für Struktur, Sie haben sich nicht so sehr für das Narrative interessiert. Was heißt das für Sie? Suche nach einem Stil, Suche nach einer Struktur?

Chantal Akerman: Egal welcher künstlerischen Arbeit man nachgeht, die Form ist immer sehr wichtig. Ein Maler sucht seine Form, ein Schriftsteller, ein Filmemacher genauso. Das Kino ist natürlich mehr Teil einer Industrie als die anderen Künste, aber ich tue so, als wäre das Kino nicht Teil einer Industrie. Ich mache Kino, wie der Maler malt, so gehe ich damit um. Ich mache mir keine Gedanken über die kommerzielle Seite. Ich versuche, etwas so auszudrücken, wie ich es für mich als richtig empfinde, da ist die Suche nach einer Form unabdingbar.

Sie wollten aber schon immer einen Film mit einem großen Budget machen. Sie drehen ja nicht nur billige, arme Filme.

Das heißt nicht, dass es armes Kino sein muss. Wenn man etwas schreibt und sich etwas Bestimmtes vorstellt, kalkuliert man, wieviel es kostet und sagt sich: Okay, das kostet soundsoviel. Aber der Ausgangspunkt ist nicht die Idee, etwas Billiges zu machen. Es gibt so etwas, was ich Realpolitik nenne. Ich sage mir, in meiner Position kann ich im Augenblick nicht mehr als zehn Millionen Französische Francs auftreiben, also versuche ich, diese Grenze nicht zu überschreiten, sonst dauert es zehn Jahre, und das ist es nicht wert.

Sie waren ja einmal in Hollywood.

Ja, ich war in Hollywood, weil ich zwei Bücher von Singer für den Film bearbeiten wollte. Aber mir wurde bald klar, dass ich niemals das Geld dafür finden würde. Ich hatte damals noch sehr naive Vorstellungen über das System. Heute bin ich nicht mehr so naiv, was System und Geld anbelangt. Ich war nicht so lange dort, nur drei Monate. Ich habe auch nicht so viele Leute getroffen. Mein Drehbuch habe ich nur wenigen gezeigt. Jeder hat gesagt, es sei zu teuer. Dann bin ich nach Paris zurückgekehrt.

Sie träumen nicht davon, dorthin zurückzukehren?

Nein. Man ist da ja so misstrauisch Europäern gegenüber. Sogar gegenüber denen, die sogenannte kommerzielle Filme machen. Es war einfach ein bisschen unrealistisch, mir vorzustellen, dass ich dort arbeiten könnte. Aber ich habe mir das nicht so klar gemacht, ich wusste erst hinterher, dass das nichts für mich ist. In Los Angeles gibt es so viel Angst. Da schreibt einer ein Drehbuch. Das Drehbuch ist nicht schlecht. Aber es wird, ich weiß nicht wieviel Mal, umgeschrieben, bis alle Substanz daraus verschwunden ist. Und all das geschieht aus Angst. Die Leute, die ihr Geld investieren, haben Angst. Deshalb kann ein Drehbuch in seiner ersten Fassung gar nicht gut sein. Die Leute haben zuviel Angst. Letztlich hat jeder Angst, seine Arbeit, seine Stelle zu verlieren, und keiner weiß so genau, was schließlich Geld bringt. Denn es geht ja nicht darum, einen guten Film zu machen, es geht nur ums Geldverdienen. Hier in Europa gibt es noch Leute, die einen guten Film produzieren wollen. Da drüben ist man natürlich auch froh, wenn der Film gut wird, aber in erster Linie geht es darum, dass es einen Markt dafür gibt. Das kommt zuerst.

Aber bleiben wir bei Amerika. Sie waren sehr oft in Amerika. Was für eine Rolle spielt für Sie dieses Land?

Ich bin zum ersten Mal mit einundzwanzig nach Amerika gekommen, und mir hat damals New York sehr gut gefallen. Ich habe mich da sehr frei gefühlt. Ich war 21 und habe eine neue Welt entdeckt. Wunderbar. Ich habe dort das unabhängige, das Underground-Kino entdeckt, den Experimentalfilm. Das hat mir auch eine gewisse Gedankenfreiheit über das Kino vermittelt. Heute gibt es in New York eine solche Armut, das macht es nicht leicht. Wenn man sich dort bewegt, muss man über die Leute hinwegsehen, sonst wird man furchtbar deprimiert. Gleichzeitig muss man sie einfach ansehen, sie sehen. Das ist heute manchmal schlimmer als in der Dritten Welt. Trotzdem habe ich mich damals dort sehr wohl gefühlt.

Ihr Film „Histoires D’Amérique“ hat mir sehr gut gefallen. Da spürt man eine große Enttäuschung über dieses Land. Sie reden immer von „a heart of stone“, im Vergleich zur Heimat, zu Polen, zu Europa, es ist das Land mit dem kalten Herzen, aber es ist ein Land, wo die Juden bleiben können. Trotz allem ein fröhlicher Film, er ist nicht traurig.

Nein. Weil sie eine solche Lebenskraft besitzen. Es ist doch so, in Polen waren die Juden unter sich. In New York muss man überleben, Geld verdienen, von vorn anfangen, da herrscht das Marktgesetz, aber es gibt keine Pogrome. Sie haben sich verändert, da drüben.

Wie sind Sie auf diese Idee gekommen, diese kleinen Geschichten aneinanderzureihen?

Ich wollte die Witze zwischen die Monologe setzen, weil der jüdische Witz so funktioniert. Man befindet sich in einer ausweglosen Situation, und man lacht darüber. Deshalb fand ich es richtig, es so zu erzählen: Geschichten und dazwischen die Witze. Ich wollte zeigen, was das einmal war, der jüdische Geist. Und es ist wirklich so, in den schlimmsten Situationen haben die Juden immer Witze gemacht. Mir hat dieser Film unheimlichen Spaß gemacht. Meine Erinnerung daran ist das vollkommene Glück. Ich glaube, das kommt von der Begegnung mit all diesen Leuten, von der Thematik. Alle fanden es wichtig, jeder hatte seinen persönlichen Grund, diesen Film zu machen. Es war nicht das Geld, die Arbeit oder der schöne Film, es gab tiefere Gründe, es war eine kollektive Arbeit, die wunderbar war, eine wahre Begegnung. Ich habe dabei viele Freunde gewonnen, wirkliche Freunde, keine Arbeitsbekanntschaften, sondern Freunde fürs Leben.

 

Erstellungsdatum: 17.08.2025