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Alban Bergs Lulu in Frankfurt

Notwehr bis zum Tod

Andrea Richter


Brenda Rae (Lulu; sitzend) und Evie Poaros (Anima; dahinter stehend). Foto: Barbara Aumüller

Alban Bergs Oper „Lulu“ von einer Frau in Szene gesetzt und damit aus weiblicher Sicht präsentiert. Das kommt sehr selten vor. In der Neuinszenierung von Nadja Loschky an der Oper Frankfurt ist Lulu keine schillernde Femme fatale, sondern eine verzweifelte Zerstörerin, die selbst zerstört wird in einer patriarchal-misogynen Gesellschaft, der es an Empathie mangelt. Andrea Richter hat die Premiere erlebt.

 

Eine zum Zuschauerraum hin gewölbte, kahle Betonwand, davor eine im Stil der zwanziger Jahre gekleidete Zirkustruppe, die etwas gelangweilt den Beginn der Vorstellung erwartet. Über die Lautsprecher klackt ein Metronom die Sekunden (bis zum Start oder bis zum Tod?). Die berühmte Lulu-Zirkusfanfare und die wenigen Takte des Vorspiels. Der Zirkusdirektor preist im Prolog an, was es zu sehen geben wird: Tiere aller Art, vor allem die Schlange. „Sie ward geschaffen, Unheil anzustiften, zu locken, zu verführen, zu vergiften und zu morden, ohne dass es einer spürt.“ Währenddessen dreht sich die Betonwand und man sieht ins Innere des Beton-Zirkus‘, wo unter den Blicken von Männern eine schmutzige, weibliche Gestalt (Anima) aus dem Untergrund gezogen, kurz abgeputzt und mit einer weißen Blume im Haar geschmückt wird.  Der Zirkusdirektor sagt ihr sofort wo‘s langgeht: „Du hast kein Recht, uns die Urgestalt des Weibes zu verstauchen:“

Und wieder dreht sich die Zirkus-Bühne: Lulu (Brenda Rae) als Modell für ein Porträt in einem adretten, weiß möblierten Maleratelier in adrett weißem Flatter-Unterrock. Anima geistert verschmutzt durch die Zimmer-Manege. Sie wird die ganze Zeit (als ihre Urgestalt) bei Lulu bleiben. Hinzukommen der autoritäre Medientycoon Dr. Schön (Simon Neal), der sie vornehm mit einem Arzt verheiratet hat und trotzdem ihr Geliebter bleibt, sowie sein Komponisten-Sohn Alwa (AJ Glueckert). Kaum sind sie weg, bedrängt der Maler Lulu. Sie hat große Angst vor dem, was kommen wird und vor ihrem Mann, der sie entdecken könnte: „Er wird mich töten“. Sie wehrt sich, so gut sie kann, doch der Maler vergewaltigt sie. Als ihr Mann ins Geschehen hineinstürmt, kann er sie nicht mehr töten, weil er selbst einen Herzschlag erleidet.

Dr. Schön hat Lulu daraufhin mit dem Maler verheiratet und dafür gesorgt, dass dieser für seine Bilder viel Geld bekommt, damit seine Geliebte gut versorgt ist. Ins Idyll einer anscheinend wohlsituierten Beziehung platzen zum einen ein Bettler aus Lulus Vorleben, Schigolch (Alfred Reiter), der Geld von ihr will, und Dr. Schön mit der Absicht, sich von Lulu zu trennen, um „rein“ eine andere heiraten zu können. Sie fleht ihn an, das nicht zu tun. Der Maler begreift, dass er ohne Schöns Protektion weder Lulu zur Frau noch Geld für seine Bilder bekommen hätte. Sein Selbstbild ist zerstört, er bringt sich um.

Bis zur Leiche Nr.3 heißt es etwas warten. In der Zwischenzeit wird eines von mehreren symphonischen Zwischenspielen mit ausgreifendem Klangteppich geliefert. Sowie Lulus Aufstieg zur bewunderten Tänzerin (diesmal in kokettem Teufelskostümchen) in Alwas Revue mit Revue-rhythmischer-Musik. Sie ist jetzt wer, tritt selbstbewusster auf, kann Dr. Schön sogar dazu bringen, sich von seiner Verlobten zu trennen und endlich sie zu heiraten. Für jemanden aus der „Gosse“ hat sie es weit gebracht und genießt es, doch eine „Femme fatale“, zu der die Männer sie stilisieren wollen, ist Brenda Raes Lulu zu keinem Zeitpunkt. Die Vorstellung im Beton-Zirkus geht weiter. Dr. Schön entpuppt sich als pathologisch Eifersüchtiger, der glaubt, seine schöne junge Frau – sie trägt jetzt ein rotes Pailletten-Kleid und sieht wie Pretty Woman aus – treibe es mit jedem und jeder Besucher:in im noblen Heim. Er will Lulu erschießen. Doch im Gerangel erschießt Lulu ihn mit ohrenbetäubend lauten (Orchester-) Schüssen in Notwehr. Sie, völlig verzweifelt, wird als Mörderin auf dem Höhepunkt ihrer gesellschaftlichen Karriere festgenommen.


v.l.n.r. AJ Glueckert (Alwa), Brenda Rae (Lulu), Claudia Mahnke (Gräfin Geschwitz) und Alfred Reiter (Schigolch). Foto: Barbara Aumüller

 

An diesem dramatischen Punkt mitten im 2. Akt werden die Zuschauer in die Pause geschickt. Eine weder von Komponist Berg noch in der üblichen Aufführungspraxis vorgesehene Zäsur. Sie macht aber Sinn. Denn, wie Guggeis es im Opern-Video erklärt, war Berg ein Symmetrie-Fan. An dieser Stelle befinde sich der Spiegelpunkt der Musik, die von da an im Krebsgang zurücklaufe. Der in Fragen der Kompositionstechnik ungeschulten Autor:in würde das nicht einmal auffallen, wenn sie die Partitur vorliegen hätte! Was ihr aber auffiel: die unglaubliche Ausdruckskraft dieser an Konstruktion reichen Zwölfton-Musik. Sie wurde in den 1920er Jahren von Arnold Schönberg erfunden und bedeutet (in aller Kürze gesagt): das Komponieren mit 12 aufeinander bezogenen Tönen. Als Grundlage dient eine Grundreihe mit den 12 (inklusive Halbtönen) einer Tonleiter. Erst wenn alle Töne in beliebiger Reihenfolge „verarbeitet“ wurden, darf zur nächsten Grundreihe gewechselt werden. Damit wurde die bis dahin gewohnte Tonalität über Bord geworfen und ein neues musikalisches Ordnungsprinzip erfunden, d.h. eine ganz neue ungewohnte Musik, die alles Vorangegangene hinter sich ließ. Schönberg nahm das sehr ernst. Berg hingegen, das hört man in „Lulu“ deutlich, griff im Rahmen dieser neuen Musiklehre Altbekanntes auf wie einen kleinen Kanon, einen Ragtime oder Choräle. Wer nun mit dieser Wesensart der stark konstruierten Musik weniger vertraut ist und sie zu verstehen versucht, dem sei angeraten, sich einfach in ihre sehr direkt wirkende Ausdruckskraft fallen zu lassen. Alles, was der Text Wedekinds sagt und ausdrückt, wird bis ins kleinste Detail von Bergs Musik nachvollzogen. Mal in kammermusikalisch kleiner Besetzung, dann wieder in symphonisch großer. Unter der Leitung von GMD Thomas Guggeis ist ein vor Spielfreude explodierendes Opern- und Museumsorchester zu erleben, das dem Sängerensemble mit seinen schwierigen Partien – allen voran die glänzende Brenda Rae als Lulu – den notwendigen Halt gibt, um sängerisch und schauspielerisch (viel gesprochenes Wort und Sprechgesang!) aus dem Vollen schöpfen zu können.

Nach der Pause geht es nun also im Krebsgang für Lulu auf der Karriereleiter nach unten. Mithilfe ihrer Freundin Gräfin Geschwitz (Claudia Mahnke) kann sie aus dem Gefängnis befreit werden und zusammen mit Alwa und Schigolch nach Paris fliehen. Es wird immer dunkler und schmutziger. Vor Beginn des 3. Aktes tickt das Metronom wieder. Diesen letzten Akt hatte Alban Berg nur skizzieren können, weil er vor der Ausarbeitung im Dezember 1935 starb. Erst in den 1960er Jahren übernahm der österreichische Komponist Friedrich Cerha die Instrumentierung und brachte das Werk zur Vollendung.

In der vergnügungssüchtigen Pariser Gesellschaft (es wird u.a. mit Jungfrauen-Aktien gehandelt) können Lulu und Alwa nicht Fuß fassen und werden zusätzlich erpresst. Lulu versucht in ihrer Not jeden gegen jeden auszuspielen. Sie fliehen erneut. Diesmal nach London. Dort leben sie auf einer Halde mit Konsummüll, sind selbst so schmutzig wie ihre Umgebung. Lulu gleicht inzwischen streckenweise einem Höhlenmenschen, wird Anima immer ähnlicher. Sie prostituiert sich auf der Straße. Ihre toten Ex-Männer und Liebhaber kommen nun (aus Gründen der Symmetrie!) als Kunden. Der Letzte: Jack the Ripper alias Dr. Schön, den sie so wenig überlebt, wie er sie überlebt hat. Wie wenig Chancen die Menschheit auf das ersehnte, friedvolle und liebende Miteinander hat, singt Gräfin Geschwitz in den letzten Takten: „In Ewigkeit“ (…wird es so bleiben!), bevor die Blechbläser endgültig in die Tondunkelheit der Hoffnungslosigkeit absinken.

 

 

 

Nach der Aufführung noch die Überreichung der Auszeichnungen der Kritikerumfragen der Zeitschrift „Opernwelt“. Zum 8. Mal und 4. Mal in Folge war die Frankfurter Oper zum „Opernhaus des Jahres 2024“ gewählt worden.

Simon Neal (Dr. Schön) und Brenda Rae (Lulu). Foto: Barbara Aumüller

Alban Berg 1885—1935
Lulu

Oper in drei Akten

Text vom Komponisten
nach Frank Wedekind

Uraufführung der unvollendeten Oper 1937, Stadttheater, Zürich

Dreiaktige Fassung, vervollständigt von Friedrich Cerha (1979)
 
Besetzung
 
Musikalische Leitung: Thomas Guggeis
Inszenierung: Nadja Loschky
Bühnenbild: Katharina Schlipf
Kostüme: Irina Spreckelmeyer
Licht: Jan Hartmann
Dramaturgie: Mareike Wink
 
Lulu: Brenda Rae
Anima: Evie Poaros
Dr. Schön / Jack the Ripper: Simon Neal
Alwa: AJ Glueckert
Gräfin Geschwitz: Claudia Mahnke
Maler / Freier: Theo Lebow
Tierbändiger / Athlet: Kihwan Sim
Schigolch: Alfred Reiter
Gymnasiast / Groom:  Bianca Andrew
Prinz / Kammerdiener: Michael Porter
Theaterdirektor / Diener: Božidar Smiljanić
und andere
 
Frankfurter Opern- und Museumsorchester
 
Weitere Vorstellungen: 7., 9., 15., 17., 23. Und 28. November 2024

Oper Frankfurt
 

Erstellungsdatum: 06.11.2024