Eine Geschichte aus „Catching Strangers" von Alexander Reiswitz
In „Catching Strangers“ sind Fotografien von Alexander von Reiswitz kongenial mit literarischen Texten verwebt. Seine Aufnahmen von Personen aus verschiedenen Ländern und Kulturen legte er in Zusammenarbeit mit Florian Koch einer Reihe von Schriftsteller:innen mit der Bitte vor, hierzu fiktionale Geschichten zu ersinnen. Das Foto eines betagten Mannes mit einem Kind auf den Knien inspirierte etwa Muepu Muamba zu einem berührenden Rückblick auf ein von Schicksalsschlägen, Armut und Kolonialherrschaft geprägtes Leben. Hier ist die Erzählung „Innerer Monolog“ zu lesen.
Der alte Mann seufzte. Sein von großer Zärtlichkeit erfüllter Blick glitt zu dem Enkelkind auf seinen Knien. In dem Blick lag etwas wie Schwermut und Nachdenklichkeit.
Der Mond war noch schläfrig dabei, sein von Schleierwolken verziertes silbernes Tuch aufzuspannen. Der betörende Duft des Tages lag behaglich in der Atmosphäre, ein wenig betäubt von den Liebkosungen, mit denen sich die Dämmerung bereits ankündigte. Ein Hahn krähte, als wollte er die Nacht begrüßen.
In der Ferne glitt die Barke des Sonnengottes Aton langsam in das Reich der Toten hinunter. Er beendete seine tägliche Reise zu den Lebenden. So war der Horizont samtig-purpurrot. Beim Hinübergleiten überwand Aton die magische Grenze zwischen der blättergeschmückten Wölbung der Erde und den smaragdgrünen Wurzeln des Himmels und nahm die Form einer blutroten Halbkugel an. Ein gefährlicher Augenblick, wenn die Geister des Tages den Geistern der Nacht weichen. Der alte Mann wusste es. Er zog es vor, zu dieser Stunde seinen Enkel auf seinen Knien zu haben. Denn er dachte, ihn auf diese Weise vor den schleichenden Gefahren schützen zu können – diesem unkontrollierbaren Hauch von bösen Geistern am Ende des Tages.
Das Kind schmiegte sich unbewusst auch gern an die Brust seines Großvaters. Es liebte diese Momente der vertrauensvollen Intimität. Sein Großvater erzählte ihm oft Geschichten von früher, deren Ursprung sich verlor im Nebel längst vergangener Zeiten. Geschichten, deren Autor niemand kannte; man wusste auch nicht, wie sie sich ins Gedächtnis der Menschen eingeschrieben hatten.
Geschichten, festgehalten in mehreren Sprachen, niedergeschrieben von mehreren Händen. Es ist der kollektive Reichtum eines fruchtbaren Erbes.
Ganz plötzlich ging ein leichtes Zittern durch den Körper des alten Mannes. Er war selbst ein wenig überrascht. Das Kind hob den Kopf und betrachtete ihn mit ruhigen Augen. Der alte Mann lächelte ihm beruhigend zu, als wollte er es in Sicherheit wiegen. Er murmelte etwas zwischen den Lippen, das der Enkel nicht verstand. Da war ein alter Schmerz, der plötzlich wieder auftauchte, ihn unerwartet ergriff, in einem Augenblick, als er darauf nicht gefasst war. Eines Tages entschied sein Sohn, ohne eine Vorankündigung, die Meere zu überqueren, fortzugehen ins Ausland! Er ließ eine unglückliche Frau und zwei Kinder zurück.
Die Mutter weinte heftig an jenem Tag, sie vergoss alle Tränen ihres Leibes. Der alte Mann litt unter der Demütigung und erduldete sie wortlos, wie es die Tradition verlangt. Von diesem Tag an änderte sich die Stimmung in der Familie. Die Frauen schienen immer Tränen in den Augen zu haben. Niemand sprach von dem Abwesenden, aber alle dachten an ihn.
Der Abwesend-Anwesende beschäftigte die Gedanken von allen. Nun, vier Jahre ist es schon her, dass er fortgegangen ist. Und niemand wusste genau, wo er war, noch, was er tat. In diesen vier Jahren hatte er es lediglich geschafft, zwei oder dreimal eine Nachricht zu geben. Er hatte der Familie ein wenig Geld geschickt. Wie das Schicksal sich wiederholt, gleich den Stunden des Lebens! Der alte Mann hatte selbst diese verfluchte Überfahrt gemacht. Genauso wie sein Vater vor ihm. Aber der Vater des alten Mannes hatte die Meere aus anderen Gründen überquert. Er war verpflichtet, Europa zu befreien. Und unter den Nachwirkungen litt er bis zum Ende seines Lebens.
Die Schlacht von Monte Cassino, an der er teilnahm, hat ihn vollkommen geprägt und seine Seele zutiefst verletzt. Dort hat er Freunde seiner Kindertage verloren, er war dem Tod sehr nahe. Als er zurückkam, hasste er den Krieg so sehr, dass er nicht einmal das Wort aussprach, er schloss sich ein in beredtes Schweigen. Seitdem hatte er all seinen Lebensmut verloren und seine ganze Lebensfreude.
Der alte Mann selbst war aus Gründen des Überlebens gezwungen, das Meer zu überqueren. So hat er geholfen, Frankreich und Europa wieder aufzubauen. Eine schmerzhafte, traumatisierende Erfahrung. Nach seiner Rückkehr aus Europa schwor er sich, diese Erfahrung seinen eigenen Kindern zu ersparen.
Und nun hatte sein Ältester denselben Weg genommen, unter viel gefährlicheren Bedingungen als er selbst und sein Vater. Über ein unberechenbares Meer, auf einem unsicheren Boot, einer dieser wirklichen Todesbarken, ohne jegliche Sicherheit, und zusammen mit seinen Elendskameraden von einer gnadenlosen Polizei wie Kriminelle gejagt. Und auf der anderen Seite wurde ihnen ein feindseliger Empfang bereitet.
Das Kind war eingenickt, jetzt schlief es fest an seiner Brust. Der Patriarch betrachtete es liebevoll, er bewegte sich vorsichtig und sagte halblaut: „Es ist Zeit, zu Bett zu gehen.“ Er stand mit dem Kind auf und bot seinen Stuhl irgendeinem nächtlichen Geist.
Durch seine persönliche Erfahrung hatte der alte Mann schon begriffen, dass das Recht auf Freizügigkeit ein unanfechtbares Recht der Reichen ist, ein Recht, das dem Geld vorbehalten ist. Für die Ärmsten, die „Verdammten dieser Erde“, werden elektronische Mauern und Gesetze ausgedacht, um ihnen bereits die Grenzen der „reichen und entwickelten“ Länder zu verbieten. Und einige unter ihnen, die mit den geringsten Chancen, enden auf den Meeresfriedhöfen oder werden in dreckigen Camps geparkt.
Das ist schon eine makabre und neue Semantik von Freiheit! Das ist es, was den alten Mann ängstigt, wenn er an seinen Sohn denkt, der sicherlich verloren ist in den unwirtlichen Straßen der Vorstädte dieser Länder jenseits des Meeres. Er vermied es, über all das mit seiner Frau und seiner Schwiegertochter zu sprechen. Die Frauen schliefen schon lange, als er ins Haus trat, um sich auch hinzulegen. „Eine seltsame Nacht“, sagte er sich noch beim Einschlafen. Wirklich eine merkwürdige Nacht. Es war schon lange her, dass er eine ähnliche Nacht erlebt hatte. Eine Nacht, in der die Menschen und die Vergangenheit in seinem Kopf herumwirbelten, als vollführten sie einen Farandole Tanz: Sein Vater, der eine so große Rolle in seinem Leben gespielt hatte, und seine Mutter, die ihn innig liebte, und die er selbst anbetete; ihr brutales und unerwartetes Verschwinden durch ein Flugzeugunglück war ein tieftragischer Moment in seinem Leben. Dieses Verschwinden geschah auf dem Rückweg von Mekka, könnte sogar gesehen werden als ein Akt der Gnade. Sie hatten ihre wichtige Pflicht Gott gegenüber erfüllt. Und trotzdem war der Schmerz immer da, genauso lebendig und brennend wie am ersten Tag. Und dann dieser Freund, der seinen Vater in Italien gerettet hatte, während dieses verfluchten Krieges, war auch durch einen dummen Autounfall getötet worden, einen Tag nach seinen Eltern. Als hätten sie sich verabredet! Dieser Unfall hatte auch seinen Glauben auf eine harte Probe gestellt. Zwischen Allah und ihm entbrannte eine intensive Diskussion.
Aber warum kam diese ganze Vergangenheit heute so intensiv zurück, fragte er sich ein wenig besorgt. Ist es wegen des Lärms, den die Marschtritte der Stiefel auf der Haut der Erde verursachen, weil die Menschen sich fast überall auf diesem armen Planeten im Namen ihrer Götter bekämpfen? Konflikte, die durch Verbrecher aller Art ausgelöst werden. Wie sein Vater verabscheute auch er den Krieg und seine Bombenexplosionen!
Der alte Mann lag lange ausgestreckt auf seinem Bett, ohne Schlaf zu finden. Er besuchte seine Archive des Herzens und der Seele. Diese Archive, in denen die Menschen versuchen, einen Teil ihrer Vergangenheit zu vergraben oder einen anderen Teil ganz zu verbrennen. Vor allem den beschwerlichen und schmerzhaften Teil. Langsam ermüdete sein Geist und der Schlaf übermannte ihn unmerklich. Das Enkelkind schlief wie immer zwischen ihm und seiner Großmutter. Es wuchs auf zwischen dem Foto seines Vaters, seiner Mutter und seinen Großeltern. Und manchmal hatte es den Eindruck, dass dieses Foto seines Vaters ihm wirklich zulächelte, mit ihm sprach, es bat, brav zu sein, sich um seine Schwester, seine Mutter und seine Großeltern zu kümmern, während seiner Abwesenheit …
Muepu Muamba
Übertragung aus dem Französischen: Maria Kohlert-Németh
Juni 2013
Mit freundlicher Genehmigung des Hatje Cantz Verlags.
Alexander von Reiswitz (*1965 in Málaga) lebt und arbeitet als Fotograf und Architekt in Berlin. Seine Projekte mit „Studio- Tierporträts" wie „Zoogestalten“ und „Animal Stars“ wurden in zahlreichen Ausstellungen weltweit gezeigt.
Literarisches Konzept: Florian Koch
Texte von: Nadine Barth, Alexander von Reiswitz, Florian Koch, Bernhard Kleeberg, Matthias Altenburg, Zsuzsa Bank, Marcel Beyer, Britta Boerdner, John Burnside, Ulrike Draesner, Nadja Einzmann, Marjana Gaponenko, Lena Gorelik, Anna Katharina Hahn, Danielle Hoffelt, Felicitas Hoppe, Verena Jütte, Ulla Lenze, Mariana Leky, Nicol Ljubic, Muepu Muamba, Ulli Nois, Angelika Overath, Rosa Ribas, Nis-Momme Stockmann, Christian Stahlhut, Vincenzo Todisco
Veranstaltungen in Frankfurt zum Erscheinen des Buches:
Donnerstag, 12. Juni 2025 um 19.30 Uhr: Buch-Premiere in der Romanfabrik, Hanauer Landstraße 186, mit Alexander von Reiswitz, Zsuzsa Bank, Britta Boerdner, Marjana Gaponenko und Florian Koch. Moderation: Freddy Langer
Freitag, 13. Juni 2025 um 19 Uhr: Vernissage an der Frankfurter KunstSäule, Brückenstraße / Ecke Gutzkowstraße in Frankfurt Sachsenhausen
Samstag, 14. Juni 2025 um 20 Uhr: Gespräch und Lesung im Studio Pompette, Hinterhaus Buch & Wein, Berger Straße 122, mit Alexander von Reiswitz, Britta Boerdner und Florian Koch. Moderation: Timo Wiegand
Außerdem: Alexander von Reiswitz im Gespräch mit Uli Sonnenschein bei hr2 Doppelkopf: Dienstag, 10. Juni um, 12.05 und um 23.05 Uhr.
Alexander von Reiswitz
Catching Strangers
The Family Constellation Project
Englisch, Deutsch
April 2025, 224 Seiten
Hatje Cantz Verlag
ISBN:978-3-7757-5946-5
Erstellungsdatum: 05.06.2025