Auch der „Faust“ stickt voller Merkwürdigkeiten. Einerseits gilt er längst als zu alt für diese Welt, andererseits ist er in uns selbst lebendig, weil seine Verse in unseren Sprachgebrauch eingegangen sind, ob wir es wissen oder nicht. Lassen sich daraus vernünftige Konsequenzen ziehen? In Frankfurt wurden mit enormem Erfolg gleich beide Teile des „Faust“ in einer gestauchten und attraktiven Version an einem Abend gegeben. Ewart Reder hat das ikonische Stück gesehen und dabei etwas Wesentliches vermisst.
Der Aufführung geht ein Ruf voraus. Wie Theaterdonnerhall. Am Eingang treffe ich eine Freundin, die auf Anraten ihres Ex hier ist, obwohl der Rosenkrieg noch tobt. Der Ex war schon fünf Mal drin. Eine gemeinsame Bekannte von mir, der Frau und ihrem Ex: vierzehn Mal! „Jede Vorstellung, glaube ich, hat sie gesehen bisher“, sagt die Frau. Vierzehn Mal dasselbe! Sogar die Jugend geht hin, in erster Linie freilich wegen des hessischen Curriculums und der berüchtigten Abitur-‚Leseliste‘, auf der das Stück seit Bestehen der Liste steht und stehen wird, solange die Welt und das hessische Schulsystem stehen: Goethes Faust. Hier im Schauspiel Frankfurt gleich alle beide, Erster / Zweiter Teil. Ich gehe nach Monaten hin, entschlossen, mich zu begeistern. Ich begeistere mich, und wie.
Und dann denke ich nach. Was habe ich gesehen? Goethes Stück war es nicht, denn das hat einen Konflikt im Innern des Protagonisten und einen kosmischen Boxring, zwischen dessen verschiedenen Ecken der gleiche Konflikt und noch weitere ausgetragen werden. Diese Konflikte fehlen in der Aufführung. Pingelig betrachtet fehlt auch der Protagonist, da er nur als Puppe von anderen Figuren herumgetragen und phasenweise animiert wird. Hat er deshalb kein Innenleben? Ist nicht das Puppenspiel wie alles andere Spiel an dem Abend so perfekt, dass die Puppe seelenvoller guckt als alle Mitspieler:innen zusammen? Ja, unbedingt und auf beeindruckende Weise. Aber wohin guckt sie mit ihren großen, altersmüden, durch ein hochmütiges Leben verdorbenen Augen? Nicht nach innen, weil sich da nichts abspielt. Sondern auf die rasende Abfolge von Bildern, die der Regisseur und seine Mitarbeiter:innen auf die Bühne beamen. Die Bilder zeigen Faust eine Welt, die er per Unterschrift unter einen Vertrag betreten hat und bei Verlust einer Wette, die er geschlossen hat, in Richtung Hölle verlassen wird. Faust ist ein Zuschauer der Aufführung, so wie ich und alle um mich herum. Er kann von Glück sagen, dass Mephisto ihm am Anfang Leben eingehaucht hat, wodurch er hier mit dabei ist und nicht im Fundus rumliegen und verstauben muss. Für alles, was auf der Bühne – angeblich als sein Leben – passiert, muss er dankbar sein, denn mit ihm selber ist nicht das Geringste los und Freunde, die so die Puppen tanzen lassen für einen wie Mephisto für Faust, sind ein Glück für jede Puppe. Inhaltlich hat das Gezeigte weder mit Faust noch mit irgendjemand anders außer dem Regisseur und seinem Team irgendetwas zu tun.
Auch mit Goethe nicht? Kann man das im Ernst behaupten – bei einer Theaterkunst, die so delikat wie nur möglich die Verse des großen Theater- und Sprachkönners spricht, die daraus ein so opulentes Spektakel anrichtet, wie das Schauspiel Frankfurt es tut?
Doch, man kann. Denn Goethe war außer ein Könner solcher Dinge auch ein Fühlender, ein Erleben und Verstehen wollender von Dingen, die größer waren und sind als er selbst und wir alle. Und diese Dinge kommen nicht vor. Ich will mich auf wenige Beispiele beschränken. In Frankfurt hat Gretchen, nachdem sie uns mitten in Faust II ihr trauriges Leben noch mal erzählt hat, ihrer Meinung nach keine Wahl, als eine thessalische Hexe zu werden. Sie wird es und fädelt damit wieder ein in der Geistershow, fährt wieder mit in der Geisterbahn, die das zentrale Bühnenbild ist und deren wilde Fahrt für ihr armseliges Unterklassenleben einen Moment lang unterbrochen wurde. Demgegenüber ist sie bei Goethe die zentrale Gegenspielerin Mephistos, der Endgegner Fausts noch über ihren und eventuell sogar seinen Tod hinaus. Beispiel zwei: Faust verliert am Ende die Wette, stirbt und fährt zur Hölle. So weit, so schlicht, so ungoethisch. Das Stück muss in Frankfurt so enden, weil es hier nie etwas gab, das die Faustpuppe dem ihr von Mephisto angebotenen und angepriesenen Momentgenuss entgegengesetzt hätte. Wie auch? Sie hat, wie wir, nur zugeschaut, wie wir das genommen, was geboten wurde. Beispiel drei: Philemon und Baucis. Das im Einklang mit sich und der Natur lebende Paar, das bei Goethe mitsamt seinem Biotop brutal niedergemacht wird vom Großkapitalisten Faust, damit dessen Geoengeneering-Großprojekt die Natur auf endgültige Weise verbiegend zerstören kann, hier sind es zwei senile Frankfurter:innen in kariertem Hemd und frisch frisierter Langeweile, die wegmüssen, wenn der Abend in der von ihm gewollten haribo-bunten Erinnerung bleiben soll. Aber mit Verlaub, wird denn die Frankfurter Wohnungsmisere nicht adressiert auf der Bühne? Ja, sie wird, genau wie der Finanzkapitalismus beim Thema Papiergeld oder die Kriegslüsternheit der Herrschenden im Kaiser-Gegenkaiser-Akt. Aber warum und mit welchem Ende geschieht das alles? Mephisto, der ludi magister der Frankfurter Show, lebt nun mal auf der Überholspur, und die ist bunt, aufregend, überwältigend, sollen wir finden und finden wir bereitwillig. Beziehungsweise breitgefahren wie Igel, die die Überholspur ahnungslos überqueren wollten. Na gut, dann sagen wir halt ja zum kannibalischen Kapitalismus, zum Krieg und zur planetaren Verwüstung. Denn sonst würde es wieder schwarzweiß, wieder langweilig, wieder so wie außerhalb der vier Theaterhauswände, über die hinauszudenken wir dank Multimedia für viereinhalb Stunden vergessen haben. So wie in dieser mäkeligen Theaterkritik, die denken will, statt zu gucken und sich am Gesehenen zu besaufen. Und weil die genannten Dinge Kapitalismus – Krieg – Klimagau, wie jeder Mensch weiß, schlecht sind, schlecht für uns, schlecht nach jedem denkbaren Kriterium der Bewertung, lassen wir uns von Mephisto zu einer Endlösung bitten, gegen die niemand etwas einwenden kann, weil niemand sie je gesehen hat. Zum Nichts. Das hebt sich Mephisto entsprechend für den späten Abend auf, sein Outing von ganz vom Anfang von Faust I, das nihilistische Glaubensbekenntnis:
Ich bin der Geist, der stets verneint! Und das mit Recht; denn alles, was entsteht, Ist wert, daß es zugrunde geht; Drum besser wär's, daß nichts entstünde.
Da – bei der Zerstörung, beim Infragestellen, bei der Dekonstruktion von allem bislang Hingenommenen – fängt die Goethefigur Mephisto erst an. Da stellt sich die Frage: Welche Erfahrung macht jemand, der sich mit diesem speziellen Bühnenteufel verbündet? Sie führt weiter zu Fragen wie: Was sind die Kräfte der Klassischen Walpurgisnacht? Warum und zu welchem Ende geht alles kaputt, was Faust sich aufbaut, bis zu seiner Schlussvision vom freien Volk auf freiem Grund, die auf einem Missverständnis des eigenen Ablebens beruht?
In Frankfurt ist die Figur Mephisto am Ziel, fertig und auserklärt, sobald sie Faust und seinen Mit-Zuschauenden das Nichts gebracht hat.
Um Missverständnissen vorzubauen: Ich halte den Frankfurter Faust für über die Maßen sehens-, erlebens- und bedenkenswert. Abgesehen von einer Show, deren sämtliche Einzelheiten den Besuch einzeln lohnen, wird hier Theater gespielt auf einem Niveau, das man genauso schwer glauben kann wie viele der Effekte. Wolfram Koch als Mephisto ist unvergesslich; andere bleiben nur ungenannt, weil zu viele genannt werden müßten. Auch Jan-Christoph Gockels Regie befleißigt sich ihrer komprimierenden Deutung meisterhaft gelenkig.
Es ist halt nur nicht das Stück, das Goethe sechzig Jahre lang geschrieben hat. Es sind seine Verse – in einer anderen Geschichte. Es sind seine Bohrungen – in einen anderen Untergrund. Es sind seine Fundstücke – in einem mutlosen und gewissenlosen Ausverkauf.
Siehe auch: Martin Lüdkes Besprechung von FAUST I + II auf TEXTOR
Erstellungsdatum: 24.06.2025