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Eine neue Publikation über den Architekten Martin Elsaesser

Gerade der Mangel an bezahlbaren Wohnungen lässt das öffentliche Gespräch über Architektur wieder aufleben. Die Diskussionen über Baukosten, Effizienz, Nachhaltigkeit und Ökologie haben unter dem Primat der Ökonomie, also des Billigbauens, zumeist etwas Wichtiges für Bewohner und Betrachter unserer Behausungen ausgespart: die Ästhetik. Jörg Schilling hat ein Buch über den Architekten Martin Elsaesser und dessen Baukunst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschrieben. Wilhelm E. Opatz stellt das Buch mit einem Textauszug vor.
Nach der Publikation „MARTIN ELSAESSER und das Neue Frankfurt“, 2009 anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum/DAM herausgegeben, erschien kürzlich mit „MARTIN ELSAESSER“ eine Publikation über das Gesamtwerk des Architekten.
Über seine Zeit in Württemberg – er ist 1884 in Tübingen geboren; die Kölner Jahre – der damalige Oberbürgermeister Konrad Adenauer hat ihn 1920 an die dortige Kunstgewerbeschule geholt; natürlich auch über die Frankfurter Phase – Ludwig Landmann, ein weiterer Oberbürgermeister, hatte ihn nach Frankfurt abgeworben; über die Jahre 1933–1945, die Elsaesser in Rom, München, Ankara und Berlin verbrachte; und die anschließende Zeit in München – mit einer offenen Professur an der dortigen TH – und Stuttgart, wo Martin Elsaesser im Sommer 1957 stirbt.
Das Ganze mit 300 qualitätsvollen s/w und farbigen Fotoreproduktionen – deren Zusammenstellung zuweilen an ein vertrautes Familienalbum erinnert –, zweisprachig, auf 288 Seiten fadengeheftet und als Halbleinen in Türkis präsentiert.
Das Vorwort von Dr. Konrad Elsässer, Vorsitzender der Martin-Elsaesser-Stiftung, beginnt mit einem Satz des Architekten, den dieser vor beinahe 100 Jahren schrieb:
„Die neue Baukunst also beruht auf einem ganz neuen ,Sehen‘ – nicht auf einem besseren Sehen, sondern auf einem andersartigen als dem bisher gewohnten; auf einem ,Sehen‘, das mit unserem großstädtischen, modernen Leben in einem notwendigen, also innerlich wahrhaftigen Zusammenhang steht.“
Vor 10 Jahren wurde seine 1928 eingeweihte Frankfurter Großmarkthalle – mit einem gläsernen Turmaufsatz des Wiener Büros Coop Himmelb(l)au versehen – als Sitz der Europäischen Zentralbank eröffnet. Nach anfänglichen Debatten und Unstimmigkeiten kann man doch heute von einem „innerlich wahrhaftigen Zusammenhang“ der beiden Bauten sprechen.
Die Wahrhaftigkeit der Farbwahl des Umschlagsleinen würde ich auch gerne erst in 10 Jahren beurteilen wollen.

Auszug aus „Martin Elsaesser – Baukunst zwischen den Zeiten“:
Helle und klare, nüchtern-frische Architektur-Gesinnung
Zu Elsaessers ersten und mit Hingabe ausgeübten Arbeiten im Auftrag des Hochbauamts gehörte – neben dem Entwurf für die Kunstgewerbeschule – die Gestaltung der im Rahmen des Konzertfestivals „Sommer der Musik“ realisierten Bauten für die Ausstellung „Musik im Leben der Völker“. Doch die wirkliche Herausforderung stellten der Entwurf und die Ausführung der Großmarkthalle dar. Bereits im Juli 1925 war er zu Verhandlungen um den geplanten Bau nach Frankfurt gekommen (s. o.). Die Bauarbeiten begannen im Dezember 1926; am 25. Oktober 1928 wurde die Großmarkthalle eingeweiht. Der Gebäudekomplex, zu dem Gleisanschlüsse, Laderampen und eine eigene Importhalle gehörten, sollte den Anspruch „Groß-Frankfurts“ als Hauptumschlagplatz für Gemüse und Obst im Südwesten Deutschlands zum Ausdruck bringen. Zwischen zwei achtgeschossigen, mit Backsteinfassaden und äußeren Treppentürmen versehenen Kopfbauten – der westliche nahm die Büroräume, der östliche das Kühlhaus auf – platzierte Elsaesser eine Hallenkonstruktion mit 220 Metern Länge, 23 Metern Höhe und 50 Metern Tiefe. Sie wurde auf beiden Seiten durch grobe Fensterraster belichtet. An den Enden unterstrichen zwei vier- bis fünfgeschossige Annexbauten den Maßstabssprung des Gesamtbaus. Bei der Halle handelte sich um den damals größten stützenlosen Raum Europas bzw. die „am weitesten gespannte Trägerkonstruktion in Eisenbeton nicht nur Deutschlands, sondern der ganzen Welt“, wie der Ingenieur Ulrich Finsterwalder betonte. Das Dach bestand aus 15 leichten Halbzylinderschalen. Sie waren 37 Meter lang, 14 Meter breit und maßen im Scheitel 7,5 Zentimeter. Die Herstellung der Betonschalen erfolgte durch das Torkret-Verfahren, bei dem das flüssige Material durch Pressluft direkt aufgespritzt wurde. Die innovativen Bauabläufe veranschaulichte auch ein eigens hergestellter Film, der zur Einweihung der Halle gezeigt wurde.
Stilistisch war die Großmarkthalle zwischen Expressionismus und Neuer Sachlichkeit einzuordnen. Zur Einweihung erschien auch eine Publikation, in der unter anderem Fritz Wichert das Bauwerk und die Leistung des Architekten würdigten. Wichert sah in der Großmarkthalle ein Beispiel des Nutzbaus, der „das Bild der zeitlichen Bauleistung bestimmt“. Er stellte Elsaesser als Angehörigen einer Generation von Baukünstlern vor, die „mit dem Historismus entschlossen gebrochen“ habe. Doch er machte auch deutlich, dass die Jüngeren die Frage, „bis zu welcher Grenze freischaffendes Formgefühl“ gestalten dürfe, wesentlich „unbeschwerter“ angehen würden. Damit sprach Wichert das aus, was sich mittlerweile für das Erscheinungsbild des Neuen Frankfurt manifestiert hatte und Elsaessers Position in diesem Gefüge erschwerte. Denn die Großmarkthalle passte mit ihrer Backsteinfassade und den zwei monumentalen, westwerkartigen und futuristisch wirkenden Kopfbauten nicht in das idealistische Erscheinungsbild einer sich radikal neuzeitlich und zweckorientiert gebenden Architektur.
Obwohl ihm dogmatische Gestaltungsansätze verpönt waren, hatte Elsaesser Verständnis für die „Jüngeren“. Sein 1926 entstandener Vorentwurf für ein „Haus der Jugend“ mutete vergleichbar modern an. Er begründete das damit, dass „unsere helle und klare, nüchtern-frische Architektur-Gesinnung“ eine „innere Verwandtschaft“ mit der Jugendbewegung habe. Deren veränderte Sehgewohnheiten standen für ihn „mit unserem großstädtischen, modernen Leben in einem notwendigen, innerlich wahrhaftigen Zusammenhang“, wie er 1927 in einem bemerkenswerten Zeitungsbeitrag unter dem Titel „Moderne Architektur und junge Generation“ ausführte. Bei den Älteren diagnostizierte er dagegen eine nachlassende Akkomodationsfähigkeit des – auch geistigen – Sehens, während „gerade die jungen Menschen, […], mit rasch erfassendem Verständnis, mit Selbstverständlichkeit und Sicherheit in die neue Anschauungswelt hineinspringen, und sich in kurzer Zeit mit viel größerer innerer Sicherheit darin bewegen, als der an sich viel reifere Mensch.“ Auf dieser Beobachtung beruhte für Elsaesser die Hoffnung auf eine „einheitliche Ausdrucksform der neuen Zeit“ und den „wirkliche[n] Stil des 20. Jahrhunderts“.

Tradition als retardierendes und regulierendes Moment
Zu zeitgemäßen Gestaltungsprinzipien hatte sich Martin Elsaesser schon 1926 im Jahrbuch der Frankfurter Bürgerschaft geäußert. Dem vorwärtstreibenden Zeitgeist stellte er die „Tradition als retardierendes und regulierendes Moment“ entgegen. Sie würde dafür sorgen, „dass der Wandel der Zeit sich nicht allzu heftig ausdrückt“. Aber weder das konservative Beharren noch ein „Modernismus um jeden Preis“ erschienen ihm erstrebenswert: „Wenn wir in Frankfurt versuchen, in den städtischen Bauten dem Geist unserer Zeit charakteristischen Ausdruck zu verleihen, so wollen wir uns von diesen beiden Irrwegen freizuhalten versuchen, wir müssen uns dabei darüber klar sein, […] dass wir ohne dogmatische Lehrsätze von Fall zu Fall die richtige Lösung für jede einzelne Frage finden müssen.“ Dagegen setzte Ernst May im gleichen Jahrbuch den Schwerpunkt seines Beitrags auf eine „Typisierung der Bauprogramme“ und schloss gleichzeitig die in breiten Kreisen befürchtete „Schädigung des ästhetischen Niveaus durch solche Rationalisierung“ aus.
Die unterschiedlichen Auffassungen Mays und Elsaessers in puncto Neues Frankfurt wurden auch in einer Zeitungsumfrage von Ende 1926 zu dem Thema: „Frankfurt, die Stadt des ‚Neuen Geistes‘“? deutlich. Während May zum „tapferen Kampf“ gegen die „unproduktiven Pessimisten und Miesmacher“ aufrief, die sich immer auf alles Neue stürzen würden, bat Elsaesser um Geduld, bis „der Gesamtheit der neue Sinn und damit auch die innere Wahrheit und Schönheit der neuen Baugesinnung aufgegangen ist.“ Mit diesem Ansatz verteidigte er Ernst May sogar gegen eine kurz zuvor erschienene Polemik, in welcher dieser als Vertreter internationaler Baukunst für die Zersetzung des deutschen Kulturgutes angefeindet worden war. Elsaesser argumentierte, dass es nicht um nationale oder internationale, sondern um übernationale Probleme ginge, die zu ähnlichen Lösungen führen würden. May revanchierte sich und wies gegenüber den Stadtverordneten – mit Hinweis auf Elsaessers „anständigen Charakter von idealer Lebensauffassung“ – Vorwürfe gegen den Baudirektor zurück, dieser würde vor dem Hintergrund seiner vertraglich gesicherten Honorarvergütungen bei Neubauten in die eigene Tasche wirtschaften.
Parallel stellte sich Elsaesser den in der Stadt diskutierten Fragen. Vor dem „Bezirksverein Alt-Frankfurt“ verteidigte er geplante Neubauvorhaben: „Da, wo in Alt-Frankfurt moderne Baugesinnung zu Wort kommen soll, da muss es mit dem nötigen Takt geschehen, mit der Rücksicht auf die alte Umgebung.“ Doch für seinen um Verständnis bemühten Ansatz, der sich der Vermittlungsprobleme der zeitgenössischen Architektur annahm, fand er keine Mitstreiter. Im Neuen Frankfurt des Ernst May wurde der radikale Bruch mit der Vergangenheit gesucht. Den hatte Elsaesser mit der Großmarkthalle umgangen. Noch deutlicher wurde dies bei seinem Wohnhaus, das von 1925/26 am Höhenblick in der Nachbarschaft weiß verputzter Siedlungsbauten errichtet wurde. Die Pläne waren bereits 1924 – also noch in Köln – entstanden. Elsaesser verstand sein Wohnhaus als einen Beitrag zur Entwicklung des Neuen Bauens. Das dreigeschossige, horizontal verfugte Backsteingebäude verfügte über ein Flachdach und trug als signifikantes Symbol der Neuzeit eine Radioantenne. Doch strebepfeilerartige Gebäudeecken gaben dem Haus auch etwas Burgartiges. Mehrere Terrassen – eine als Sonnenbad auf dem Dach – realisierten wiederum die Öffnung nach außen und stellten die Beziehung zu den von Leberecht Migge nach Lebensreformvorstellungen gestalteten Gartenanlagen her. Den Grundriss des Erdgeschosses charakterisierten fließende, unhierachisch miteinander verwobene Räume. Ein Musikzimmer, die Kaminecke und eine Garage markierten den großbürgerlichen Lebensstil. Im Jahrbuch der Baukunst von 1928/29 wurde hervorgehoben, dass für das Haus Höhenblick „nicht irgendwelche programmatischen Forderungen richtunggebend“ waren, „sondern einzig und allein das durch langjährige Erfahrung entwickelte Wohnbedürfnis des Architekten und seiner Familie“. Für Martin Elsaesser war diese Familie „auf Gemeinschaft“ aufgebaut, die aber auch jedem Mitglied „Spielraum und Entwicklungsmöglichkeiten sichern will“. Man kann dies als einsichtiges Angebot an die Kinder, aber vor allem die Partnerin werten; vermutlich sprach auch aus diesen Worten, dass es mit der Gemeinschaft nicht zum Besten stand (s. u.).
Der Vergleich mit dem Privathaus von Ernst May, das ebenfalls und zeitgleich am Ginnheimer Hang entstand, veranschaulichte das Dilemma von Elsaessers Frankfurter Tätigkeit. Der von May rechtwinklig angeordnete und kubisch geformte Bau war strahlend weiß verputzt. Ein großer, über zwei Geschosse angelegter Wohnraum trat nach außen durch ein hohes Fenster hervor. Es war über Eck angelegt und teilweise versenkbar. Das in der Größe vergleichbare Haus konnte auch mit einer Dachterrasse und von Migge gestalteten Gartenanlagen aufwarten. Der programmatische Gegensatz zum Haus Elsaesser wurde in einem Architekturheft der populären Blauen Bücher auch einem breiteren Publikum begreiflich gemacht, wo beide Gebäude nebeneinander auf einer Doppelseite abgebildet wurden.


Jörg Schilling
Martin Elsaesser – Baukunst zwischen den Zeiten
Deutsch / Englisch
288 Seiten
Hardcover
Format: 23 x 31 cm
ISBN: 978-3-89986-441-0
avedition, 2025
Erstellungsdatum: 04.12.2025