Der Schriftsteller, Übersetzer und Philosoph William Gass, der 2017 gestorben ist, wäre am 30. Juli 2024 hundert Jahre alt geworden. Er gehört zu den wichtigen Persönlichkeiten der US-amerikanischen Literatur, die bei uns deshalb nicht bekannt sind, weil ihre Werke nicht ausreichend übersetzt sind. Matthias Göritz hat einen großen und bemerkenswerten Essay über den Sprach-Denker geschrieben, der tief in die Kunst des Übersetzens greift und nach Übersetzung verlangt – von Büchern von William Gass.
Ein Schriftsteller und seine (oder ihre) Bücher sind tot, sobald sie nicht mehr gelesen werden - als buchstäbliche und literarische Untote warten ihre Werke vielleicht noch eine Zeit lang in den Regalen der Bibliotheken auf eine gute Seele, die sie aufhebt und wieder zum Leben erweckt, sie lesenderweise aus ihrem Totenschlaf erweckt. Wir könnte das imaginäre Dezombifizierung nennen, oder wirklich Zauberei, diese Verwandlung von totem Material in magische, entfesselte Zeichen-Golems oder das Lesen auch einfach als metaphorische Operation am offenen Herzen bezeichnen – es ist auf jeden Fall eine herrliche Verwandlung, ein Akt gelungener Alchemie. Was die Leserin, was der Leser so für das Buch ist, das sind noch vorher zuerst die Übersetzer*innen für die Schriftsteller – Göttinnen, Götter, die einem das Leben nocheinmal schenken.
Laut Walter Benjamins berühmtem Essay „Die Aufgabe des Übersetzers“ (1923) ist eine Übersetzung Teil des „Nachlebens“ eines Textes ... sie sorgt sozusagen für einen Geisterkosmos, der auch von der Rezeptions- und Interpretationsgeschichte geprägt und angereichert wird; als eigenständiger Text stellt eine Übersetzung den Wert, der dem Text im Laufe der Jahrhunderte verliehen wurde, ebenso neu her wie sie eine genaue Wiedergabe des Originals produziert; um diese Neuschöpfung zu erreichen, muss der Übersetzer die übersetzende Sprache umformen und anpassen, damit sie dem Original „entspricht“ oder ihm zumindest nicht den Holzpflock ins Herz treibt. Bei literarischen Übersetzungen geht es ja nicht nur darum, Botschaften zu übermitteln, es geht ganz eigentlich um das Kreieren einer Stimme; als „Modus“ hat die Übersetzung das Potenzial, das zu erreichen, was Benjamin „reine Sprache“ nennt, in der die „sich gegenseitig ausschließenden“ Unterschiede zwischen zwei Sprachen koexistieren können und in der die „komplementären Absichten“ dieser Sprachen kommuniziert werden können. Lawrence Venuti bezeichnete Benjamins Essay zu Recht, wenn auch kritisch, als „utopische Vision sprachlicher Harmonie“.
Doch wie kann ein Übersetzer diese „reine Sprache“ jemals erreichen? Benjamin schlägt eine „Technik“ vor, „die in der Übersetzung durch Literalismen, insbesondere in der Syntax, freigesetzt wird“, denn „Sprachen sind einander nicht fremd“, sondern ähneln sich a priori. Wenn es eine ‚Verwandtschaft der Sprachen‘ gibt, müssen Form und Bedeutung des Originals in einer Übersetzung ‚so genau wie möglich‘ wiedergegeben werden. Diese Idee der Genauigkeit bedeutet jedoch nicht, dass die Übersetzung eine perfekte Kopie des Originals sein muss (was sie ja nicht sein kann!), aber, wie Benjamin erklärt, die „Fragmente eines Gefäßes, die zusammengeklebt werden sollen, sollten in den kleinsten Details übereinstimmen, obwohl sie einander nicht gleichen müssen.“
Dieses utopische, fragmentierte, geklebte, geleimte, gekalkte und etwas kaleidoskopisch anmutende Schiff, das aufs Meer einer neuen Sprache hinausfährt und an einem dritten, fremden Ufer landet, ist eine faszinierende Sache. Fragen Sie sich als Leser: Marquez, Vargas Llosa, Cortazar, Musil, Rilke, Bernhard, Thomas Mann, Valery, Mallarmé oder Bachelard und Tanzizaki - würden wir sie nicht vermissen? Diese Welten aus Worten, aus Erfahrungen und Ideen? Nach William Gass schafft jedes Buch (das heißt, jedes gute Buch) eine eigene Welt: „Du machst ein Kind, du hast ein Kind. Man schickt es in die Welt hinaus, es baut die Erfahrungen anderer Menschen auf. Und diese Welt erschafft man nicht als Schriftsteller, weil man von etwas handelt. Aber man ist etwas“ (aus einem der letzten Interviews von William Gass, die ich 2016 kurz vor seinem Tod noch mit ihm führte). Wenn Gass die altehrwürdige (vielleicht ein wenig patriarchalische) Metapher vom Buch als eigenem Kind heraufbeschwört, libri sunt liberi, also fast als ein lebendes Ding beschreibt, dann überführt Gass - wie wir sehen werden, wenn er über Rilke spricht - den paradoxen Status des Buches als lebendes Ding später noch weiter in die Metapher vom Buch als lebendigem Raum, sieht den Text als ein belebtes Haus. Ihm zufolge ist ein Buch oder ein Gedicht im Grunde vor allem Bewusstsein. Was sollte ein Übersetzer dann tun? Baupläne studieren? Neuronale Netze? Gass beschrieb die Paradoxien, mit denen ein Übersetzer konfrontiert ist, in einem anderen Interview wie folgt:
„Den Geist einfangen, wie Nabokov, der Schmetterlinge zu fangen pflegte. Fange einen Satz, fange ihn in einem Netz, in einer Schale. Das Problem ist, wenn man ihn hat, ist er tot. Ich will der Metapher nicht ganz folgen, sie trägt einen nicht überall hin.“ Eine Sackgasse? Nein. Lediglich ein weiteres Paradoxon.
Im selben Interview bemerkte Gass über die vielen Übersetzungen von Rilke, die er in seinem fabelhaften Essay Reading Rilke verglich, kommentierte und „transread“, um sie zu amalgamieren, zu re-mixen, auf seine Art zu „übersetzen“: „Einige der Gedichte sind nicht mehr ganz dieselben Gedichte, die von mehreren Leuten übersetzt wurden, sie können in gewisser Weise alle ganz unterschiedlich sein und trotzdem erfolgreich. Deshalb lege ich den Schmetterling in das Tötungsgefäß. Es reicht nicht aus, den Geist oder die Idee des Gedichts zu erhalten, sondern auch ihre Idee als Übersetzung. Du machst als Übersetzer all diese Dinge, damit du in gewisser Weise verschwindest, aber deine Hand ist da." So wird das Übersetzen zu einer sehr komplexen und sehr persönlichen Aufgabe, bei der der Geist des Autors auf den Geist des Übersetzers trifft, der sowohl Leser des Gedichts als auch Autor der Übersetzung ist. Ein Text, im Falle eines Gedichts sind das die „Zeilen (...), die mich vor allem in ein Erleben schicken (RR, S.47)“, muss zweimal entstehen, im Originaltext durch den Autor und die Leser, in der Übersetzung durch die Autor*in und die Übersetzer*in. Der Unterschied zwischen den beiden Prozessen besteht darin, dass der Übersetzer den Text bewusst neu erschafft, während der Verfasser des Originaltextes ihn mit einem gewissen theoretischen Vergessen erschafft. Gass' Rat für die Übersetzer seiner eigenen Werke, zum Beispiel für diejenigen, die seinen berühmten Essay „On being blue“ (Über das Blau-Sein? Über das Traurig sein? Übers-Blau/Über-Bau? Versaut, verblaut, verhaut? Einfach mal Blaumachen?) übersetzen wollen, lautet: „Man muss ein gewisses Maß an Abstraktion erreichen.“
Für Gass ist der übersetzte Text eine Mischung oder vielmehr ein Dialog von Gedanken, Erfahrungen, Modi und Gesten des Autors und des Übersetzers, aus dem etwas Neues entsteht. Diese Idee der Übersetzung ist tief in seine eigene Vorstellung von Sprache eingebettet, wie sie in vielen seiner Essays zum Ausdruck kommt. So schreibt er zum Beispiel in Finding a Form: „Ich glaube, dass die Sprache, anders als jedes andere Medium, das eigentliche Instrument und Organ des Geistes ist. Sie ist nicht die Repräsentation des Gedankens, wie Platon glaubte, und daher eine unzureichende Kopie; sondern sie ist der Gedanke selbst (...) Die Literatur besteht größtenteils aus dem Verstand, und wenn man das nicht versteht, versteht man auch wenig von ihr. Ein Satz, jeder Satz, ist folglich ein Gedankengang."
Die Übersetzer*in muss einen Weg finden, diesen Gedankengang wieder zu erschaffen; Übersetzen ist fast ein architektonisches Unterfangen. Es ist eine Auseinandersetzung mit der Sprache, ein Versuch, Worte und Sätze für die Gedankenbewegungen der Figuren zu finden, um Bilder wie das berühmte homerische „weindunkle Meer“ zu schaffen, Bilder, die das Fremde in das Vertraute verwandeln. Oder bei Rilke lässt einen die Übersetzung, „Tanz die Orange“, den umgekehrten Weg gehen und das Vertraute in ein Fremdes verwandeln.
Übersetzung wird in diesem Sinne zur Metapher schlechthin; kein Wunder, dass man heute auf den Straßen von Athen fahrende Lastwagen antrifft, auf deren Seiten genau dieses eine Wort steht: „metaphorein“, woanders hintragen, transportieren. Übersetzung, die Herstellung von Bildern und Metaphern, ist die Bewegung von einem semiotischen Kontext in einen anderen. Gass führte diese Übung nicht nur als Übersetzer/ als „Transreader“ von Rilke-Gedichten vor, sondern zeichnete tatsächliche Grundrisse von Sätzen aus großen Büchern als Raumpläne, verfolgte die Bewegungen von Bildern und Gedanken in einem Text und brachte so den Raum, den Sätze aufspannen, ins Blickfeld.
Der französische Philosoph Gaston Bachelard erforscht in seinem Buch Poetik des Raumes den Zusammenhang zwischen Sprache und Raum und führt seine Leser analytisch, oft in lyrischem Ton, durch die Orte, an denen man lebt und die Orte, die man durchquert, und schärft so unseren Sinn für unsere Umgebung und für die Sprache selbst. Was Gass von Bachelard übernimmt, ist die potenzielle Erweiterung des Bewusstseins durch Metaphern; Metaphern zeigen einem, wenn man genau hinschaut, wie „die Verwandlung von Materie in Geist funktioniert“. (RR, S. 144) Das Lesen und das „Transreading“, das Übersetzen im Gass'schen Sinne, tut dasselbe; es transformiert. Unsere Erfahrung von Raum und unsere Erfahrung von Sprache sind eng miteinander verbunden. „Geh auf den Dachboden“ und „geh in den Keller“ - die Orte, an denen Stephen King immer ein paar Leichen findet, um sie auszugraben und in Romane zu verwandeln, und wo Gass' Nazi-Historiker William Kohler in seinem Gross-Roman Der Tunnel ebendiesen aus seinem eigenen Keller gräbt.
Gass nutzt das metaphorische Potenzial des Namens, indem er die Figur Kohler in einen „Bergmann“ verwandelt, der nicht nach einem heart of gold, einem Herzen aus Gold sucht – für die Neil-Young-Fans unter uns -, sondern in einen Bergmann, der in der düsteren Vergangenheit und im „Faschismus des Herzens“ nach Erkenntnis bohrt. Aber diese Vorstellung könnte auch eine sehr deutsche Lesart sein, die auf der Assoziation des Namens „Kohler“ mit dem deutschen Wort für „Kohle“ beruht. Wenn amerikanische Leser stattdessen an Klempnerarbeiten und Badezimmerarmaturen denken, Kohl und Kohler sind entsprechende Firmennamen und Warenhausketten, dann funktioniert das genauso gut.
Wenn Bachelard der Dichter unter den modernen Philosophen ist, dann ist William Gass der Dichter unter den so genannten „Midfictionalists“ der amerikanischen Literatur, Gaddis, Barth, Elkin und Barthelme - und Gass‘ Idee, dass ein fiktionales Werk ein Haus ist, hat Wurzeln, die über Rainer Maria Rilke bis zu Henry James und zu Gass' Neuinterpretation dieser Metapher zurückreichen. Rilkes 1910 veröffentlichte Notizbücher von Malte Laurids Brigge entführen den Leser in eine flimmernde Phantasmagorie, eine Abfolge von realen und surrealen Szenen, ein Reservoir von Bildern, die er später in seinen Gedichten verwenden wird. Laut dem Kritiker Michael Silverblatt meint Gass, „dass man, wenn man Rilkes Roman liest, ein Spukhaus liest. Man liest eine Versammlung von Geistern. Ich behaupte, dass genau diese Geister für das Haus der Fiktion notwendig sind, wie es von James imaginiert und von Gass über Rilke neu vorgestellt wird."
Gespenster spuken ja gern in Romanen herum, und Rilkes Malte glaubt mehrmals, ihnen begegnet zu sein. Diese Gespenster stehen für Maltes eigenes Gefühl der Entfremdung in Paris, einer Stadt, die er hasst. Aber sie bringen den Leser auch dazu, sich die Zeit als nichtlinear vorzustellen: Gespenster ermöglichen es, dass verschiedene Zeitebenen gleichzeitig in einem Raum existieren, wie in den Häusern der Schauerromane und gothic novels - oder wie in Bibliotheken, wo die Untoten ja bekanntlich in Büchern umherstreifen.
In Reading Rilke legt Gass seine Vorstellung dar, dass Kunst, insbesondere Literatur, eine Art geformtes Bewusstsein beherbergt: „Rilke behauptet, dass das Kunstwerk mehr Sein hat. Und es hat mehr Sein, weil das höchste Bewusstsein der Menschen in der Art und Weise, wie es geformt wurde, in es hineingelegt wurde. In dem berühmten Gedicht Archaischer Torso des Apollo spricht der Torso, obwohl er zerbrochen ist, er hat keinen Kopf, keine Genitalien, keine Beine, keine Arme. Dennoch sagt er dem Betrachter: „Ich bin realer als du. Du musst dein Leben ändern.'“ (Interview mit MG)
Poesie entsteht, wenn die Bewegungen der Sprache selbst uns eine neue Art des Sehens oder Verstehens von etwas eröffnen, das wir vorher nicht gesehen oder gewusst haben. Man könnte Bachelard als den Autor des klassischen Werks der architektonischen Phänomenologie und Gass als den Architekten der Sätze bezeichnen und mit beiden argumentieren, dass die Übersetzung der Modi, von Bewegungung, dem deiktischen Element der Metapher und des Rhythmus von einer Sprache in eine andere bedeutet, aktiv das Herz der Phänomenologie des Denkens zu ergründen.
William Gass' Metapher des Hauses als treffende Beschreibung dessen, was ein Text sein sollte, wurde von seinem Schriftstellerkollegen John Gardener in seinem Buch Moral Fiction angegriffen. Gardner lobt den Plot – ein Plot gibt dem Leser einen sofort erkennbaren Weg durch einen Text. Er bietet dem Leser, wie Gardner argumentiert, „das Gefühl von Profluenz, von Vorwärtsfließen“, das zu einer sanften Erkundung einer „gegebenen fiktionalen Situation“ führt - Gardener nennt die Beziehung zwischen Leser und Autor einen „Akt des Glaubens“, eine „Liebesbeziehung zum Leser“ – wer jedoch einen der Romane oder Novellen von William Gass liest, wird eine ganz andere Erfahrung machen. Gass ist einfach nicht so sehr an einer Handlung interessiert, seine Art zu schreiben ist nicht linear, er dreht sich innerhalb der Geschichte und versucht, die sich immer weiter windenden Pfade der Erinnerungen seiner Figuren zu verfolgen. Gardner wiederum lehnt die Nützlichkeit der Haus-Metapher für ein belletristisches Werk völlig ab: „Wenn man als Schriftsteller beschließt, dass der Roman nur ein Haus ist, durch das man jemanden auf verschiedene Weise zu führen versucht, hat man das Vertrauen des Lesers gebrochen, denn man ist jetzt ein Manipulator und zeigt kein Einfühlungsvermögen mehr. Wenn der Autor seinem Plot, also den Figuren und der Handlung, folgt, wenn er ehrlich und kontinuierlich von hier nach dort geht, weil er eine bestimmte Frage verstehen will, wird der Leser mit ihm gehen, weil er die gleichen Antworten wissen will. Wenn der Autor den Leser dagegen zwingt, etwas zu tun, dann denke ich, dass er den Leser in eine unterwürfige Position bringt, die mir nicht gefällt.“
Gass hat seine Hausmetapher jedoch nie als Gefängnis oder das Buch als Ort der Versklavung des Lesers verstanden – im Gegenteil. In Der Tunnel muss der Leser akzeptieren, dass er in den Kopf eines Monsters eintritt, dass er in die beängstigende Rhetorik von Kohler hineingelockt wird; der Leser muss Kohlers Wut und dessen Vorstellungen akzeptieren und bis zum Ende aushalten, bis sie oder er die Bösartigkeit unter der Oberfläche scheinbar einfacher Ideen erkennt; der Leser wird dadurch auf einer ganz anderen Ebene beschäftigt, er mag die Prosa bewundern und von der Schönheit der Rhetorik überwältigt sein, aber dann muss er sich von dem, was gesagt wird, distanzieren, die rationale Seite muss die Oberhand gewinnen und wird mit der sinnlichen Seite kollidieren, die Lektüre von Gass Büchern ist eine anspruchsvolle Erfahrung, man wächst als Leser, indem man sich fragt, wie dieses Sprachkunstwerk gemacht wird, nicht so sehr worum es eigentlich geht. Der Gass-Forscher Watson L. Holloway schlägt vor, dass die Anstößigkeit, der man in Gass' Werk begegnet, als sokratische Methode funktioniert. Gass liebt den Leser nicht im Gardner'schen Sinne, Gass baut den Lesern keine einfach nachzuvollziehende Welt auf, er lockt sie vielmehr in Bauwerke, in denen sie mit ambivalenten Gefühlen und einer höchst manipulativen Sprache konfrontiert werden.
Diese Vorstellung von Literatur als sokratischem Dialog verweist auf Gass' Auffassung von Sprachphilosophie, die sein kritisches und kreatives Werk prägt. Holloway beschreibt sie treffend als wittgensteinisch: „Wie Wittgenstein besteht Gass darauf, dass die Strukturen der Sprache und damit auch der Fiktion keine eindeutige Beziehung zu den Bezügen haben, sondern als eigenständige Entitäten existieren, als Ergänzungen und nicht als Spiegelungen des Bereichs der Materie.“ (p. 9). Auf diese Weise zu schreiben bedeutet, ein Objekt oder sogar ein Haus zu schaffen, in dem der Leser bequem (oder ungemütlich) leben kann. Ein Buch ist ein Gebilde, das ein Eigenleben hat; es ist eine Welt innerhalb einer Welt, die von Sprache und fiktionalen Formen geprägt ist. Die Literatur organisiert die Beziehungen des Menschen zur Welt - in einer mehr oder weniger kohärenten Weise. Oder, wie Gass es formuliert, ein Buch erlaubt es, „sicher in der Hölle zu navigieren“.
„Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“, schrieb Wittgenstein. Diese Aussage wurde zu einem der rätselhaftesten Sätze der modernen Philosophie.
Für Schriftsteller hat diese höchst brisante metaphysische Aussage jedoch eine sehr konkrete Bedeutung: Die Grenzen eines literarischen Werks, ob groß oder profan, werden durch seine Sprache und damit seine Zugänglichkeit für die Leser bestimmt - lassen wir den Markt einmal beiseite.
In einem der Schlüsselkapitel von Reading Rilke, in dem er das Konzept des transreading aufgreift, schreibt Gass: „In einer Übersetzung liest man eine Sprache und dazu den bestimmten Benutzer dieser Sprache einer anderen“. Man beachte, dass Gass sich den Leseprozess in beide Richtungen vorstellt und dass er für ihn sehr persönlich ist. Tatsächlich bringt diese Aussage einen von Gass' Lieblingsideen wieder ins Spiel, nämlich dass literarische Texte voll von Bewusstsein sind, einem Bewusstsein, das der Autor geschaffen hat. Gass betrachtet einen Text als eine lebendige Einheit, die ganz aus Sprache besteht, wie ein voll funktionsfähiges neuronales System, ein Gehirn aus Wörtern und Sätzen, das bereit ist, sich mit dem Bewusstsein des Lesers zu verbinden, indem es Bilder erzeugt.
Wie lautet nun das berühmte Beispiel aus Rilkes Die Notizbücher des Malte Laurids Brigge? Eine Frau wäscht ihr trauriges, tränenüberströmtes Gesicht in einer Schüssel – und das Gesicht bleibt in der Schüssel, ein belebtes Objekt. Das ist Gass‘ Beispiel für die Erschaffung eines lebendigen Bildes, das den Leser dazu bringen könnte, anders zu sehen.
„Tanz die Orange“: Rhythmus und Musik, mit anderen Worten: Die Form sollte wichtiger sein als der Inhalt. Inhalte sind - bis zu einem gewissen Grad - langweilig und repetitiv. Plotstrukturen bloß endlich. Gass sucht die Gesten der Sprache auf, spürt ihrer Fluidität nach, sucht sie in den Äquivalenzen, die man als Übersetzer finden muss. In Reading Rilke liefert Gass ein überzeugendes Argument dafür, die Übersetzung als eine Kunstform sui generis zu betrachten ist.
Beim Übersetzen geht es ja gleichzeitig um Identität und Veränderung - sei der Text nun ein metaphorisches Gefäß (Benjamin) oder ein Haus (Gass). Ein berühmtes Gedankenexperiment kommt mir in den Sinn: Plutarch erzählt uns, dass das Schiff des mythischen Helden Theseus zur Zeit des Demetrius Phalereus, ca. 350-280 v. Chr., ausgestellt wurde. Im Laufe der Jahre ersetzten die Athener jede Planke des Originalschiffs des Theseus, wenn sie zerfiel, und hielten es so in gutem Zustand. Schließlich war von dem ursprünglichen Schiff keine einzige Planke mehr übrig. Wir stehen also vor dem Theseus-Paradoxon. Hatten die Athener noch ein und dasselbe Schiff, das einst Theseus gehörte? Mit anderen Worten: Was macht das Schiff des Theseus zum Schiff des Theseus? Was ist das Wesen dieses Schiffes? Was macht Gass' Buch On being blue in der Übersetzung zu Gass' Buch Über das Blau-Sein in der Übersetzung, wenn man Wörter, Bilder, Umgangssprachliches verändern muss? Für Aristoteles bestand die Antwort auf dieses Identitätsproblem in der Unterscheidung zwischen der formalen Ursache oder „Form“ (Musik, Sätze), die das Design einer Sache darstellt, und der materiellen Ursache, der Materie, aus der die Sache besteht (Worte, Bilder). Eine weitere Ursache bei Aristoteles ist der „Zweck“ oder die „ letzte Ursache“, die die Bestimmung einer Sache ist, das, was sie so existieren lässt, wie sie ist: ihre Seele.
Wenn der Satz eine Seele hat und die Struktur des Buches der Musik oder der Architektur ähnelt, wenn der Text ein hausähnliches Wesen hat, dann muss der Übersetzer dieses textliche Haus in einen lebendigen Entwurf umbauen. Der ultimative Test für einen Text (also das Haus aus Sätzen) ist, wie beim Schiff, ob es segeln kann.
Um es mit einem der Gründungsväter der modernen Architektur, dem Wiener Architekten und Theoretiker Adolf Loos, zu sagen: „Das Schöne hat keinen anderen Zweck als schön zu sein.“ „Das Schöne lebt nicht nach Regeln, sondern aus einem immanenten Gesetz.“
Bei jedem menschengemachten Kunstwerk, so Loos, gehe es um Harmonie, um das Wesen des Einheitlichen, des Zusammenhangs in und mit sich selbst.
Loos spricht vom Kreisen um einen „mystischen Mittelpunkt“, und er betont, dass Stil nichts anderes sei, als die ästhetische Gemäßheit. Es geht um die Abwehr des Mehr, des Zuviel, der Willkür und des Ornaments, des „Verschönern Wollens“. Was schön ist, ist zweckmäßig, muss so sein und nicht anders, eine eigene inhärente Notwendigkeit erreichen, so dass ein Haus ein Haus, eine Symphonie eine Symphonie und ein Satz einen Satz ergibt. Ein Satz, den man lesen kann und der einen verändert. Eine Symphonie, die man hört und die einen bewegt. Ein Haus, in dem man nicht nur wohnen kann, sondern lebt.
Alle deutschen Übersetzungen von Gass' Werken sind exzellent, im Falle von The Tunnel (ca. siebenhundert Seiten im Englischen, mehr als tausend im Deutschen), das 2011, mehr als 16 Jahre nach der englischen Originalveröffentlichung des Buches, erschien, könnte man diese Übersetzung sogar als brillant bezeichnen. In den Rezensionen wurden sowohl das Original als auch die Übersetzung als „Meisterwerk“ gepriesen, ein „literarischer Sog“, der in seiner Kraft mit Faulkner oder Joyce vergleichbar sei, entfalte sich dort. Die Musikalität von Gass' Prosa und in seiner Spezialität, dem Limerick, wird in der Übersetzung perfekt wiedergegeben. Erlauben Sie mir, hier ein Beispiel aus The Tunnel zu zitieren, wo eine Nebenfigur versucht, eine „Geschichte der Welt“ in limericks zu schreiben, die dem ganzen Roman eine eigenwillige musikalisch ironische Struktur verleiht:
I once went to bed with a nun ... In der Übersetzung von Nikolaus Stingl:
Ich ging mal zu Bett mit ner Nonne,
die war keine keusche Madonne.
Sie war zierlich und schmal,
ich war dick wie ein Wal,
trotzdem war's für uns beide ne Wonne.
Wie gut Stingl Rhythmus und Reim im Limerick-Stil tanzen lässt, ist fantastisch. Seine Version ist genauso lustig und unzüchtig wie das Original von Gass. Leider muss ich Ihnen trotz all des Lobes für die deutschen Übersetzer sagen, dass Gass' Bücher, obwohl sie in Deutschland von der Kritik gelobt wurden, sich nicht gut verkauften - inzwischen sind alle Erzählungen und Novellen vergriffen; das Gleiche gilt für die eine Ausgabe ausgewählter Essays auf Deutsch, die von Susan Bernofsky und Heide Ziegler herausgegeben wurde, die Gass bei seinen Rilke-Übersetzungen geholfen hat.
Nur die Romane Der Tunnel und Mittel C, sind zurzeit noch in deutschen Ausgaben erhältlich. Der letztere unter dem Titel Mittellage, auch wieder in einer Übersetzung von Stingl. Die Hauptfigur, treffend und ironisch Joseph Skizzen genannt, leidet nicht nur an einem Kindheitstrauma, sondern auch an seinem abwesenden Vater, der sie während der Nazi-Okkupation unter einer falschen jüdischen Identität aus Österreich fliehen ließ und Joseph und die orientierungslose Familie dann in London zurückließ, um nach Amerika zu gehen; die Familie folgt ihm, und der Junge wird mit seiner Schwester allein von der Mutter in einer auch Gass geprägt habenden Landschaft aufgezogen: dem schrecklich gemütlichen, kalten und oft erstickend freundlichen Mittleren Westen mit all seinen Wetterkalamitäten; Skizzen (die Skizze!) wächst zum Dilettanten am Klavier heran und entpuppt sich als selbstgefälliger Spezialist für Schönberg und seine Zwölftonmusik; er mogelt sich auf der akademischen Leiter immer weiter nach oben und baut auf dem Dachboden seines Hauses ein „Museum der Unmenschlichkeit“ auf, in dem er einen Satz immer wieder aus- und umstellt, ihm architektonisch in seinen Grundrissen nachspürt und Varianten liefert: „Die Angst, dass die Menschheit nicht überleben könnte, ist durch die Angst ersetzt worden, dass sie überleben wird.“
Der Tunnel und Mittellage sind beides Explorationen in die Grausamkeit und die Misogynie des Amerikanischen Traums. Wer Donald Trump und seine Anhänger verstehen will, muss Gass lesen!
Schade aber um all die anderen Gass Bücher, wir bräuchten sie in deutscher Übersetzung! Da kann man schon mal den Blues kriegen, oder man macht aus dem Schade den Anwurf Schande. Alle Buchhändler, Verleger und Leser, alle Kritiker, Übersetzer und Liebhaber guter Literatur müssten sich jetzt berufen fühlen, das zu ändern und Gass Bücher in Übertragung fordern und fördern.
Am meisten bedauere ich, dass ich Gass noch nicht selbst übersetzt habe, und dass sein schönster Essay, On being blue, a philosophical Inquiry, wahrscheinlich nicht vollständig übersetzbar ist. Ich meine, wie soll man das Folgende übersetzen:
„Blaue Bleistifte, blaue Nasen, blaue Filme, Gesetze, blaue Beine und Strümpfe, die Sprache der Vögel, Bienen und Blumen, wie sie von Hafenarbeitern gesungen wird, dieses bleiartige Aussehen der Haut, wenn sie von Kälte, Prellungen, Krankheit oder Angst betroffen ist“ (S. 3)
Blue Mondays, Blue Peter, die Flagge, die zunehmende Abwesenheit des Himmels, Blau, die Farbe von allem, was leer ist: „blaue Flaschen, Bankkonten und Komplimente“ (...) Blaue Haltungen, blaue Einstellungen, blaue Gedanken oder Männer oder Socken..." Das Wort Blau, selbst wie es von Walisern oder Schotten ausgesprochen wird, kann eine ganz andere Bedeutung annehmen.
Diese dionysische Orgie, diese Unmöglichkeit, die Beschreibung dessen, was blau sein kann, einschließlich der Sprache, wiederzugeben - die spezifische und letztlich sexuelle Stimmung, die die Farbe Blau im Englischen bedeutet - gibt dem angehenden Übersetzer dieses Textes nur den Blues...
Verstehen Sie mich nicht falsch: Die Deutschen leben zwar im „Land der Blauen“, wie Gass in der Widmung eine eigene Metapher prägt, aber wir haben weder das Blau als politische Farbe der Demokraten noch den Blues. Blau-Sprachlich ist Deutschland ein ganz anderes Land als Amerika - wir haben in der Tat viele Ausdrücke mit Blau, Gass erwähnt das berühmte Symbol für die Romantik, „die blaue Blume“ oder „ins Blaue hinein“, also ohne konkretes Ziel; und man kann ins Blaue hinein reden, im Gegensatz zu den Amerikanern, die Dinge „aus heiterem Himmel“ sagen oder einfach nur träumen oder verschwinden; „blau machen“ heißt auf Deutsch „die Arbeit schwänzen“; wir kennen auch die „blaue Dämmerung“, das „blaue Wunder“ (in Dresden) oder das blaue Auge in dem Satz: „du kannst dein blaues Wunder erleben“ (im Grunde ja Kindesangst einer älteren Generation: da kommt die Mutter mit dem Nudelholz). Aber wenn man versucht, all diese bunten Ausdrücke zu übersetzen, geht oft doch der Kontext verloren oder man muss ihn komplett verändern. Oder man verzichtet ganz auf die Farbe; die reichhaltigen Metaphern alltäglicher Ausdrücke mit „blue“ auf englisch. Die poetische Seite der Sprache entzieht sich dem Farbsystem, sobald sie übersetzt wird.
Im Deutschen gibt es keine schäbigen blauen Filme, nur Pornofilme.
Keine blauen Stimmungen - nur Depression oder die gute alte deutsche Melancholie (und die ist Lateinisch).
Keine blauen Hotels - nur Bruchbuden.
Immerhin gibt es die blaue Stunde. Um eine alte Geschichte einfach abzukürzen: Man gewinnt und verliert – schon bei der Übersetzung des Titels On being blue: Übers blau sein – wenn man den Titel wortwörtlich ins Deutsche übersetzt, ist das einzige Bild, das einem in den Sinn kommt, das eines mehr oder weniger fröhlich betrunkenen Menschen, der seinen „Weltschmerz“ als „Blaue Donau“, also als Schunkelwalzer oder, vielleicht poppiger, als den New Order Song „Blue Monday“ über den blaugrauen Asphalt irgendeiner mittelgroßen deutschen, schweizerischen oder österreichischen Stadt schreibt, schreit oder schreitet...
Seit etwa fünfzehn Jahren kursiert in der der deutschen Literaturszene ein Gerücht: Jemand übersetze On being blue ins Deutsche – hier ein Appell an diesen Jemand - ich werde dich lesen, ich werde dich loben, ich werde dich lieben – wenn du das schaffst. Die Aufgabe des Übersetzers ist es ja, ein Werk in einer anderen Sprache neu zu erschaffen, in einen Dialog mit verschiedenen Schaffensweisen zu treten und so auch die deutsche Sprache ein wenig zu verändern und neue Perspektiven auf die Dinge zu schaffen. Also, bitte, gebt uns On being blue, gebt diesem Buch ein Weiter-Leben nach dem Tod auf Deutsch! Ein wirkliches Leben!
Wäre das nicht ein schönes, ein im Wortsinne nachträgliches Geburtstaggeschenk an den verstorbenen William Gass, der am 31. Juli 2024 hundert Jahre alt geworden wäre?
Es gäbe aber auch noch eine andere Chance für On being blue, den Essay, in deutscher Sprache: man könnte eine Transposition versuchen, eine Variation. Wie wäre es z.B., wenn jemand ein Buch über das Grünsein schreiben würde? Übers grün sein? Die typisch deutsche Begierde nach ökologisch erzeugten Lebensmitteln; unsere Besessenheit mit Recycling; die grüne Partei; dem grünen Denken für das Überleben des Ökosystems; der grüne Punkt kommt einem in den Sinn, als Zeichen auf Flaschen, Schachteln und Konserven, das „ökologisch neutrale“ Behälter kennzeichnet; der grüne Mann müsste dann aus dem Spanischen importiert werden, wo ein hombre verde ein schmutziger alter Mann ist. Zahlreiche deutsche Kinderlieder wie „Grün, grün, grün sind alle meine Kleider“, kommen einem in den Sinn. Natürlich besteht auch die Möglichkeit, dass der Übersetzer oder Autor „grün hinter den Ohren“ ist, ein Greenhorn, ein bisschen unerfahren, der reine Tor. Ihr oder ihm fiele sicher etwas Neues ein! Warum nicht?
Könnte funktionieren. Ja, vielleicht ... irgendein Übersetzer oder Schriftsteller möge das doch versuchen. Man könnte den Geist von Gass kanalisieren, die Methode des Aufzählens, des Sondierens, der rhythmischen Anspielungen - der Text über das Grünsein würde nur leider fast den ganzen Sex-Appeal verlieren! Mir fallen, zumindest jetzt beim Schreiben, keine direkt sexuell aufgeladenen Ausdrücke mit Grün im Deutschen ein (das ist aber sicher gerade nicht das Problem der deutschen Grünen als Partei) - und keinen Ausdruck, den ich mir auf Anhieb ausdenken könnte, der als Äquivalent zu den „Blue Movies“ passt. „Ein grüner Film legte sich über die Schwimmbrille“, da denkt man an Algen. „Grün ist die Farbe der Hoffnung“ vielleicht, oder man findet Inspiration in einer wunderbaren Zeile der deutschen Dichterin Silke Scheuermann aus ihrem legendären Gedichtband „Skizze vom Gras“: „Das Gras weiß, dass Grün die Farbe des Schmerzes ist.“ / „Das Gras weiß, dass Grün die Farbe des Schmerzes ist.“
Lassen wir es so, wie es ist – On being blue wird den Übersetzern noch lange Zeit den Blues bescheren, und vielleicht neue Ideen und Herausforderungen – so wie es auch den Leserinnen und Lesern jetzt schon Vergnügen und Wortspiele beschert – und ich hoffe, nicht nur dieser Text wird uns Anlass geben, das ganze Werk von William Gass noch einmal neu zu lesen und zu erleben.
Erstellungsdatum: 30.07.2024