Nicht nur Dramatiker müssen sich heute fragen, ob das Schreckensszenario einer „schönen neuen Welt“ nicht längst ihren Schrecken verloren hat und wie man heute eine solche infernalische Gesellschaft thematisiert. Aber vor allem Theaterleute stehen vor der Aufgabe, dies mit den Mitteln der Kunst auch überzeugend realisieren zu müssen. – Das Schauspiel Frankfurt eröffnete die neue Saison mit einem „Grusical“ von Ferdinand Schmalz, und Martin Lüdke hat es gesehen.
Ein erfolgreicher Start? Zumindest ein äußerst unterhaltsamer Abend. Oder mehr als das? Was Jan Bosse da auf die von Moritz Müller gebaute, faszinierend eindrucksvolle Bühne gebracht hat, nähert sich einer Komi-Tragödie, die zwischen Becketts „Endspiel“ und Goethes „Faust“ und der seligen „Rocky-Horror-Picture-Show“ in einer Pendelbewegung den Halt sucht, den sie beim Pendeln nie erreichen kann. Alle technischen Möglichkeiten werden ausgenutzt. Der Schauplatz gleicht einer vom Wasser umspülten Halbinsel.
Sollen wir uns wirklich gruseln? Oder sollen wir nur grinsen? Oder, womöglich, beides? Es gibt Gerüchte. Die Journalistin Lio Laksch (Lotte Schubert) hat davon gehört und macht sich deshalb, ohne Näheres zu wissen, auf den steilen Weg in die Berge. Mit einem Sportwagen brettert sie riskant durch die engen Kurven, vermeidet ganz knapp eine Kollision mit einem entgegenkommenden Auto, während sie mit ihrem Chef telefoniert, kurz vor dem Ziel, dem Sanatorium, dessen Geheimnis sie lüften will. Es beginnt also dramatisch, aber noch nicht gruselig.
Lio Laksch, souverän von Lotte Schubert präsentiert, plant einen Aufenthalt von einer Woche, aber verfällt, ähnlich wie einst Hans Castorp im „Zauberberg“, schon bald der kaum erklärlichen Faszination des Sanatoriums. Die, man möchte sagen, Insassen, tatsächlich Wohlstandsopfer, die nicht nur an ihrem Reichtum, sondern auch an der immer deutlicher werdenden Sichtbarkeit der Endlichkeit ihres Daseins leiden, den Falten, Flecken, Wülsten, Hängebrüsten, diese Ansammlung von schrägen Gestalten, darunter ein Opernsänger, der seine Stimme verloren hat und dem zeitweise auch noch seine Frau, eine, wie es bildschön heißt, „Make-up-Influencerin, abhanden kommt, dieses Panoptikum verspricht sich Hilfe von dem wunderbar/ sonderbar verrückten Anstaltsarzt namens Dr. Klotz. Dieser Arzt, eine Art Volksausgabe des Doktor Faustus, wird von Wolfram Koch, dem Dreh- und Angelpunkt des Stücks, mal in kurzer Turnhose, mal im abwaschbaren Arztkittel in seiner ganzen Verrücktheit (und Verzücktheit) auf die Bühne gebracht. Dr. Klotz behandelt seine Patienten nicht nur mit dubiosen Injektionen. Er betätigt sich vor allem als Forscher. Sein Spezialgebiet: „Nacktmullen“, das sind die seltsamen Viecher, die, blind, in regelrechten Kolonien, Kompaniestärke, tief unter der Erde leben. Sie haben kein Fell. Nur ihre Lippen sind behaart. Ihre rosige, faltige Haut umgibt sie wie eine locker sitzende Umhüllung. Aufgrund solcher und anderer Eigenschaften verspricht sich Dr. Klotz von ihnen, gleich zwei Rätsel lösen zu können: das ewige Leben und eine Art Jungbrunnen, also eine Restitution von Altersprozessen. Der Mann ist also ein Spinner. Aber seine Patienten glauben an ihn. Und der Herr Anton ebenso. Die Rolle des Dieners, stets gehorsam, nach oben buckelnd, nach unten tretend, was sich bei der Ankunft von Lio Laksch gleich zeigt, wird von Christoph Pütthoff voll ausgefüllt.
Zum Schluss bringt Lio Laksch, bereits bei ihrer Ankunft schwanger in das Sanatorium gekommen, ohne daß es zu erkennen gewesen wäre, auch noch ihr Kind zur Welt. Ihr ursprüngliches Ziel hat sie unterdessen völlig vergessen. Es ist also, ohne dass sie (und ohne daß wir, die Zuschauer) es richtig gemerkt, einige Zeit vergangen. Worauf alle, im Chor, schlussendlich von „dem kleinen päckchen zukunft“ sprechen, einer „zukunft, die in falten liegt“.
Daraus erklärt sich, warum Bosse/ Schmalz das Stück ein „Grusical“ nennen. Der Plot ist zwar kaum gruselig, doch das, wovon er erzählt, ist es eher. Die nicht eben üppige Handlung wird eingeleitet und beendet und fortwährend unterbrochen durch Songs, Lieder, die mal im Chor, mal von den einzelnen Protagonisten gesungen und von dezenter Musik (Gitarre) begleitet werden. Weil es nun eigentlich gar nicht so gruselig zugeht, könnte man allerdings auch von einem Singspiel sprechen – und hätte damit aber die Harmlosigkeit der Sache (vielleicht etwas über-)betont.
Unterhaltsam ist die ganze Geschichte schon. Ein flotter Wechsel zwischen Spielszenen und Gesängen lässt keine Langeweile aufkommen. Genügt das aber? Zumindest für einen Abend? Oder, ein kleines bißchen grundsätzlicher, für eine Saison-Premiere? Schmalz / Bosse könnten sich hier mit guten Gründen auf Brecht berufen. Müssen sie es? Wer weiß?
Wenn man, hübsch auf- und gründlich abgeklärt, mal probeweise davon ausgeht, dass der ganze Karren ohnehin in den Dreck gefahren ist, die Entwicklung unserer Gesellschaft, politisch, ökonomisch, ökologisch in eine wenig hoffnungsvolle Richtung geht, dann ist vielleicht ein „Grusical“ eine angemessene Reaktion darauf.
Also: doch ein guter Start in die neue Saison des Frankfurter Schauspiels. Denn, wie gesagt, das Bühnenbild war einfach umwerfend. Die Regie großartig. Imponierend sind die Video-Projektionen. Und dazu grotesk bunte, aber passende Kostüme.
Also:
Was war das denn?
Ein guter Start! Eine überzeugende Inszenierung. Der Beifall war dem entsprechend, zwar nicht überwältigend, aber doch recht kräftig.
Ferdinand Schmalz
Sanatorium zur Gänsehaut. Eine Entfaltung (UA)
Regie: Jan Bosse
Bühne: Moritz Müller
Kostüme: Kathrin Plath
Video: Meika Dresenkamp
Dramaturgie: Katrin Spira
Licht: Marcel Heyde
Schauspiel Frankfurt
Aufführungen
Fr. 19.09.2025
Mi. 24.09.2025
Sa. 27.09.2025
Do. 02.10.2025
Fr. 03.10.2025
Fr. 10.10.2025
jeweils 19.30
So. 12.10.2025
18.00
Mo. 20.10.2025
19.30
So. 02.11.2025
18.00–21.00
mit Audiodeskription
Erstellungsdatum: 16.09.2025