Mut und unabhängiges Denken sind die Voraussetzungen dafür, etablierte Regeln des Films zu ignorieren, der eigenen Intuition zu vertrauen, der Eigentendenz des Bildes, dem Gestaltungswillen und der Szene zu folgen. Das Resultat ist die Neuerfindung der Formen und damit der Filmästhetik: Am 5. Oktober vor zehn Jahren schied Chantal Akerman aus dem Leben. Was mit ihr verloren gegangen ist, ist nachzulesen in einem Interview, das Marli Feldvoß mit der belgischen Filmregisseurin führte.
Marli Feldvoß: Chantal Akerman, Sie sind von Anfang an mit einem eigenwilligen Stil aufgefallen, mit einem Gefühl für Strenge, für Struktur, Sie haben sich nicht so sehr für das Narrative interessiert. Was heißt das für Sie? Suche nach einem Stil, Suche nach einer Struktur?
Chantal Akerman: Egal welcher künstlerischen Arbeit man nachgeht, die Form ist immer sehr wichtig. Ein Maler sucht seine Form, ein Schriftsteller, ein Filmemacher genauso. Das Kino ist natürlich mehr Teil einer Industrie als die anderen Künste, aber ich tue so, als wäre das Kino nicht Teil einer Industrie. Ich mache Kino, wie der Maler malt, so gehe ich damit um. Ich mache mir keine Gedanken über die kommerzielle Seite. Ich versuche, etwas so auszudrücken, wie ich es für mich als richtig empfinde, da ist die Suche nach einer Form unabdingbar.
Sie wollten aber schon immer einen Film mit einem großen Budget machen. Sie drehen ja nicht nur billige, arme Filme.
Das heißt nicht, dass es armes Kino sein muss. Wenn man etwas schreibt und sich etwas Bestimmtes vorstellt, kalkuliert man, wieviel es kostet und sagt sich: Okay, das kostet soundsoviel. Aber der Ausgangspunkt ist nicht die Idee, etwas Billiges zu machen. Es gibt so etwas, was ich Realpolitik nenne. Ich sage mir, in meiner Position kann ich im Augenblick nicht mehr als zehn Millionen Französische Francs auftreiben, also versuche ich, diese Grenze nicht zu überschreiten, sonst dauert es zehn Jahre, und das ist es nicht wert.
Sie waren ja einmal in Hollywood.
Ja, ich war in Hollywood, weil ich zwei Bücher von Singer für den Film bearbeiten wollte. Aber mir wurde bald klar, dass ich niemals das Geld dafür finden würde. Ich hatte damals noch sehr naive Vorstellungen über das System. Heute bin ich nicht mehr so naiv, was System und Geld anbelangt. Ich war nicht so lange dort, nur drei Monate. Ich habe auch nicht so viele Leute getroffen. Mein Drehbuch habe ich nur wenigen gezeigt. Jeder hat gesagt, es sei zu teuer. Dann bin ich nach Paris zurückgekehrt.
Sie träumen nicht davon, dorthin zurückzukehren?
Nein. Man ist da ja so misstrauisch Europäern gegenüber. Sogar gegenüber denen, die sogenannte kommerzielle Filme machen. Es war einfach ein bisschen unrealistisch, mir vorzustellen, dass ich dort arbeiten könnte. Aber ich habe mir das nicht so klar gemacht, ich wusste erst hinterher, dass das nichts für mich ist. In Los Angeles gibt es so viel Angst. Da schreibt einer ein Drehbuch. Das Drehbuch ist nicht schlecht. Aber es wird, ich weiß nicht wieviel Mal, umgeschrieben, bis alle Substanz daraus verschwunden ist. Und all das geschieht aus Angst. Die Leute, die ihr Geld investieren, haben Angst. Deshalb kann ein Drehbuch in seiner ersten Fassung gar nicht gut sein. Die Leute haben zuviel Angst. Letztlich hat jeder Angst, seine Arbeit, seine Stelle zu verlieren, und keiner weiß so genau, was schließlich Geld bringt. Denn es geht ja nicht darum, einen guten Film zu machen, es geht nur ums Geldverdienen. Hier in Europa gibt es noch Leute, die einen guten Film produzieren wollen. Da drüben ist man natürlich auch froh, wenn der Film gut wird, aber in erster Linie geht es darum, dass es einen Markt dafür gibt. Das kommt zuerst.
Aber bleiben wir bei Amerika. Sie waren sehr oft in Amerika. Was für eine Rolle spielt für Sie dieses Land?
Ich bin zum ersten Mal mit einundzwanzig nach Amerika gekommen, und mir hat damals New York sehr gut gefallen. Ich habe mich da sehr frei gefühlt. Ich war 21 und habe eine neue Welt entdeckt. Wunderbar. Ich habe dort das unabhängige, das Underground-Kino entdeckt, den Experimentalfilm. Das hat mir auch eine gewisse Gedankenfreiheit über das Kino vermittelt. Heute gibt es in New York eine solche Armut, das macht es nicht leicht. Wenn man sich dort bewegt, muss man über die Leute hinwegsehen, sonst wird man furchtbar deprimiert. Gleichzeitig muss man sie einfach ansehen, sie sehen. Das ist heute manchmal schlimmer als in der Dritten Welt. Trotzdem habe ich mich damals dort sehr wohl gefühlt.
Ihr Film „Histoires D’Amérique“ hat mir sehr gut gefallen. Da spürt man eine große Enttäuschung über dieses Land. Sie reden immer von „a heart of stone“, im Vergleich zur Heimat, zu Polen, zu Europa, es ist das Land mit dem kalten Herzen, aber es ist ein Land, wo die Juden bleiben können. Trotz allem ein fröhlicher Film, er ist nicht traurig.
Nein. Weil sie eine solche Lebenskraft besitzen. Es ist doch so, in Polen waren die Juden unter sich. In New York muss man überleben, Geld verdienen, von vorn anfangen, da herrscht das Marktgesetz, aber es gibt keine Pogrome. Sie haben sich verändert, da drüben.
Wie sind Sie auf diese Idee gekommen, diese kleinen Geschichten aneinanderzureihen?
Ich wollte die Witze zwischen die Monologe setzen, weil der jüdische Witz so funktioniert. Man befindet sich in einer ausweglosen Situation, und man lacht darüber. Deshalb fand ich es richtig, es so zu erzählen: Geschichten und dazwischen die Witze. Ich wollte zeigen, was das einmal war, der jüdische Geist. Und es ist wirklich so, in den schlimmsten Situationen haben die Juden immer Witze gemacht. Mir hat dieser Film unheimlichen Spaß gemacht. Meine Erinnerung daran ist das vollkommene Glück. Ich glaube, das kommt von der Begegnung mit all diesen Leuten, von der Thematik. Alle fanden es wichtig, jeder hatte seinen persönlichen Grund, diesen Film zu machen. Es war nicht das Geld, die Arbeit oder der schöne Film, es gab tiefere Gründe, es war eine kollektive Arbeit, die wunderbar war, eine wahre Begegnung. Ich habe dabei viele Freunde gewonnen, wirkliche Freunde, keine Arbeitsbekanntschaften, sondern Freunde fürs Leben.
Wie haben Sie all diese Geschichten gefunden?
Ich habe mich von Briefen inspirieren lassen, die Juden an eine jiddische amerikanische Zeitung geschickt haben. Voilà. Die Geschichte, die ich am Anfang selbst erzähle, über den Rabbi im Wald, ist eine chassidische Geschichte, eine sehr bekannte Geschichte. Die Witze habe ich gelesen oder gehört und ein bißchen umgeschrieben. Und den Schluß über „Stanton Street“, den habe ich selbst geschrieben. Das ist doch lustig, oder?
Ich habe den Eindruck, daß Sie sich immer mehr Ihrer jüdischen Geschichte bewußt werden. Für mich ist es so, als würden Sie sich Ihre eigene Geschichte erfinden.
Für „Histoires d’Amérique“ gilt das auf jeden Fall. Es ist so etwas wie eine imaginäre Erinnerung. Da man mir keine Erinnerungen mitgegeben hat, da ich keine Wurzeln habe, sind das tatsächlich ausgedachte Erinnerungen, die wahr sein könnten, aber es nicht unbedingt sind. Ich habe mich eigentlich immer damit beschäftigt, schon in meinem Film „Rendez-vous d’Anna“ hat es das gegeben. Ich arbeite schon lange an diesem Themenkomplex, es fällt mir aber schwer. In „Histoires d’Amérique“ habe ich es aber zum ersten Mal so offen ausgesprochen. Unterschwellig findet man das auch in anderen Filmen von mir, ganz sicher in „Les Rendez-vous d’Anna“, doch auch in „Jeanne Dielman“. Es liegt daran, wie Delphine Seyrig spricht, darin liegt ein Stück Seele, etwas Psalmodisches, ein Singsang, der mich an meine Kindheit erinnert, an meinen Großvater. Mir kommt es so vor, als gäbe es bei den Juden aus Zentraleuropa einen unverkennbaren Rhythmus, wenn sie anfangen, eine Geschichte zu erzählen. Ein Rhythmus, der daher rührt, wie man in der Synagoge betet, glaube ich. Das heißt aber nicht, daß sie anfangen, an Gott zu glauben; sie finden nur einen bestimmten Rhythmus wieder, eine Art Gesang. Es ist vieles verlorengegangen. Nur für die religiösen Juden besteht noch ein Zusammenhang mit der Vergangenheit. Diejenigen, die weggegangen sind, haben die Beziehung dazu abgebrochen, was es einmal hieß, Jude zu sein.
Ich glaube, das ist eine Entwicklung, die sich in anderen Phänomenen des modernen Lebens wiederholt, das gilt nicht nur für die Juden, sondern für alle. Das moderne Leben, das heißt von den Wurzeln abgeschnitten zu sein.
Nein, das gilt natürlich nicht nur für die Juden. Aber es ist bei den Juden so klar und deutlich wegen der Geschehnisse in der Vergangenheit. Für die Deutschen muß es genauso sein, nur umgekehrt. Ich denke mir, daß man in vielen Familien nicht unbedingt wissen will, was der Vater oder Großvater gemacht hat. Also gibt es einen ebensolchen Schnitt, nur aus anderen Gründen, es ist wie ein Spiegelbild. Es ist merkwürdig, ich habe „Les rendez-vous d’Anna“ letztes Jahr wiedergesehen, es kam mir vor wie eine Vorahnung über das, was jetzt eingetreten ist. Diese befremdliche Geschichte mit Ostdeutschland, die ist ja auch nicht so klar. Man spürt es schon in diesem Film. Ich weiß nicht, warum. Aber jetzt habe ich keine besondere Lust, mich gerade mit Deutschland zu beschäftigen.
Sie beschäftigen sich mit anderen Dingen, welchen?
Um es politisch auszudrücken, man spürt hier eine ungute Atmosphäre. Zwischen Ökonomie und Rassismus schält sich immer mehr eine Verbindung heraus. Man hat den Eindruck, daß Frankreich immer rassistischer wird und daß es eine Art neue Armut gibt. Ich glaube, daß die kommenden Jahre sehr schwierig werden. Das macht mir Angst. Vielleicht bin ich ja pessimistisch, ich bin sowieso eher pessimistisch. Aber vor fünfzehn Jahren hat man diesen Rassismus nicht so gespürt. Er wird immer stärker und immer normaler. Es ist heute normal zu sagen, daß man diese oder jene Person außer Landes verweisen will. Im Augenblick richtet sich das gegen die Araber. Aber Rassismus ist Rassismus. Das fängt mit den Arabern an und hört mit dem Nachbarn auf. Früher, in den siebziger Jahren, hätte ein Typ wie Le Pen keinen Fuß auf den Boden gekriegt. Heute schart er schon eine beachtliche Gemeinde um sich, und diese Leute sagen in aller Ruhe schreckliche Dinge, als wäre es wieder normal geworden, so etwas zu sagen. Das macht mir heute Angst. Ich frage mich, wie das weitergehen soll. Ich habe nie Politik gemacht, war nie in einer Partei, aber wenn sich die Situation verschlechtert, habe ich das Gefühl, daß auch ich etwas unternehmen muß. Man kann das nicht einfach so laufen lassen.
Es gab ein Buch von einer Engländerin, die einen Nazi interviewt hat, Sprengler oder so ähnlich, er ist gerade gestorben. Er hat ihr sein Leben erzählt. Er war Leiter eines Konzentrationslagers. Aber wie das einmal angefangen hat – ihm ist ein kleines Mißgeschick unterlaufen, unbedeutend, etwas, was jedem passieren könnte. Und zu der kleinen Sache kam noch eine und eine größere und eine noch größere und eines Tages war er Kommandant eines Konzentrationslagers. Das war ein ganz normaler Typ wie jeder andere, aber er hatte einmal einen kleinen Fehler gemacht. Deshalb hatte er Angst, und die Nazis wußten das.
Was ich damit sagen will, ich hoffe, daß es nicht so weit kommt, aber wenn sich der Rassismus in Frankreich noch etwas verschlimmert, muß man ganz entschieden Stellung nehmen. Die Leute werden sich entscheiden müssen, sie können nicht mehr in diesem Sumpf bleiben, in dem man heute ist, in dieser allgemeinen Trägheit, wo man sich auf die Konventionen beruft. Meiner Ansicht nach werden sich die Leute wieder fragen müssen, wo sie eigentlich stehen.
Das ist aber doch nicht schlecht.
Aber das sage ich doch. Selbst wenn es mit den großen Ideologien zu Ende ist, gibt es eine Möglichkeit, sich zu definieren, ethisch und moralisch, und sich entsprechend zu verhalten. Auf jeder Ebene: in der Beziehung zum Andern, in der Gesellschaft, in jeder Beziehung. Heute gibt es eine solche Trägheit. Das Wort Korruption ist zu stark, aber man spürt so ein allgemeines Gewährenlassen. Ich denke, daß alles noch schlimmer wird, und dann wird es wieder so etwas geben wie Moral, eine neue Ethik.
Denken Sie daran, diese Probleme auch in Ihren Filmen aufzugreifen?
Ja, durchaus.
Es ist zwar schon in Ihrer Arbeit enthalten, aber nicht explizit.
Ich denke, daß es wichtiger ist, etwas implizit zu sagen. Wenn es explizit ist, wird man es zu schnell wieder los. Man sagt sich: Ach ja. Wenn es implizit gesagt wird, geht es mehr unter die Haut.
Also werden Sie weiter Frauenfilme machen.
Ich mache weiter Filme von Chantal Akerman.
...die eine Frau ist.
Ja, von jüdischer belgischer Herkunft mit polnischer Abstammung, all das zusammen. Die Tatsache, daß ich Jüdin bin, ist für mich genauso wichtig wie eine Frau zu sein.
Sehen Sie das erst in letzter Zeit so oder schon immer?
Immer schon.
Mir scheint, daß der Judaismus jetzt in Mode gekommen ist.
Seit zwanzig Jahren will ich einen Film darüber machen. Mein Singer-Projekt stammt aus dem Jahr 1979. Damals war es noch keine Mode. Seit zwanzig Jahren will ich einen Film über die Diaspora machen, ich habe es einfach nicht geschafft. Es macht mich nicht besonders unglücklich, daß es jetzt in Mode gekommen ist. Es ist auch kein Wunder. Denn es gibt ja keine Ideologien mehr. Alle diese jungen Juden, die zur Linken gehörten –so jung sind sie heute nicht mehr –, sie waren alle Linke. Viele denken heute darüber nach, was es heißt, Jude zu sein, und das Bibelstudium ist ja sehr faszinierend. (Telefonklingeln) Beim Bibelstudium kann man sehr viel entdecken. Es gibt da eine Logik, die die ehemaligen Linken sehr anspricht, im Talmud gibt es einen solchen Gedankenreichtum, gerade, was die Beziehung zum Andern anbelangt. Es gibt einen jüdisch-französischen Philosophen, Emmanuel Levinas, der sich mit Bibelexegese befaßt, er schreibt Kommentare zu den Versikeln. Eine unglaubliche Gedankenwelt. Die Leute, die das wieder entdecken, sind davon sehr beeindruckt. Ich kenne mich da nicht so aus. Früher, als meine Cousine noch hier lebte, hat sie mich jeden Samstag zu Levinas mitgenommen. Heute mache ich das nicht mehr, ich bin zu faul, es ist im 16. Arrondissement, ganz schön weit. Aber mit ihr zusammen bin ich hingegangen, weil man danach darüber sprechen konnte, es blieb nicht einfach so stehen, es hatte Folgen.
Sie wissen ja, daß Ihre Filme „Jeanne Dielman“ und „Les rendez-vous d’Anna“ bei uns sehr diskutiert wurden. Sie waren zwar nicht im großen Kino, aber man kannte sie. Mir ist aufgefallen, daß Sie nicht gern sogenannte „Frauenfilme“ machen.
Aber nein, ich lehne das nicht ab. Aber es gefällt mir nicht, daß man sofort eine Theorie daraus gebastelt hat, was das ist, ein Frauenfilm. Man darf den Frauenfilm einfach nicht auf bestimmte Merkmale festlegen. Er kann alles sein. Mir hat nicht gefallen, daß man mit sehr wenig Hintergrundwissen sofort angefangen hat zu theoretisieren, das habe ich als Einschränkung erlebt. Für mich ist es keine Frage, daß die Frauen viel zu sagen und zu tun haben. Die Männer sind weitgehend am Ende, ihnen fällt nicht mehr allzuviel ein. Das ist bei den Frauen ganz anders. Im Augenblick ist das zwar etwas rückläufig, wie es allgemein eine Art Rückentwicklung gibt. Aber wir sind eine lebendige Kraft.
Damals gab es den Wunsch, ein Territorium für sich zu besetzen, um sich erst einmal zu definieren.
Ich sage ja nicht, daß das alles schlecht war. Aber ich fühlte gleich eine gewisse Abschottung. Frauenfilm, na ja. Ich wußte immer nur, was ich, Chantal Akerman, zu tun hatte. Und ich bin eine Frau. Bon. Und man sagte mir, Deine Filme sind feministisch. Willst Du feministische Filme machen? Ich wollte nicht unbedingt feministische Filme machen. Ich habe mich immer für einen Film entschieden, der mich in dem Augenblick interessierte, in dem ich ihn gemacht habe. „Jeanne Dielman“ erzählt natürlich von einer Frau, aber es ist auch ein Film über die Zeit, So habe ich immer gedacht. Das heißt, ich mache keine feministischen Filme, ich mache einfach Filme, aber ich bin Feministin, das ist sicher. Vor allem heute, wo es nicht mehr in Mode ist. Wie oft habe ich junge Frauen, junge Autorinnen, im Fernsehen gesehen – Ich, Feministin? Um Gotteswillen, nein! Als hätte man die Pest. Sie machen sich überhaupt nicht klar, daß sie ihre Kraft zum Schreiben vielleicht den Frauen verdanken, die einmal gekämpft haben. Heute gehen viele eine Allianz mit den Männern ein, gegen die anderen Frauen. Kein Wunder, daß wir heute den Rassismus haben, das geht alles zusammen. Man fragt sich: Warum haben wir Ende der sechziger und in den siebziger Jahren gekämpft? Heute ist alles niedergemacht. Heute wollen die Leute heiraten, Geld verdienen, den sozialen Aufstieg.
Wie ist es zu Ihrem Interesse für Pina Bausch gekommen?
Ich war 1980 in Köln und habe „Kontakthof“ und „Bandoneon“ gesehen. Das hat mich damals sehr interessiert. Später bekam ich den Auftrag, einen Film über sie zu drehen. Aber das ist heute vorbei, ich möchte nichts mehr von ihr sehen. Am Anfang war ich sehr beeindruckt von ihrem Talent und von der Schönheit, aber nachdem ich den Film gemacht habe, fünf, sechs Wochen lang immer das gleiche gesehen habe, hat es mich sehr abgestoßen, da war plötzlich eine große Ablehnung.
Warum? War es das Repetitive?
Es ist einfach zu sadistisch. Da geschieht etwas Merkwürdiges. Sie versetzt den Zuschauer in die Lage, mittels der Schönheit etwas zu genießen, was ganz abscheulich ist. Ich möchte das nicht mehr sehen. Das ist mein persönliches Problem.
In „Libération“ gab es einmal eine Umfrage: Warum sind Sie Regisseur, Regisseurin geworden? Was würden Sie heute darauf antworten?
Damals habe ich, glaube ich, gesagt, es sei eine Art, die Zeit zu verbringen. Und das ist auch wahr. Warum nicht seine Zeit damit zubringen, etwas zu tun, was man liebt. Ich habe doch Glück gehabt. Sonst hätte ich vielleicht auch in einer Boutique arbeiten müssen wie meine Mutter. Ich glaube, es bringt mir mehr, mein Leben damit zu verbringen, Filme zu machen. Man muß immer wach bleiben, lesen, nachdenken, Leute treffen. Das ist nicht immer berauschend. Fünf Prozent sind gut, den Rest kann man vergessen.
Alle Ihre Filme spielen in der Nacht, es sind nokturne Filme. Warum?
Weil sich in der Nacht alles besser abhebt, alles kommt besser heraus, es wird grundsätzlicher, es fehlen die vielen kleinen natürlichen Details. Bei einem Bild draußen in der Nacht kommt alles heraus, was wichtig ist. Es bleibt nur das übrig, was wichtig ist.
Aber man braucht die Beleuchtung, um es sichtbar zu machen.
Ja, aber man kann sich für das entscheiden, was man sehen möchte. Bei einem Tagesfilm sieht man hingegen alles. Man kann sein eigenes Bild erfinden, man arbeitet wie in einem Studio. In der Nacht ist auch das Zeitgefühl ein anderes. Man hat beinahe den Eindruck, man habe die ganze Zeit zur Verfügung. Die Nacht bricht an. Und wenn die Nacht angebrochen ist, rührt sich nichts mehr bis zum Tagesanbruch. Tagsüber ist alles in Bewegung. (Telefonklingeln)
Diese nokturnen Filme, die Nacht, da spielt doch auch der Tod eine Rolle.
Kino und Tod, das gehört immer zusammen. Es gibt einen Text von Roland Barthes über Fotografie, der das sehr gut erklärt. Man nimmt Leute auf und das eine gewisse Zeitlang, und die fehlt ihnen hinterher am Leben. Ach, ich weiß einfach nicht. Ich habe früher so viel geredet, daß dadurch etwas erloschen ist. Im Grunde wiederholt man sich irgendwann nur noch. Es fällt mir heute schwer. Es fällt mir nicht mehr leicht, weil ich erschöpft bin, nicht physisch, aber es gibt vieles, was bereits gesagt ist. Was ich damals gesagt habe, das habe ich nicht erfunden, aber die Dinge sind mir im Augenblick des Sprechens zugefallen, das war spontan. Später habe ich mich nur noch wiederholt, das hat mich abgestoßen. Begnadete Momente sind selten. Als ich anfing, Filme zu machen, und als man anfing, mich zu befragen, habe ich gesucht und gleichzeitig gefunden. Heute entdecke ich weniger und seltener, heute erlebe ich die Wiederholung. Und wenn Sie anfangen, vom Tod zu reden, stellt sich sofort dieses Gefühl der Wiederholung ein, ein demütigendes Gefühl.
Ich habe den Eindruck, daß Sie zögern, wenn ich Sie etwas über Ihren Werdegang frage, oder auch zum Thema Tod, das ist mir aufgefallen. Aber es gibt andere Momente, da fällt Ihnen das Reden ganz leicht.
Zum Beispiel diese Geschichte mit dem Tod. Man spürt, daß das etwas mit dem Kino zu tun hat. Es ist immer das gleiche, egal, was man tut, es hat immer zwei Seiten. Es ist ein Stück Auflehnung, ein Stück Schöpfung, wenn man dem Tod etwas stiehlt, man tut etwas, auf der einen Seite, auf der anderen Seite ist es gegenläufig. Das hat etwas Dialektisches. Das geht in beide Richtungen. Das hat immer mit beiden Dingen zu tun. Um es ganz einfach zu erklären: Wenn man ein Kind hat, ist es eine Maßnahme gegen den Tod, aber sie ist auch mit dem Tod verknüpft. Das ist immer so. Das sind Klischees, aber sie sind wahr. Das funktioniert so im Kino wie auch beim Schreiben. Man entreißt etwas dem Leben – und auch dem Tod. Man kann es auch am Arbeitsvorgang des Filmens selbst beobachten. Man filmt eine Person und dabei vergehen Sekunden um Sekunden, das heißt weniger Leben, schon vergangenes Leben. Das kann man sehen, das wird man immer sehen können. Nehmen wir zum Beispiel „Jeanne Dielman“ aus dem Jahr 1975. Ich habe Delphine eine bestimmte Zeitlang in jenen Tagen gefilmt, und man hat diese Augenblicke ihres Lebens gesehen, die nie wiederkehren werden, die sie dem Tod nähergebracht haben, unwiederbringlich. So funktioniert Kino. Man filmt eine Person und sieht dabei zu, wie die Zeit vergeht.
Erstveröffentlichung: BR 2 Kulturjournal 31.5.1992
(Das Gespräch fand am 30. Juli 1991 in der Pariser Wohnung von Chantal Akerman statt.)
Erstellungsdatum: 17.08.2025