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Seit Tagen hält die Kontroverse unvermindert an. Ist die Schauspielerin Charlotte Gainsbourg, die sich als Verteidigerin Israels präsentiert, würdig, in einem Film die 2020 verstorbene Anwältin Gisèle Halimi zu spielen, die sich für die palästinensische Sache einsetzte? Ist denn die Idee einer friedlichen Koexistenz zwischen Juden und Palästinensern in Verruf geraten? Ein schönes Thema für eine Debatte, wenn beide Seiten miteinander sprechen würden. Claus Leggewie hat sich Gedanken dazu gemacht.
Es gibt ein Foto von Jane Birkin und Serge Gainsbourg von einem gemeinsamen Aufenthalt in Rom in den 1970er Jahren. Der Skandal, den sie zuvor mit ihrem Chanson „Je t’aime, moi non plus“ verursacht hatten, war verraucht. Viele hatten sich über ein Liedchen echauffiert, das mit ziemlicher Deutlichkeit ein Paar beim Beischlaf simulierte und als Gaudeamus igitur der sexuellen Jugendrevolution galt: Der Vatikan erreichte die Zensur bei italienischen Sendern, es folgten Schweden und Spanien, was den Verkaufserfolg der im Februar 1969 herausgekommenen Single jedoch nicht minderte, die es weltweit unter die Top Ten schaffte. Gainsburg starb 1991, Birkin 2023.
1971 war ihre gemeinsame Tochter Charlotte Gainsbourg zur Welt gekommen. Ein halbes Jahrhundert später wurde sie nun die Zielscheibe eines ganz anders gepolten Skandals, der zeigt, wie der Staffelstab der Skandalisierung von konservativen Sittenwächtern an Apostel politscher Korrektheit übergeben worden ist. Die ihrer Mutter Jane ähnelnde Schauspielerin soll die Hauptrolle in einem Biopic über die in Frankreich als Ikone des Feminismus berühmte Anwältin Gisèle Halimi übernehmen. Halimi, 1927 in Tunesien geboren und 2020 in Paris verstorben, wurde 1972 durch die Verteidigung junger Frauen berühmt, die abgetrieben hatten; sie erreichte ihren Freispruch, der „Prozess von Bobigny“ ging als Fanal der Liberalisierung der Abtreibung durch das „Loi Veil“ 1975 in die Geschichte der Frauenbewegung ein.

Dieser Prozess wird in dem Biopic eine zentrale Rolle spielen, allerdings kennt bisher kaum jemand den genauen Inhalt des Drehbuchs von Gisèle (verfasst von Laurianne Escaffre und Yvo Muller) nicht. Doch bevor – laut französischen Zeitungen – noch keine Szene abgedreht worden ist, regen sich nicht wenige über die jüngst bekannt gegebene Darstellung der Titelfigur durch Charlotte Gainsbourg auf. Nicht dass man ihre Meriten als Schauspielerin in Zweifel stellen würde, die seit 1984 fast jährlich in einem neuen Film aufgetreten ist, häufig ausgezeichnet wurde und auch als Sängerin erfolgreich war. Nicht was sie spielt, ist anstößig, sondern wer. Zum einen wurde bemängelt, sie sehe der Franko-Tunesierin Halimi, Tochter eines jüdischen Berbers und einer sephardischen Jüdin, zu wenig ähnlich, als sei das beim Casting ein Alleinstellungsmerkmal. Zum anderen wollte Halimis Sohn Serge, früherer Herausgeber der linksgerichteten Le Monde diplomatique, wissen, dass seine Mutter eine Erklärung verabscheut hätte, die Gainsbourg mit weiteren Unterzeichnern jüngst im konservativen „Le Figaro“ veröffentlicht hatte – gegen die vorschnelle Anerkennung eines palästinensischen Staates durch Staatspräsident Emmanuel Macron.

Der Fall enthüllt drei kapitale Fehler des aktuellen Identitätsfanatismus. Erstens muss ein Schauspieler einer dargestellten Figur nicht aus dem Gesicht geschnitten sein - siehe Bruno Ganz als Adolf Hitler. Es bedarf keiner wie auch immer gearteten Ähnlichkeit, sondern professioneller Empathie. Der postume Interpretat einer verstorbenen Figur ist diese nicht, auch wenn Betrachter von Biopics und Docufictions das zur Verherrlichung oder Dämonisierung historischer Persönlichkeiten immer häufiger erwarten mögen.
Zweitens und weit grundsätzlicher ist zu bemängeln, dass nach diesem Verständnis von Repräsentation am Ende generell niemand mehr eine Person darstellen, vertreten und für deren Rechte kämpfen dürfte, die als „Andere/r“ nicht deren ethnischer, politischer oder kultureller „Community“ angehört. So wie eine „weiße“ in London geborene Schauspielerin keine Tunesierin mit dunklerem Teint darstellen könnte, dürfte erst recht keine Jüdin sich für die Sache Palästinas einsetzen – was im Fall von Gisèle Halimi ja genau der Fall war! Als politisch denkende Anwältin hat sie eben nicht nur ihresgleichen verteidigt, sondern zum Beispiel auch eine algerische Bombenlegerin des FLN, die in der Haft von französischen Soldaten gefoltert und vergewaltigt worden war. Während die Stärke früherer Rainbow Coalitions in eben dieser wechselseitigen Parteinahme und cross representation bestand, anerkennen vielen Verfechtern heutiger Regenbogenallianzen nur eine Farbe – die ihre. Die „Appropriation“, die sie beklagen, ist jedoch der Treibstoff kultureller Kreativität und Innovation und ein kosmopolitisches Mittel gegen starres Gruppendenken.
Drittens droht Gainsbourg ein weiteres Opfer der sich häufenden Boykottmaßnahmen gegen angebliche „Zionisten“ und ihre vermeintlichen Parteigänger zu werden, obwohl die meisten, die dieser Bannstrahl trifft, genau wie sie selbst energische Kritiker des Netanjahu-Regimes und seiner Kriegsverbrechen sind. Statt dem Publikum des Ende 2026 (!) in die Kinos kommenden Films ihr autonomes Urteil über die Darstellerin einer feministischen Anwältin und Politikerin zu überlassen, soll ein Auftritt ex cathedra verhindert und damit auch eine ergebnisoffene und rationale Debatte über die Berechtigung einer Position zum Gaza-Krieg abgewürgt werden. Gainsbourg und andere sprechen sich übrigens nicht prinzipiell gegen eine Eigenstaatlichkeit Palästinas aus, sie machten die Übergabe der Geiseln, die bis heute nicht vollständig erfolgt ist, und die Auflösung der Hamas-Terrororganisation, die sich eher wieder zur Vertretung Palästinas aufschwingt, zur Voraussetzung.
Wir wollen diskutieren? Ihr nicht. Die Zensur hat die Seiten gewechselt.
Erstellungsdatum: 03.11.2025