Elegant, poetisch, zwiespältig und konzeptuell zugleich sind die Werke Rebecca Horns, deren international ausgezeichnetes Œuvre an die wichtigsten Kunstströmungen des 20. Jahrhunderts anschließt. Am 6. September 2024 ist die im hessischen Michelstadt geborene Künstlerin im Alter von 80 Jahren gestorben. Ihr Schwerpunkt lag auf Skulpturen und Installationen, sie schuf aber auch Filme, Gedichte und Zeichnungen. Ursula Grünenwald erinnert an ihr Schaffen.
Rebecca Horns frühe performative Arbeit „Einhorn“ nimmt 1970 Aspekte vorweg, auf die die Künstlerin in vielen späteren Werken zurückgreift: Ein märchenhaftes, unergründliches Motiv wird raumgreifend und multimedial inszeniert. Eine junge unbekleidete Frau läuft in der Performance „Einhorn“ durch einen lichtdurchfluteten Wald und ein Feld mit reifem Korn. Sie balanciert eine hoch aufgerichtete schmale Stange auf dem Kopf, die mittels einer Korsettage aus weißen Bändern an ihrem grazilen Körper befestigt ist. Bei aller Schönheit der Erscheinung teilt sich den Betrachtenden das Unbequeme und Fragile der Situation mit, die die Künstlerin in Zeichnungen sowie in einem 12-minütigen Film und Schwarz-Weiß-Fotografien festgehalten hat.
Von 1972 bis 1981 lebte Horn in New York. Die Fluxusbewegung mit ihrer Passion für alltägliche Objekte und Situationen, die ins Abgründige und Witzige kippen, wird in dieser Zeit zu einer wichtigen Bezugsgröße. Zugleich weisen Horns Figurationen, in denen Naturmaterialien und Paradoxien eine wichtige Rolle spielen, auf den Surrealismus als Inspirationsquelle hin – nicht im Sinne eines Abhängigkeitsverhältnisses, sondern einer grundlegenden Auseinandersetzung mit Sujets, die zu einem passionierten Sehen einladen. Zu ihrem Repertoire gehören Koffer, Violinen, Regenschirme, Schuhe, Bettgestelle und nicht zuletzt auch erotisch lesbare Konstellationen.
1982 stellt sie die „Pfauenmaschine“, ihr erstes kinetisches Objekt, auf der Documenta 7 aus: Ein Fächer aus glänzenden Metallstäben faltet sich wie ein Rad schlagender Pfau über einer dreieckigen Grundkonstruktion in den Raum hinein auf, um sich sogleich wieder zu schließen. Horn zeigt die Arbeit in einem kleinen klassizistischen Rundbau, der durch die Bewegung der Maschine vollständig ausgefüllt und damit in das Werk integriert wird. Ein kurzer Text der Künstlerin, der die Skulptur begleitet, zeigt ihre Faszination für das Balzverhalten der Vögel. In einem Interview erklärt sie, dass die Idee für die Pfauenmaschine während ihrer Arbeit an dem Film „Fernanda: Sonate für eine Medici-Villa“ in der Toskana entstand. Für den Film, in dem das Motiv des Balletts gegenwärtig ist, hatte sie 1981 eine ähnliche Apparatur aus weißen Pfauenfedern konstruiert.
Doris von Drathen hat die kinetischen Objekte der Künstlerin als „Analogie zur Wirklichkeit“ beschrieben. Horn ahmt Formationen des Realen nach, um Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten sichtbar zu machen. Während Maschinen in der Moderne für Kontrolle, Effizienz und Berechenbarkeit stehen, scheinen Horns Objekte ein Eigenleben zu führen. „Wenn eine Maschine nicht mehr weiterläuft“, sagt sie 1993 im Interview mit Stuart Morgan in Paris, „bedeutet das nicht, dass sie kaputt ist, sie ist nur erschöpft“. Dem technikbasierten Fortschrittsglauben der Moderne setzt die Künstlerin die Melancholie ihrer Maschinen entgegen, um die Übergänge zwischen Natur und Technik, Kontrolle und Freiheit, Leben und Tod ausloten.
Dass Horn auch vor existentiellen politischen Fragen nicht zurückschreckte, zeigen ihre Arbeiten zum Nationalsozialismus oder dem Jugoslawienkrieg. Ihre Sensitivität für die Verletzbarkeit menschlichen Daseins findet ihren Ausdruck in der Installation „Berlin Earthbond“, die zum ersten Mal 1994 in der Berliner Nationalgalerie gezeigt wird: Ein aufgeklappter abgewetzter Koffer bewegt sich an einer hohen Metallstange auf und ab. Er erinnert an einen ermatteten Schmetterling, für den es kein Entkommen gibt. An dem Innenfutter des Deckels sind die Umrisse eines eingenähten roten Davidsterns zu sehen. Den mutmaßlichen Tod der Reisenden in Buchenwald erwähnt die Künstlerin lakonisch in dem poetischen Text, den sie der Installation zur Seite stellt.
Immer wieder spielen in Horns Werk Spiegel eine zentrale Rolle, so auch in der ortsspezifischen Installation „Jupiter im Oktogon“, die seit 2007 im Eingangsbereich des Museum Wiesbaden zu sehen ist. Einander gegenüberstehende kreisende Spiegelflächen lassen die museale Umgebung zu einem schwankenden Kosmos werden. Die Spiegelbilder der Betrachtenden tauchen auf und verschwinden inmitten der goldenen Mosaikoberfläche des Jugendstilbaus wieder.
Dank einer Vereinbarung zwischen der von Horn gegründeten Moontower Foundation und dem Land Hessen erhielt das Museum Wiesbaden im März 2024 ein Konvolut von Werken aus allen Schaffensphasen. Es wird nach und nach der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Wer sofort in das Werk der Künstlerin eintauchen möchte, kann noch bis zum 13. Oktober 2024 zur Retrospektive „Rebecca Horn“ ins Münchner Haus der Kunst reisen.
zum Einhorn:
Erstellungsdatum: 16.09.2024