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Eine Collage mit Texten von Faraj Bayrakdar

Mit Geheimtinte

Faraj BayrakdarLarissa Bender


Faraj Bayrakdar. Foto: Rami Al Asheq

Mit Gefängnisliteratur allein aus dem letzten Jahrhundert lassen sich vermutlich Bibliotheken füllen. Das Sujet wird gewöhnlich nicht gewählt. Es ist schon während des Schreibens anwesend. Der syrische Dichter Faraj Bayrakdar, der heute in Schweden lebt, war 14 Jahre lang, bis zu seiner Freilassung im Jahre 2000, in politischer Gefangenschaft. Larissa Bender, die Auszüge aus seinem Roman Ḫiyānat al-luġa wa-ṣ-ṣamt übersetzte, stellt für TEXTOR eine Textcollage daraus vor.

 

Faraj Bayrakdar zählt zu den wichtigsten Lyrikern Syriens. Er war vierzehn Jahre unter Hafiz al-Assad in politischer Gefangenschaft, unter anderem in dem berüchtigten Wüstengefängnis von Tadmor/Palmyra. Nach einer internationalen Kampagne für seine Freilassung und einer nach der Machtübernahme von Präsident Bashar al-Assad am 16. 11. 2000 erlassenen Amnestie, konnte Faraj Bayrakdar ein Jahr, bevor seine fünfzehnjährige Haft zu Ende gewesen wäre, das Gefängnis verlassen. Er ging 2005 ins Exil nach Schweden, wo er zunächst durch das Programm „Städte der Zuflucht“ in Stockholm Aufnahme fand.

Bayrakdars Werk gehört zur zeitgenössischen syrischen Gefängnisliteratur. Noch während Faraj Bayrakdar in Haft war, gelang es ihm, Gedichte heimlich aus dem Gefängnis zu schmuggeln. Sie wurden 2002 in Beirut durch das New York Translation Collective in arabischer Sprache veröffentlicht.

Besonders bekannt geworden ist Bayrakdars Lyrikanthologie „A Dove in Free Flight“, die erst 2021, neunzehn Jahre nach ihrem ersten Erscheinen, in englischer Sprache publiziert wurde. 2012 hatte zudem der marokkanische Dichter Abdellatif Laabi, der selbst in seiner Heimat politischer Gefangener gewesen war, die Gedichtsammlung ins Französische übersetzt.

Die englische Ausgabe ist mit einem Vorwort des libanesischen Autors Elias Khoury erschienen. Er erklärt darin, dass Bayrakdars Gedichtsammlung dazu beigetragen habe, Druck auf die syrischen Autoritäten auszuüben und außerdem half, die internationale intellektuelle Öffentlichkeit zu mobilisieren. In den Gedichten spricht Bayrakdar immer wieder über seine Angst, vergessen und aufgegeben zu werden. Sein Schicksal blieb jedoch während und nach der Haftzeit im Gedächtnis. 1998 erhielt er als politischer Gefangener den „Hellman-Hammett Award“ von Human Rights Watch und 1999 den PEN International „Freedom to Write Award“. 2007 wurde er mit dem Tucholsky-Prize ausgezeichnet.

Faraj Bayrakdar wurde 1951 in Tir Maaleh in der Nähe von Homs in Syrien geboren. Schon als Schüler verfasste er Gedichte. Während er an der Universität in Damaskus Arabische Literatur studierte, gründete er zusammen mit Freunden ein Literaturmagazin und wurde schon in dieser Zeit von Machthaber Hafiz-al Assad zweimal für kurze Zeit inhaftiert.

1979 erschien Bayrakdars erste Gedichtsammlung Wa-mā anta waḥdaka (You Are Not Alone – Du bist nicht allein). Seit dieser Zeit sind neun weitere Sammlungen seiner arabischen Gedichte erschienen.

Der nachfolgende Text entstammt dem 2006 publizierten Roman „Ḫiyānat al-luġa wa-ṣ-ṣamt“ und wurde von Larissa Bender für eine Lesung im Rahmen des Programms (K)ein Raum für Worte (eine Kooperation von Habibi Kiosk und den Münchener Kammerspielen) aus dem Arabischen übersetzt.

Drei Fragen in einer

 

Zu Beginn des Morgens und wenn die Dunkelheit endet.
Zu Beginn der Glut und wenn die Asche verschwindet.
In der letzten letzten letzten Verdichtung.
Bleibt die erste Frage nach dem Gefängnis die nach der Freiheit und ihrer allgegenwärtigen Präsenz, selbst wenn man sie aus einer Haltung der Leugnung stellte.
Gemeint ist aber nicht das Gefängnis als Ort, sondern in erster Linie als eine Zeit, eine steinerne, vergeudete, unreine, unmoralische Zeit ... und im Ergebnis als Verbündeter des Todes.
Es gibt viele Interpretationen des Gefängnisses, aber unabhängig davon ..., sie alle haben, ausnahmslos, das Recht und die Pflicht, auf eine einzige Philosophie zu verweisen ... auf einen einzigen Orientierungspunkt ... nämlich die Freiheit.
 
Zu Beginn der Freude und wenn die Trauer endet.
In den Veränderungen des Körpers und wenn die Bedeutung in der Kehle steckenbleibt.
Im letzten letzten letzten Weinen.
Bleibt der Tod die erste Frage des Lebens. Wenn nämlich Leben unweigerlich mit dem Tod endet, dann wird der Tod, egal welche Erscheinungsform er aufweist, im Voraus die absolute Legitimität des Lebens bestimmen und rechtfertigen.
 
Der Mensch aber ... das ist eine andere Frage, eine dritte, ohne die es keine Antwort auf die beiden vorherigen Fragen gibt, genau wie es ohne die beiden vorherigen Antworten keine Antwort auf diese Frage gibt, auch wenn die Antworten alle noch offen wären und es für immer und ewig blieben.
 
Glauben Sie, ich rede irre?
 
Ich leugne nicht, dass meine Worte das implizieren könnten. Vielleicht bin ich der festen Überzeugung, dass es keinen Gefangenen gibt, der vollkommen normal ist, aber ich bin noch fester davon überzeugt, dass es keinen Gefangenen gibt, der weniger als die Freiheit in sich trägt.
Und was ist es, was ihr in euch tragt?
Also gut ... das ist keine Frage. Genau wie die Texte, die ich in meinem Inneren schrieb und nun aufs Papier bluten lasse, keine Antwort sind. Sie sind ein Versuch, etwas zu beleuchten, zu begreifen, von etwas befreit zu werden. Vielleicht sind es nur Zeugnisse, oder wollen es zumindest sein, was aber nicht bedeutet, dass sie nicht etwas fordern und verteidigen können, und folglich anklagen und widerlegen.

Skizzen mit Geheimtinte

 

Wenn das Verhältnis zwischen Zellengröße und Anzahl der Gefangenen aus dem Gleichgewicht gerät, wie es in jener Zelle der Fall war, die von der Verwaltung „Tunnel“ genannt wurde, von den Gefangenen jedoch Maḥšar, „Tag der Versammlung“ oder „Tag des Jüngsten Gerichts“, dann ist die einzige geniale und gleichzeitig groteske Lösung die eines Systems des Alternierens.

Es bedeutet, dass die Gefangenen sich in vier Gruppen aufteilen: eine Gruppe wird sechs Stunden lang stehen, zwei Gruppen sitzen mit untergeschlagenen Beinen, und die vierte Gruppe schläft, indem die Männer sich jeweils Kopf an Fuß und Fuß an Kopf aneinanderpressen und sich dabei – aus Verzweiflung, Ekel und Hass – so eng wie möglich umarmen. Dann übernehmen die beiden kräftigsten Gefangenen die Aufgabe, sie mit dem Fuß gegeneinanderzupressen, so dass der Gerechtigkeit genüge getan wird und ein Gleichgewicht zwischen der Masse der Körper und der ihnen zur Verfügung stehenden Fläche hergestellt wird.

Nach sechs Stunden steht diese Gruppe auf, um ihrerseits sechs Stunden zu stehen, während die Gruppe der Stehenden nun an der Reihe ist, sich zu setzen und eine der beiden sitzenden Gruppen sich darauf vorbereitet zu schlafen. Nach weiteren sechs Stunden kommt die nachfolgende Gruppe an die Reihe und so weiter, so dass jede Gruppe innerhalb von vierundzwanzig Stunden sechs Stunden schläft.

Nachdem ich Sie nun skizzenhaft ins Bild gesetzt habe, werde ich versuchen, Ton und Bild zusammenzufügen:

Einer der stehenden Gefangenen stritt mit seinen Nachbarn, weil diese ihm nur so wenig Platz ließen, dass es für einen einzigen Fußbreit ausreichte. Er grummelte und brummelte, dann erhob er die Stimme und dozierte über den Egoismus und die fehlende Empathie einiger Leute und so fort. Mit der Zeit schien er den Zustand der Erregung zu genießen und hielt uns einen langen Vortrag über die Zersetzung der Moral und der Werte in diesen Zeiten sowie über die Herrschaft des Gesetzes des Dschungels, über das Chaos, die Ignoranz, die Rückständigkeit und dass wir dieses Lebens nicht würdig seien, um schließlich zu dem unwiderruflichen Urteil zu gelangen, wir hätten Schlimmeres verdient, als diese verfluchte Scheiße.

Mit einer nicht zu mir passenden Dümmlichkeit beobachtete ich das Geschehen, bis mich einer meiner Nachbarn wieder wachrüttelte. Er stieß mich mit dem Ellbogen an und flüsterte:

– Siehst du diesen Klugscheißer? Wegen eines Fußbreits hat er alle zur Weißglut gebracht ... Aber nicht er ist schuld, sondern dieser hemmungslose Staat, der nur leere Parolen von sich gibt, aber nicht in der Lage ist, genügend Gefängnisse für seine Bürger zur Verfügung zu stellen.

Der Adjutant war mürrischer als sonst und sagte zu Abu Iyad:

– Lass deine Sachen hier und kommt mit!

In den Köpfen einiger Gefangener begannen die Computer heißzulaufen, die Deutung der Worte nahm breiten Raum ein und erstreckte sich von der Möglichkeit seiner Entlassung bis hin zu der eines neuerlichen Verhörs. Abu Iyad rutschte auf der Treppe aus, denn er konnte an nichts anderes denken, als an sein mangelndes Gleichgewicht, das ihm zu schaffen machte.

Er erinnerte sich, dass er, im Erdgeschoss angekommen, mit üblen Beleidigungen empfangen wurde. Vielleicht schlugen sie ihn sogar, als sie ihm befahlen, sich auf den Boden zu setzen. Dann vernahm er das Geräusch einer Haarschneidemaschine, mit der ihm der Kopf rasiert wurde.

Plötzlich ließ die Stimme des Adjutanten, der befahl, den Reifen zu bringen, Abu Iyad aufschrecken.

Wie eine angespannte Sprungfeder, die plötzlich keinen Widerstand mehr spürt, fuhr er hoch und stürzte sich auf den Adjutanten:

– Warum hast du mir den Kopf geschoren?

– Das geht dich gar nichts an ... Bringt den Reifen!

Abu Iyad versuchte mit allen Mitteln, den Grund zu erfahren, doch der Adjutant entgegnete knapp:

– Du kennst die Fehler und Vergehen, die du begangen hast.

Als Abu Iyad redete und schwor, dass er sich absolut nichts habe zuschulden kommen lassen, geriet der Adjutant ins Grübeln. Schließlich sagte er:

– Vielleicht war jemand anders gemeint, wir werden sehen. Geh jetzt in deine Zelle zurück, ich werde den Chef fragen. Wenn du keinen Fehler begangen hast, bleibt dir der Reifen erspart ... Aber wenn doch, dann hol ich dich wieder, und deine Strafe im Reifen wird eine doppelte sein.

Wie eine gebrochene Palme kehrte Abu Iyad in seine Zelle zurück. Er setzte sich, die Männer scharten sich um ihn.

Fragen über Fragen, die Computer fuhren zu Höchstleistungen auf, Angst zehrte an den Nerven, zerstampftes Glas floss durch das Blut.

Eine gute Stunde später klärte sich alles auf.

Wie?

Das Vögelchen sagte:

– Alles gut, es gab ein Missverständnis wegen der tatsächlichen und der übertragenen Bedeutung des Wortes „Bad“. Denn „Bad“ bedeutet bei den Gefangenen ein heißer Reifen mit allem, was an Beschimpfungen und Beleidigungen dazu gehört. Als der Gefängnisdirektor die Kopfrasur und das Bad für Abu Iyad befahl, verstand der Adjutant ihn im Sinne der Gefängnissprache.

Das Vögelchen sagte auch, der Adjutant habe einen riesigen Anschiss bekommen, denn der Gefängnisdirektor fuhr ihn an:

– Mensch ... ich hab von dir verlangt, den Gefangenen zu rasieren und zu baden. Seine Familie hat jetzt Beziehungen nach ganz oben, und nun kommt sie ihn besuchen.

 

 

 

Faraj Bayrakdar: Collage aus dem Roman Ḫiyānat al-luġa wa-ṣ-ṣamt, 2006
Der Text wurde von Larissa Bender für eine Leseung im Rahmen des Programms (K)ein Raum für Worte übersetzt, eine Kooperation von Habibi Kiosk und der Müncher Kammerspiele.

Erstellungsdatum: 02.01.2025