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Ein Künstlerbrief

Mondriaan & ich selbst

Fredie Beckmans


Fredie Beckmans: Piet Mondriaan. Foto: Fredie Beckmans

Einem Künstler, der aus einem Ort stammt, in dem ein anderer, älterer und berühmter Künstler gelebt hat, wird der konkurrente Vergleich geradezu aufgedrängt. Winterswijk heißt der Ort und das Haus, in dem Piet Mondriaan wohnte und an dem Fredie Beckmans vorbei zur Schule ging, trägt heute den Namen „Villa Mondriaan“. In seinem Künstlerbrief erinnert sich Beckmans seiner Anfänge und seines Werdegangs als unabhängiger Maler.

 

29.03.2025

Lieber Redakteur – es besteht eine große Chance, dass ich bald im englischen Seebad Brighton berühmter werde als Piet Mondriaan. An Größenwahn habe ich meines Wissens nie gelitten. Ich lebe nun schon eine Weile in Brighton, und letzte Woche wurde ich gefragt, ob ich ein Interview geben wolle. Das kam ganz gelegen, denn ich kannte bisher niemanden in der lokalen Kunstszene. Wer nicht bekannt ist, wird auch nicht erkannt – und ich schäme mich inzwischen nicht mehr so wie in meiner Jugend. Vielleicht müsste ich nach dem Interview nicht mehr als Anstreicher in London drei Tage die Woche mein Geld verdienen, sondern könnte endlich ein Atelier beziehen.

Mein Vater, mein Patenonkel und mein deutscher Großvater haben da oben im großen Maler-Fegefeuer wohl herzlich gelacht. Alle drei waren ihr Leben lang Anstreicher, und ich fing mit über sechzig auch noch damit an. Na gut, ich hörte kein Gekicher, als der große Tag kam. Die Interviewerin hatte nach ein paar Fragen alles Mögliche über meine künstlerischen Eskapaden herausgefunden und fragte dann nach meiner Kindheit und wollte wissen, wo ich geboren sei. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ihr das viel bringen würde, aber bitte – es ist doch schön, in der Fremde mit etwas Stolz sagen zu können: „Winterswijk“.

Nein, Winterswijk kannte sie nicht. Ich verstehe das schon. Die letzte Person, die sie interviewt hatte, war ein pakistanischer Wissenschaftler von der Universität Sussex, etwas außerhalb von Brighton. Der war in Islamabad geboren – das klingt, das hat Gewicht. Ich versuchte es mit Winterswijk, das sei der Ort, an dem Piet Mondriaans Talent fürs Malen und Zeichnen erste Wurzeln schlug. Die britische Journalistin fragte: „Mondriaan who?“ Ohne mein Erstaunen zu zeigen, sagte ich, dass Mondriaan seit fast hundert Jahren ein sehr berühmter Künstler in den Niederlanden, Europa, Amerika und dem Rest der Welt sei. Das Interview ist meines Wissens nie in der Lokalzeitung The Argus erschienen.

Von dem Tag an durften wir nicht mehr denselben Schulweg nehmen. Ich bekam den Weg entlang des weißen Hauses an der Zonnebrink zugewiesen, das Nachbarsmädchen musste über den alten Friedhof gehen. Das weiße Haus war damals eine Pension. Es war Ende der Sechziger, und gerade hatten die ersten Gastarbeiter von Winterswijk dort Quartier bezogen.

Gleichzeitig tobte bei uns zu Hause ein Streit über Gastarbeiter. Mein Vater hatte von der Arbeit einen jungen türkischen Mann mitgebracht, dem er erlaubt hatte, bei uns zu bleiben, bis er etwas Eigenes gefunden hätte. Meine Mutter war außer sich. Noch ein Esser am Tisch. Nun saßen wir mit viel Geschrei und Getobe zu siebt am Tisch. Ich fand es spannend, und er sprach genauso krummes Niederländisch wie meine deutsche Mutter – das störte mich überhaupt nicht. Irgendwann zog er auch in das weiße Haus ein.

Doch das weiße Haus ließ mich nicht los, denn als ich aufs Gymnasium kam, stellte sich heraus, dass meine neue Schule genau gegenüber lag. In jener Zeit nannten wir das weiße Gebäude nicht mehr „Haus“, sondern „die weiße Villa“. Vielleicht klang das nobler, vielleicht auch dramatischer, denn wir sahen, wie es langsam verfiel. Die Gastarbeiter waren weggezogen und zu Winterswijkern geworden, sie waren glücklich verheiratet und hatten Kinder bekommen. Die Fenster wurden vernagelt. Die Villa verlor allmählich ihr Gesicht hinter einem Bart aus Unkraut.

Im Kunstunterricht hörte ich zum ersten Mal, dass einer der berühmtesten niederländischen Künstler in der weißen Villa gegenüber gewohnt hatte. Das passte gut, dachte ich. Wollte ja schon seit meinem zehnten Lebensjahr Maler werden – endlich ein Kollege in Winterswijk! Das war allerdings eher enttäuschend. Piet Mondriaan war längst tot. In New York war er verarmt, hatte keinen Besitz mehr und starb elend an einer Lungenentzündung, während sein Vater ein langes und glückliches Leben als Rektor der Schule für Christlich-Nationale Erziehung hier in Winterswijk geführt hatte. So sagte mein Kunstlehrer, und er wiederholte es regelmäßig, wahrscheinlich um meine künstlerischen Ambitionen frühzeitig zu dämpfen.

Wenn ich sage, dass der betreffende Lehrer zu Beginn jedes Schuljahres laut ausrief, der Erfinder des Radiergummis hätte besser nicht geboren werden sollen, dann weiß wohl jeder ehemalige Schüler, von wem die Rede ist. Für den Gummi bin ich ihm im Übrigen sogar dankbar gewesen. Er nimmt einem die Angst, Fehler zu machen, und man kann einfach drauflos skizzieren. Jede Linie ist unwiderruflich. Kein Zurück. Es gibt keine falschen Linien mehr. Vielleicht ist eine Linie falsch, aber jede ist ein Ausdruck unserer eigenen, vom Gehirn gesteuerten Hand, die mit dem Bleistift etwas mitteilt. Weg mit dem Gummi, es lebe das freie, radiergummifreie Zeichnen!

Der Zeichenlehrer zeigte uns auch Abbildungen von abstrakten Gemälden, die Mondriaan gemacht hatte. Diese Bilder beeindruckten mich damals nicht sehr. Meine Familie in Deutschland hatte vor allem Bücher mit expressionistischer Kunst im Regal, und darin verlor ich mich. Dank der Kiste mit alten Ölfarbtuben und der Staffelei meines Vaters malte ich jung und lustvoll viele Leinwände voll mit rasenden Bildern und fluchenden Farben. Bis mich eine heftige Terpentin-Allergie ausbremste, denn in meinem Dachzimmer, wo ich malte und schlief, blieben die Fenster wegen der Kälte stets geschlossen. Acryl trocknete schneller, glänzte aber weniger.

Den Kirschbaum streichelten wir noch, umarmten ihn und flüsterten zärtliche Worte, dass wir vielleicht beim nächsten Mal mit einer Säge wiederkämen, um ihn in Stücke zu sägen und an Mondriaan-Sammler zu verkaufen. Der Baum knarrte etwas, ich flüsterte in einen Astknoten, dass es nur ein Scherz sei. Der Baum seufzte erleichtert. Der Super-8-Film muss noch irgendwo herumliegen – aber wer hat heute noch einen Projektor?

Kurz danach bin ich – genau wie der junge Mondriaan – nach Amsterdam gezogen. Wie Piet studierte ich an der Rijksakademie van beeldende kunsten. Wie Piet wurde ich Mitglied der Künstlervereinigung Arti et Amicitiae. Er wohnte in der Kalverstraat, ich an der Passeerdersgracht. Beide nahmen wir an dem alljährlichen prestigeträchtigen Wettbewerb für junge, talentierte Maler teil: dem „Königlichen Preis für freie Malerei“, der bereits seit 1871 vergeben wird.

Nicht alles verlief gleich für die Berufskollegen aus Winterswijk. Ich durfte diesen Preis 1983 aus den Händen von Königin Beatrix entgegennehmen. Am nächsten Tag stand in der NRC Handelsblad: „Wer sind doch diese Punks, die durch den Königlichen Palast streifen?“ Mit einem Ton abwehrender Verwunderung schrieb der Journalist und wurde sogar mit Max Beckmann verglichen. Piet zog den Kürzeren – kein Preis für ihn. Und man muss sagen: Es gibt Schlimmeres. Er und seine Gemälde sind heute weltberühmt, sein Werk nahezu unbezahlbar. Meines hingegen ist immer noch zum Schnäppchenpreis zu haben.

Ich schreibe dies hier hinter meinem Küchenfenster in Brighton, mit Blick auf ein wütendes Meer, das vor drei Tagen zwei betrunkene Jungs vom Strand vor meinem Haus ins Wasser zog und sie einen Tag später wieder ausspuckte. Tot und ertrunken. Brighton rocks.

Es liegt wohl im Wesen vieler Künstler, ein Leben lang unterwegs zu sein. Und so denke ich an jene Zeit zurück, als ich in Winterswijk, kurz außerhalb des Dorfes, die Bataafse-Mühle malte. Piet malte mehr im Ort selbst, den Rücken zum alten Friedhof gewandt, als Motiv die alte Jakobskirche mit einigen Zweigen des Kirschbaums davor. Unser Talent steckte noch in den Knospen. Erst als Piet von der Zonnebrink und ich von der Plataanlaan nach Amsterdam zogen, öffnete sich ein Schalter. Wir haben unser Talent nicht vergraben, nicht an Teufel oder Medien verkauft. Wir haben hart an unserem Werk gefeilt und vor allem: Rückgrat bewiesen.

Dort in Amsterdam habe ich mich erst richtig mit Mondriaans Werk beschäftigt. In jenen Jahren wirbelten unzählige Fragen durch meinen Künstlerkopf. Hatte Mondriaan die Malerei zu Ende gemalt – insbesondere die abstrakte Malerei? Was sollten junge Künstler nach Mondriaan noch erschaffen, wenn sie weiterhin abstrakt malen wollten? Dabei vergaßen wir großzügig Karel Appel, der nach Piet ebenfalls abstrakt malte – aber das war schwer realistisches Gewitter in fröhlichen Farben.

Mit meinen Jahrgangsgenossen an der Rijksakademie versuchte ich auch, Piets Texte zu lesen. Leider unlesbar; viel zu überladen. Verständlich, wenn man bedenkt, dass er ein anarchistischer Theosoph war – oder das Gegenteil davon – und wir pazifistische, ungläubige Post-Punks. Dass Mondriaan etwas anderes versuchte, als die Realität darzustellen, eine Wiedergabe, das sahen und verstanden wir durchaus. Wir riefen dann zurück, dass Wittgenstein gesagt habe, worüber man nicht sprechen könne, darüber solle man schweigen. Und noch lauter schrien wir Schopenhauers Credo: „Das Schlimmste steht uns noch bevor!“ – All seine Texte habe ich in einem Büchlein von Jan Bor im Regal: „Mondriaan, Philosoph“. Soll ich es noch einmal versuchen zu lesen?

Seine Malerei ging hingegen runter wie Öl. Er behandelte das Malen wie ein echter Intellektueller – genau wie wir. Es war nicht mehr nötig, als Künstler Fotos nachzumalen. Der berühmte holländische Maler Breitner machte das stets: Er fotografierte das Amsterdamer Stadtleben und malte die Fotos zuhause ab – und wenn Menschen oder Häuser nur zur Hälfte im Bild waren, malte er sie eben auch nur zur Hälfte. Das war revolutionär, das war neu – um 1900. Aber Mondriaan ließ das weit hinter sich. Er wollte die fotografierte Wirklichkeit nicht mehr nachmalen. Er wollte auch nicht mehr wie van Gogh draußen in der brennenden Sonne sitzen. Er warf die Kamera weg und schloss die Tür seines Ateliers gegenüber dem, was draußen geschah. Er ließ Linien, Flächen und Farben für sich selbst sprechen – und lebendig werden. Eine Farbpalette wurde fast überflüssig. Piet wollte keine Farben mehr mischen, sondern nur noch reine, unvermischte Farben verwenden.

Offenbar bestand unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg ein enormer Bedarf daran. Technik, moderne Kunst, Film – und auch pornografische Texte – schlugen damals hohe Wellen. Dennoch sind die meisten Künstler nach Piet Mondriaan wieder andere Wege gegangen. Nehmen wir Max Beckmann, der schräg gegenüber dem bereits erwähnten Künstlerverein Arti et Amicitiae in Amsterdam wohnte und lange über meine Schulter blickte, während ich malte. Mein Ururgroßvater hieß übrigens auch Beckmann und floh während des Deutsch-Französischen Krieges 1871 in die Niederlande. Auf dem Standesamt von Winterswijk machte ein Beamter aus dem letzten „n“ ein „s“ – und siehe da: ein echter niederländischer Nachname: Beckmans. Wenn man sich Beckmanns Gemälde anschaut, spürt man einen expressiven Farbensturm über das Land fegen. Er malte große mythologische Darstellungen, die eine starke politische Ladung hatten und zugleich bizarr waren.

Für mich war Beckmann Pre-Punk: Grobheit, Nietzsche und Wagner in einer explosiven Mischung. Selbst seine wunderschönen Blumenstillleben wirken, als würde dir jemand mit der Faust ins Gesicht schlagen – oder die Blumenvase samt Inhalt ins Gesicht schleudern. Eine schallende Ohrfeige. Mondriaan ist mehr Immanuel Kant: Ein strenger Philosoph der Vernunft. Kant behauptete einst, dass Sehen und Hören objektive Wahrnehmungen seien. Riechen und Schmecken hingegen subjektiv. Beispiel: Wenn ich ein Glas Erdnussbutter zeige, sind sich alle einig, dass es ein Glas Erdnussbutter ist. Wenn ich sie probieren lasse, sagt der eine „lecker“, der andere „eklig“.

Wenn ich dieses Schema auf ein Gemälde von Mondriaan anwende, geschieht etwas Wunderbares: Dann zeigt sich, dass Sehen plötzlich eine subjektive Wahrnehmung ist. Mondriaan hat mit viel Einsicht und Maßarbeit weiße Flächen und schwarze Linien auf eine Leinwand gebracht. Man beginnt allmählich, etwas zu sehen – und man fühlt auch etwas. Doch um einen herum hört man nur: „Oh, wie schön!“ (von der einen Seite) und „Oh, wie hässlich!“ (von der anderen). Bei Mondriaan stellen sich die Kunsthasser direkt auf deinen Fuß. Nach Kants Gesetz der objektiven Wahrnehmung ist das, was dort hängt, ein Gemälde. Danach scheint es, als könne jeder das Ding an sich „kosten“: Der eine sagt, es sieht aus wie ein umgekippter Legokasten – der andere wird ganz lyrisch vom Spiel der schwarzen Linien auf weißem Grund. Der Philosoph Kant passt genau zu Mondriaans Werk: Was man sieht, ist ein Bild – was man darüber denkt, darf man selbst entscheiden.

Draußen am Strand steigt ein Mann, an einem Drachen hängend, auf – er schwebt knapp über dem Meer. Das Meer greift nach ihm, gelegentlich tritt der Mann nach den Wellen. Das Meer bekommt ihn nicht zu fassen – und warum tritt der Mann überhaupt gegen das Meer? Allzu lange kann dieser Kampf nicht mehr dauern, denn es wird dunkel. Und jetzt, wo ich länger hinsehe, frage ich mich: Ist das wirklich, was ich sehe? Wenn Kämpfen und Spielen sich so sehr ähneln – was will mir Mondriaan dann sagen? Was bedeutet sein Werk für mich? Jeden Tag habe ich ein anderes Gefühl dabei.

So sinniere ich über das weiße Haus in meinem Geburtsort, betrachtet von den weißen Klippen Brightons aus. Das weiße Haus steht noch immer. Vor ein paar Jahren wurde es als Museum Villa Mondriaan neu eröffnet. In Winterswijk. Warum ich dir das alles schreibe? – Nächste Woche fahre ich kurz zurück in die Niederlande und habe einen Termin mit Jana Roovers, der Direktorin des Museums in Winterswijk. Besonders ist, dass sie mit 27 Jahren die jüngste Museumsdirektorin der Niederlande ist. Wir schauen, ob ich etwas fürs Museum tun kann. Eine Ausstellung vielleicht. Oder diesen Brief dort vortragen.

 

Dein Kunstbruder

Fredie Beckmans

 

 

Erstellungsdatum: 19.05.2025