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Ein Künstlerbrief

Mein offenes Gefängnis

Fredie Beckmans


Fredie Beckmans als Koch. Foto: privat

Man denkt an Paul Verlaine oder Silvio Pellico, die auch über ihre Gefängnisse schrieben, aber Fredie Beckmans erinnert sich in seinem Künstlerbrief an die lebensbegleitenden Einsperrungen, die Ein- und Aussperrungen zugleich waren und sich vom frühkindlichen Gitterbett bis zum Kunstkerker erstrecken. Freiheitsentzug hat viele Erscheinungsformen, und Künstler, die sich nicht fügen mögen, müssen stets einen Fluchtweg im Auge haben.

 

„Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten.“
Jean-Jacques Rousseau

 

Als Säugling trat ich in die Welt, noch ganz unbeschwert, und kaum war ich auf der Welt, wurde ich doch schon hinter Gitter gestellt. Es ist keine lebendige Erinnerung aus der frühen Kindheit – vielmehr ist es etwas, das sich einprägt, sobald man krabbeln kann und die Umgebung wahrnimmt. Das klappbare Laufgitter mit seinen hölzernen Sprossen stand jahrelang unverrückbar im Wohnzimmer, ein Wächter aus Holz, der das kindliche Leben in definierte Bahnen zwang. Ich sehe die Sprossen noch heute vor mir, rieche den leicht muffigen Geruch des Holzes, erinnere mich an die Art, wie das Licht die Kanten beschattete. Erst mein jüngerer Bruder, dann meine Schwester und Jahre später das Nesthäkchen – alle durchschritten wir diese kleine, begrenzte Welt. Diese Sequenz machte das Erlebnis unauslöschlich; vielleicht ist das der Grund, warum es mich bis heute begleitet. Ach, wenn es solche Laufgitter noch gäbe – welch absurde Trostlosigkeit in der Vorstellung. Willkommen also in meiner Welt der offenen Gefängnisse, wo die Freiheit in Nähe und Liebe dennoch in Zäune übersetzt wird.

Meine erste klare Erinnerung an Gefangenschaft, jene, die in mir als Bild haften blieb, setzt ein, als ich sieben Jahre alt war. Mein jüngster Bruder erkrankte an Meningitis; die Zeit war von Sorge und Weihrauchdämpfen geprägt. Meine Mutter nahm mich mit in die kleine Kapelle des Klosters nicht weit von unser Haus; dort hing immer der Duft des geweihten Harzes in der Luft, warm und beruhigend. Kerzen flackerten, und wir murmelten die Gebete der Hoffnung, dass es ihm bald besser gehen möge. In einem Moment plötzlicher Verzagtheit oder berechnender Hoffnung sprach meine Mutter eine der herein kommenden Nonnen an: Wenn der Kleine genesen würde, versprach sie, würde ich Priester werden. Die verheißene Heilsoption entpuppte sich bald als nüchterne Kalkulation: Meine Mutter wollte mich dem Kloster quasi „übergeben“. So stand ich zwei Jahre später staunend und zitternd an der Pforte des Ordens. Zwei Schwestern hießen mich willkommen und sagten mir, als Ministrant sei ich sehr willkommen – als sei das eine hehre Erlösung, nicht die Verlagerung eines Kindes in die Obhut geschlossener Räume.

Vier Jahre verbrachte ich dort, eingepfercht in der Ordnung des Klosters; es glich in vielen Zügen einer Jugendstrafanstalt, nur mit frommeren Ritualen. Hin und wieder fühlte es sich wie Arbeit an, für die es eine kleine Belohnung gab: Für jede Nonne, die starb – ein unheimlicher Lohn –, erhielt ich zwei Euro fünfzig und einen Vormittag schulfrei. Dann zog man mich in Ministrantenrobe in einem Taxi zum Friedhof; wir umschritten die Särge, der Priester besprengte die Kisten mit Weihwasser, und ich folgte ihm, ein schmauchendes Weihrauchfass schwenkend, als sei ich Teil einer Prozessionsmaschinerie. Diese „Ausflüge“ trugen die Schwere eines Rituals, das in meinen Kinderschuhen eine merkwürdige Normalität annahm. Doch der Zug zum Priesterstand verschwand; mit zwölf Jahren verlor ich den Glauben. Die Mauern, die zuerst Schutz versprachen, wurden für mich zu Zäunen. Ich floh aus dem Kloster und kehrte nie wieder dorthin zurück; meine Mutter vermochte mir diesen Weggang nicht verzeihen.

Mein Vater wählte eine andere Art der Erziehung, eine Härte der Vorsicht. Das leiseste Geräusch, ein zu ausgelassenes Lachen – und ich wurde nach unten geschickt, in den Keller. Dort lag ein Berg von Kartoffelsäcken, mindestens zweihundert Kilo, die Ernte des Bauern, genug für den harten Winter. Auf diesen Säcken durfte ich sitzen, als sollte ich über meine vermeintlichen Verfehlungen meditieren: zu laut gesungen, zu dilettantisch gezeichnet. Mein Vater, Schriftenmaler, Aquarellist und ein Mann mit feinem, kompromisslosen Blick, fand meine Bilder fast immer mangelhaft. Ich trug keine tiefe psychische Verletzung davon, doch die kleinen Einschließungen lehrten mich, was es heißt, in einem Zuhause überwacht zu werden: Die Tür schloss sich, und ich war in einem anderen Raum, abgetrennt von der Leichtigkeit der Kindheit.

Die Regale im Keller bargen eine andere Faszination: Die Gläser mit dem hausgemachten Apfelmus meiner Mutter standen in Reih und Glied. Hinter ihnen verbargen sich die Geschenke, die meine Eltern für besondere Anlässe aufbewahrten. Und so kam es, dass eine Verwandte, die als Putzfrau in einem Sexshop arbeitete – später erfuhr ich mehr von den dunklen Ecken davor: Peep-Shows, Bordelle – diese Rolle hatte etwas Gefährliches, zugleich Verlockendes. Dieser Sexshop war der einzige in unserem Dorf und in der Umgebung; ich will mir nicht vorstellen, was für Reste sie täglich vom Boden kehren musste. In den späten sechziger Jahren hatten einschlägige Zeitschriften offenbar ein Ablaufdatum: Die alten, anstößigen Hefte sollten vernichtet werden, wenn die neuen kamen. Doch anstelle der Zerstörung versorgte diese Verwandte die Familie mit den verbotenen Blättern; die Magazine wurden auf Kindergeburtstagen verteilt – selbstverständlich erst, wenn ich schon im Bett lag. Und wo versteckte man die schmutzigen Hefte? Hinter dem Apfelmus, im Keller, an einem Ort, an dem ich Stunden verbringen durfte, nachdenken sollte, aber heimlich in eine andere Welt eintauchte. Dort holte ich mir meine „Bücher“, betrachtete die Bilder mit einer Faszination, die sich später vielleicht in andere Formen verlagern sollte. Der Kartoffelkeller, mein kleines Gefängnis auf Zeit, hielt mich nicht davon ab; mit dem Hunger und der Neugier eines Kindes vertiefte ich mich in die Magazinseiten, wie junge Menschen heute Pornoseiten anklicken, bestätigen, dass sie alt genug seien: 18+, – und sich in die isolierte Welt des Bildes stürzen.

In der Jugend, vor meiner Zeit als Naturfreund, trat ich kurz bei den Pfadfindern ein – eine Jugendsünde, so nannte man das damals. Es passte nicht zu mir; in der Dunkelheit eines nächtlichen Waldspaziergangs banden mich die anderen Jungen an einen Baum, lachten und entfernten sich. Sie versprachen, später wiederzukommen. Aus den Schatten knackte und knisterte die Vegetation, und meine Fantasie malte Gestalten, finster und lauernd. In Panik riss ich mich los und floh ohne Licht durch das Dickicht zurück zum Vereinsheim. Die Angst, hinter jedem Busch einen bösen Menschen zu vermuten, blieb. Was war in einer Nacht einfacher zu begehen als ein gemeiner Streich? Doch ein Kind an einen Baum zu fesseln und allein zu lassen – das überschritt eine Grenze. Ich kündigte meine Mitgliedschaft und fand schließlich Ruhe beim lokalen Naturverein: Vogelbeobachtung, Pilze suchen, akribisches Dokumentieren. Dort fühlte ich mich angekommen, als würde ich einem Gefängnis entfliehen, dessen Gemeinschaftsgefühl in mir zuvor eine Klaustrophobie ausgelöst hatte.

Die erste Begegnung mit einem echten Gefängnis war fast schon spektakulär beiläufig. Am Ende der Schulzeit, kurz vor der Volljährigkeit, besuchte ich eine Abschlussfeier; Bier floss frei, Lachen füllte die Luft. Später wurde ich zu einer Afterparty eingeladen, bei der Wein und Gesang die Nacht füllten. Ein ausgelassener Tanz, ein Zusammenprall, und ich spürte einen scharfen Schmerz: Meine Nase schien gebrochen. Der Vater des Gastgebers, ein Evangelischer Pastor betrachtete mich mit Mitleid und reichte mir ein halbvolles Glas Genever 40%. „Trink, dann wird der Schmerz leichter“, sagte er. Es war ein schlechter Rat. Nach einer halben Stunde konnte ich kaum noch stehen; ein Freund schleppte mich auf sein Moped, wir fuhren durch die dunklen Straßen, zehn Kilometer bis an den Rand meines Dorfes. An meinem abgestellten Fahrrad setzte ich mich erschöpft und schlief ein. Dann riss man mich grob hoch; zwei Polizisten hielten mich fest und entschieden, das Entgiften meines Körpers ließe sich am besten an einem Ort beheben – der Zelle. Verhaftet wegen Trunkenheit, nicht einmal achtzehn Jahre alt. Doch als ich den Polizisten flüsterte, dass mein Vater gerade aus der Psychiatrie entlassen worden sei und er mir daheim nur Gewalt antun würde, zeigten sie menschlichen Ermessensspielraum. Kaum eine Sekunde stand ich auf der Schwelle der Zelle, da drehten wir uns alle um: Sie setzten mich in der Nähe meines Hauses ab und blieben, bis ich in meinem Flur verschwunden war. Am Morgen bestätigte der Schmerz in meiner Nase die Vermutung: ein Bruch, eine Erinnerung, die noch lange weh tun sollte.

Der Rausch des Alkohols wurde allmählich von einem anderen Rausch abgelöst: politisches Engagement. Ich ging zur Kunstschule in der Stadt und trat der kommunistischen Partei bei – unter einer Bedingung: Ich weigerte mich, am Tor einer Fabrik Zeitungen zu verkaufen. Mit meinen langen Haaren, zerrissenen Hosen und Sandalen ohne Socken passte ich kaum in das Bild des Parteikaders. War ich Kommunist? Vielleicht ein Utopist, ein träumerischer Kämpfer mit wenig Lebenserfahrung. In einer Nacht der Überzeugung malten wir Parolen auf Wände; wir klebten Plakate an Ampeln, in der Hoffnung, wartende Autofahrer würden unsere Botschaften lesen. Die Polizei erschien; meine Kameraden flüchteten. Ich blieb. Eine Zelle, mehr ein zugemauerter Kloschacht als eine Zelle, ohne Fenster, kalt, betoniert. Alleine wartend, überschlug mein Kopf sich in Möglichkeiten: Flucht, Mut, das Verbergen der eigenen Dummheit. Nach einer Stunde jedoch öffnete sich die Tür: Zwei Genossen traten herein, lächelnd, und führten mich fort. Mit einer gefälschten Autorisierung, die sie aus einem amtlichen Schreiben zusammengesetzt hatten, holten sie mich ab. Vom Gefängnis in das Parteibüro – ein Wechsel von einer Enge in die andere, nur dass die neue Enge von Ideologie gefüllt war. Später vermutete ich, manche der Befreier könnten Verdeckte Ermittler gewesen sein; ich blieb misstrauisch. Ich war noch nicht bereit für Barrikadenkämpfe; meine Vorstellung war die der Kunst, nicht des Fabrikzorns.

So begann schließlich etwas anderes: die Gründung des „Worstklubs“. Ein absurdes Projekt, eine Performance: Ich trat auf als ehemaliger Gefängniskoch, mit einer Kochmütze, in die ich Augenlöcher geschnitten hatte, sodass ich ähnlich wirkte wie ein maskierter Bankräuber. In der Küche, unkenntlich, hantierte ich mit heißer und kalter Wurst, mit Texturen und Temperaturwechseln, stets der ironischen Andeutung an die groteske Selbstinszenierung von Kunst und Leben. Der Worstklub war meine Antwort auf Karl Rosenkranz’ Idee in der Ästhetik des Hässlichen: Gute Kunst gedeiht dort, wo das Schlechte weiträumig dominiert. Mein Ziel war es, die sterile Gefängnisästhetik der modernen Museen herauszufordern, das Schöne zu stören, das in musealen Depots eher wie ein Kunstkerker wirkt. Meine Performances waren provokant, sie provozierten Geschmack und Konvention. Eines meiner Gedichte – vorgetragen im Dampf und in Fettspritzern dieser Bühnenküche, zwischen heiß und kalt, zwischen hart und weich, tropfend und schrumpfend – wurde publiziert in meiner Autobiografie:

 

An die Knastwurst
 
Im Knast, da zählt nicht Gold, nicht Glanz,
nur Zeit, die schleicht im Zellenkranz.
Die Freiheit draußen – weit und fern,
dafür hab ich jetzt Gitter gern.
 
Doch mittags kommt ein kleiner Trost,
wenn’s aus der Küche deftig tost:
Ein Hauch von Wurst, ganz ohne Glanz –
doch hier drin tanzt mein Gaumen Tanz.
 
Mal Leberwurst, mal Fleisch in Haut,
nicht immer warm, nicht immer traut.
Doch ehrlich, hinter Mauern schwer,
ist jede Wurst ein Stück mehr wert.
 
Die Wärter schau’n, als wär’s ein Schatz,
die Wurst auf meinem Blechtablett.
Ein Bissen Fett, ein Biss Verstand –
so schmeckt der Knast, mit Wurst zur Hand.
 

Es erschien in einem leider schon vergriffenen Heftchen im Eigenverlag mit Titel: Mein offenes Gefängnis. Und diesen Titel meiner Autobiografie trage ich seitdem mit mir: nicht nur als Überschrift für eine Aufführung, sondern als eine Art Kerntemperatur meiner Erinnerung. Er ist Erinnerung und Wunde, Lachen und Tor zugleich – ein gut bewachtes Portal zu jener Freiheit, die ich mir immer wieder zurückerobern musste.

 

 

Erstellungsdatum: 07.12.2025