Netto zwei Stunden Grauen, Geschrei, Getöse, Flammen und Eisnebel bei brutto zwei Stunden und zehn Minuten Spieldauer einer Oper sind selbst für passionierte und neugierige Musiktheaterfreaks zu viel. Bei der Premiere von Ottorino Respighis „La Fiamma“ in der Deutschen Oper Berlin schaltete sich zumindest Andrea Richters Gefühlsleben einfach ab und wartete aufs Ende der Katastrophe.
Die Bühne: eine Fortsetzung der braunen Holzvertäfelung des Zuschauerraums der Deutschen Oper Berlin an den drei Wänden plus eine die gesamte Bühnenbreite einnehmenden Treppe. Sonst nichts. Während des kurzen, musikalisch bereits auf das folgende Grauen hinweisenden Vorspiels fahren aus den Seitenwänden ebenso braune Trennwände aus und unterteilen den Bühnenraum. Diese Art mit dem Bühnenraum umzugehen, kennt man von Bühnenbildner Herbert Murauer seit Jahren.
Aus dem Off der Chor der bediensteten Frauen, der orientalisch angehauchte wiegende Weisen zur Arbeit singt. Einige wenige Mädchen sitzen stickend auf der unteren Treppe. Die alte Hausdespotin Eudossia fordert sie auf, sorgfältig zu arbeiten, lobt ihre verstorbene Schwiegertochter für deren Haushaltsführung und beschwert sich in einer ersten großen Sopran-Arie (Martina Serafin) über die von Silvana, der jetzigen jungen, zweiten Frau ihres Sohnes Basilio. Diese ist durch eine Lücke in den Schiebewänden auf dem oberen Teil der Treppe sitzend und später von mehreren, sie anstarrenden Männern umringt, liegend zu sehen. Bald schon beklagt Silvana (Olesya Golovneva, Sopran) nicht etwa verzweifelt, sondern wütend und kraftvoll ihr Schicksal, in diesem Haus mit dem viel älteren Ehemann Basilio und der ewig nervenden Schwiegermutter so jung eingesperrt zu sein und vertraut sich ihrer Freundin und Magd Monica (Sua Jo, deren warmer und voller Mezzosopran vom ersten Ton an aufhorchen lässt) an. Plötzlich erklingt wieder aus dem Off ein gemischter Chor. Gesucht wird die Hexe Agnese (Doris Soffel, Mezzosopran, wunderbar). Diese, eine alte Frau, erscheint plötzlich bei Silvana und bittet darum, sich im Haus verstecken zu dürfen. Dramatisch und kraftvoll das Duett, in dem die angebliche Hexe andeutet, die Mutter der jungen Hausherrin sei in Hexerei verstrickt gewesen. Die erstaunte Silvana versteckt sie trotzdem. Damit sind alle weiblichen Protagonistinnen eingeführt. Fast eine halbe Stunde lang nur Frauen auf der Bühne.
Alle tragen schwarze und – bis auf Silvana – langärmelige Kleider, die Mägde mit kleinen, adretten weißen Krägen, der Art, wie die italienischen Faschisten die Mode für Frauen tatsächlich vorgesehen hatten. Somit ist klar, in welcher Zeit Regisseur Christoph Loy die Oper spielen lässt: in der ihrer Entstehung und Uraufführung 1934, an der der Duce Benito Mussolini höchstpersönlich in Rom teilnahm. Den Komponisten damit aber in die Ecke der Faschisten zu stellen, wäre zu einfach gedacht. Respighi hatte zwar seine hauptsächliche Schaffensphase während der Diktatur in Italien (1925-1943 bzw. 1945), gehörte aber nie der Partei an und trat durch keinerlei öffentliche Befürwortung des Regimes hervor. Dieses gestand ja auch Künstlern Freiheiten zu, die in Deutschland undenkbar gewesen und wegen Entartung verfolgt worden wären.
Dementsprechend sind von nun an ebenfalls alle Männer ausnahmslos in faschistisches Schwarz gekleidet. Einzige Ausnahme: das weiße Hemd zum schwarzen Anzug mit einer roten Einsteck-Rose von Donello, Sohn Basilios aus erster Ehe (Georgy Vasiliev, Tenor). Er kommt mit einem dicken Strauß roter Rosen daher und flirtet mit den Dienerinnen des Hauses, die ihm offenbar alle erliegen. So auch Silvana in der nächsten Szene, umgekehrt scheint auch Donello in Liebe für sie zu entflammen (ein beliebtes Motiv in der Opernliteratur: die Liebe zwischen junger Stiefmutter und Sohn aus erster Ehe des ziemlich alten Ehemannes und Vaters). Raum für die Entwicklung der Liebe bleibt aber nicht, denn die Massen sind hinter der versteckten Agnese her. Angeführt vom Exorzisten (großartig Patrick Guetti, Bass) stürmen er, sein gregorianisch singender Kirchenchor sowie der Mob von der Straße das Haus, brüllen dabei hysterisch „Die Hexe soll brennen“ und zerren Agnese hervor. Sie prophezeit, dass auch Silvana als Tochter einer Hexe als solche enden wird. Aus Kehlen und aus dem Orchestergraben kommend, spielt sich eine augen- und ohrenbetäubende Massen-Apokalypse am Scheiterhaufen ab. Eine Pause von tut Not. Die Hoffnung auf weniger Drama- und Dezibel-Bomben bleibt.
Dieser Wunsch (oder gar ein Bedürfnis?) scheint sich mit dem Anfang des 2. Aktes zunächst zu erfüllen. Die Mägde singen schöne Gesänge und Donello küsst Dienerin Monica. War er nicht vorhin gerade für seine Stiefmutter entflammt? Diese Frage stellt sich Silvana auch, wird eifersüchtig und wieder wütend und verbannt die Freundin und Dienerin in einem dramatischen Duett ins Kloster. Das Cello weint! Basilio gesteht Silvana, dass er Silvanas Mutter gut kannte und diese ihm ihre sehr junge Tochter Silvana schon damals zugeführt habe (Kindesmissbrauch, den Silvana verdrängt hat? Das würde so einiges erklären!) Seitdem liebe er Silvana. Sie ist plötzlich davon überzeugt, dass ihre Mutter wirklich Zauberkräfte hatte und sie so mit Basilio verheiratet hat. Und: plötzlich glaubt sie selbst über solche zu verfügen und macht einen Test: Sie flüstert „Donello“ … er erscheint. Sie ergehen sich in Leidenschaft auf dem Boden. Dusteres Orchester wie Musik in Horrorfilm, keine vielversprechende Romantik.
3. Akt: Sechs Monate lang konnten die Beiden ihr leidenschaftliches Verhältnis im Geheimen leben und beschreiben es in einem langen Tristan-und-Isolde-mäßigen, ekstatisch-dramatischen Duett. Dann erwischt Schwiegermutter Eudossia sie in flagranti und beschuldigt allein Silvana des Ehebruchs. Das Verhängnis nimmt seinen Lauf als, Silvana ihrem Ehemann Basilio ihre ganze Ehefrustration melodramatisch aufgebracht an den Kopf wirft. Er erleidet einen Herzschlag und stirbt vor Ort. An dieser Stelle bricht die Musik in ein markerschütterndes Inferno schreiender Dissonanzen aus, das mit martialischer Klangwucht hereinbricht. Zusätzlich bezichtigt Eudossia Silvana: „Du hast ihn getötet, Hexe!“. Selbst Donello befallen Zweifel hinsichtlich Silvana. Er verlangt von ihr, genau wie das Kirchengericht und die dröhnenden Unterstützungschöre, einen Schwur auf die eigene Unschuld zu leisten. Nebel vor schwarzem Nachthimmel, Totenglocke, Drama, ohrenbetäubende Massenhysterie: „Verteidige dich! … Hexe, Hexe“. Sie kann es nicht, lacht stattdessen …
Schluss, eine Sekunde lang lang ersehnte Ruhe, Vorhang. Dann das vor Begeisterung brüllende Publikum. Schon wieder Krach, ojeh, nicht noch mehr.
Es bleibt Unwohlsein und die Frage, ob der Komponist Respighi sich in der Produktion wiedergefunden und verstanden gefühlt hätte. Er wollte seinerzeit einerseits auch Italien an die modernen Kompositionsentwicklungen anschließen, aber gleichzeitig die gesamte Musikgeschichte bewahren. Das Ergebnis: eine Art kompositorische Amalgame aller Epochen wie beispielsweise in seinen symphonischen Dichtungen wie der „Römischen Trilogie“, Stücke, die oft in Konzertsälen zu hören sind. Sie kommen als etwas skurrile Form von „modernisierter“ Barock- oder neoklassizistischer Musik erstaunlich gut rüber, sind eingängig, amüsant und man kann ihnen sogar so etwas wie eine eigene, postromantische Klangsprache, zugestehen. Das gilt auch für seine wesentlich anspruchsvolleren und selten gespielten Kammermusikkompositionen.
Mit „La Fiamma“ wollte Respighi dem italienischen Melodramma, das angesichts der modernen musikalischen Entwicklungen im Ausland ziemlich aus der Mode gekommen war, zur Wiederbelebung verhelfen. Mit dem Ziel, der Gregorianik des 7. Jahrhunderts besonderes Gewicht zu verleihen, verlegte er die im Jahr 1590 stattfindende Handlung der Theatervorlage von „Anne Pedersdotter“ kurzerhand um neun Jahrhunderte vor, ohne zu bedenken, dass es damals so wenige Hexenverbrennungen gab wie im faschistischen Italien der 1930er Jahre: nämlich keine! Das muss Regisseur Loy gewusst haben, und der deshalb schiefe Bezug auf die Zeit kann nur bedeuten, dass der vergleichbare Massenwahn gemeint sein soll. Sozusagen zweimal um die Ecke gedacht!
Jedenfalls bespickte Respighi „La Fiamma“ einerseits mit bruchloser Musikästhetik aus 1400 Jahren Musikgeschichte und konstruierte Figuren, die allein über ihren Gesang charakterisiert werden sollten (das Orchester untermalt nur wie Filmmusik, hat lediglich an ganz wenigen Stellen eigene Bedeutung). Spannung soll durch das pausenlose Unterbrechen von Szenen einzelner Protagonisten sowie gruseligen, überdimensionierten Massenereignissen erzeugt werden. Das alles war und ist ein bisschen überambitioniert. Nach anfänglichen Erfolgen (1936 auch in Berlin gespielt!) verschwand das Werk nach dem Krieg weitgehend von den Spielplänen. Tatsächlich nur wegen der politischen Umstände, in denen es entstand? Dagegen spricht, dass die „Cavalleria rusticana“ von Pietro Mascagni sich durchgehend größter Beliebtheit erfreute, obwohl der Komponist sogar Mitglied der Faschistischen Partei Mussolinis war.
Besteht die Möglichkeit einer Spielpläne-Renaissance von „La Fiamma“? Schwer zu sagen. In der Berliner Produktion überwog die Überbetonung des Dramatischen, Massenhaften, Lauten, Hysterischen über die Schmerzgrenze des Zuschauerohrs hinweg. Möglicherweise würde sich der Charakter des Stückes sehr ändern, wenn beispielsweise das Orchester vor allem während der wenigen, längeren Instrumental-Passagen differenzierter mit Klang und Lautstärke umgegangen wäre. Das gilt genauso für die Partie der Silvana, die, wäre sie statt beinahe immer wütend, laut klagend und sehr bestimmt anklagend, vielmehr leiser, bedrückter, sehnender gewesen, was angesichts ihres Schicksals verständlich wäre, hätte das der Balance und damit der Dramatik des Werkes und der Entfaltungsmöglichkeiten der solistischen Stimmen wahrscheinlich sehr geholfen.
Ottorino Respighi
La Fiamma
Oper in drei Akten
Libretto von Claudio Guastalla,
nach Hans Wiers-Jenssens Theaterstück „Anne Pedersdotter“
Mitwirkende
Musikalische Leitung:
Carlo Rizzi
Inszenierung:
Christof Loy
Bühne: Herbert Murauer
Kostüme: Barbara Drosihn
Licht-Design: Fabrice Kebour
Chor: Jeremy Bines
Kinderchor: Christian Lindhorst
Dramaturgie: Konstantin Parnian
Silvana: Olesya Golovneva
Donello: Georgy Vasiliev
Basilio: Ivan Inverardi
Eudossia: Martina Serafin
Agnese di Cervia: Doris Soffel
Monica: Sua Jo
u.a.
Chor und Kinderchor der Deutschen Oper Berlin
Orchester der Deutschen Oper Berlin
Weitere Vorstellungen: 2., 7., 11., 15. und 18. Oktober 2024
Erstellungsdatum: 02.10.2024