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Peter Kerns „Dorfansicht mit Nazis“

Onkel Paul in HJ-Uniform

Johannes Winter


Grab des Gauleiters Bürckel, Foto: Kumbala, wikipedia

Erst glaubte man an das Tausendjährige Reich, dann an den Verrat und den Zusammenbruch. Dann hatte niemand etwas gemerkt, und keiner wollte es gewesen sein. Aber es gibt Bibliotheken, Archive, Berichte von Zeugen und Überlebenden, Kirchenbücher und Chroniken, aus denen das Ausmaß der aktiven Bevölkerungs-Beteiligung am Krieg und den Verbrechen des NS-Regimes hervorgeht. Peter Kern hat die entsprechenden Informationen für sein Buch über das Dorf seiner Herkunft zusammengetragen, und Johannes Winter hat es gelesen.

Der Fundus, aus dem Peter Kern schöpft, ist das Dorf in der Pfalz, in dem er aufwuchs. Ein ganzer Ort, aus dem sich sein Zurückblicken bedient, wenn er im Familienschatz gräbt. Sein Ziel: zu ergründen, was war. Herausgekommen sind 70 Episoden, kurz und griffig, wie mit einem Zettelkasten gedüngt. Entlang seiner Vita, aufgeschrieben aus der Sicht des Mannes mit Blick auf das Kind, auf den Jungen – so bezeichnet sich Peter Kern, wenn er von seiner Welt erzählt, wo das Leben zwischen Fachwerk, Stall und Scheune seinen Gang ging, deren Winkel und Räume er ausleuchtet. Die bunten Titel der Kurz-Kapitel sind unterhaltsame Wegweiser. Sie verführen zum Schmökern, an einem Gedächtnis zu naschen, das sich an der Generation der Nachkriegskinder zugehörig fühlt.

In „Dorfansicht“ wird eine ganze Bevölkerung aufgesucht und, in teilnehmender Beobachtung, mit viel Liebe zum Detail vorgestellt: vorneweg die eigene Familie mit Sonntagsbraten (Zutat: „der in Butter geschwenkte Rosenkohl“) und Oma-Beerdigung, der Vater, Schuster im Krieg mit Spezialgebiet Landser-Stiefel, mit seinen Zigarren, „Weiße Raben“ etikettiert, und mit seinem Lieblingswein, laut Aufschrift ein „Forster Ungeheuer“. Haus für Haus wird besichtigt: da ist eine Familie mit Leidenschaft für Schlangen, der Schulbusfahrer, der Spengler, der Kohlenhändler, der Sargmacher, der Autoschlosser alias Fußball-Torwart. Nicht zu vergessen das Wirtshaus namens „Witwe Bolde“ und das Eis-Café. In summa des Autors Material-Lieferanten. 

Seine Sympathie für das Personal erfordert einiges Wohlwollen, wenn spürbar wird, daß sie auf Distanz verzichtet. Was den Eindruck hervorruft, dem Autor sei vor Begeisterung auch ein Anflug von Hintersinn oder Ironie verloren gegangen. Eine Erzählhaltung, die sich vielmehr in unbedingter Anhänglichkeit zur Heimat gefällt, die sich wohlfühlt, das Kleinteilige vor wie hinter dem Gartenzaun sichtbar zu machen. Wo der Hackklotz, dunkel von geronnenem Blut, für das nächste Huhn bereitsteht, das, um seinen Kopf gekürzt, dem Festschmaus zugutekommt.         

Peter Kerns „Dorfansicht“ rekonstruiert einen Alltag der fünfziger Jahre, als das Dorf seine Bewohner noch mit vielfältigem Handwerk versorgte, während kaum ein Auto vor der Türe stand. Einen Alltag, der geprägt war von Gewohn- wie Gewissheiten, gebunden vom Kitt des Glaubens, von Geist und Praxis der Religion, hier der katholischen, manifestiert in der Kirche, dem höchsten Gebäude mit Glocken im Turm, um die Stunde zu schlagen, die Residenz des Pfarrers, neben dem Bürgermeister die unbedingte Respektsperson.

Dem Gottesmann war auch der Knabe Peter zu Diensten, als Messdiener, beim sonntäglichen Hochamt, um anschließend gläubigen Abonnenten das Kirchenblatt mit Namen „Stadt Gottes“ in den Briefkasten zu stecken.

Zuhause habe es Dinge gegeben, die an den Krieg erinnerten, erzählt Peter Kern, Reliquien wie die Gasmaske und der Stahlhelm, abgelegt und aufbewahrt im Kellerregal. Im Wohnzimmer das Foto von Onkel Paul in HJ-Uniform – vertrautes Requisit, das nicht verhinderte, den Horizont in den Blick zu nehmen. Auch die Welt dahinter weckte Kerns Neugier. Was geschah während der Nazijahre jenseits der Grenze, in den Vogesen, wo, wie es hieß, ein KZ stehen solle? Ihm widmet Kern das Kapitel „Le Struthof“: der Struthof, das einzige deutsche Lager auf französischem Boden, in dem Morde und Menschen-Versuche stattfanden. Heute eine Gedenkstätte.

Als Jugendlicher begegnete der Autor Enzensbergers „Kursbuch“ und lernte amerikanische Soldaten kennen, in der Pfalz stationierte GIs, sogenannte Besatzer, die am Dorfrand untergebracht waren. Mit ihnen wurden erste Zigaretten geraucht, beliebt war ein Joint als Mitbringsel deutsch-amerikanischer Freundschaft. Es war die Zeit, als TV-Bilder des Vietnam-Krieges im abendlichen Wohnzimmer aufschlugen, im Kontrast zu dem, was linke Studenten erzählten, die aus Frankfurt in die pfälzische Provinz kamen, Flugblätter mit RAF-Logo unter der Fußmatte ihres Autos.

Peter Kern machte sich an die Jahre, die in Deutschland als Objekt sogenannter „Aufarbeitung“ gelten. Er recherchierte und ergänzte die „Dorfansicht“ um die Jahre der Nazi-Regierung. Fand heraus: niemand, der nicht PG war, Parteigenosse. Erfuhr von Arbeitslagern mit Stacheldraht, in denen französische, italienische, ukrainische oder russische Gefangene eingepfercht waren. Die Kriegsjahre, eine europäische Zwangsgesellschaft selbst im letzten deutschen Dorf.

Die Juden waren längst „weggekommen“, deportiert in die Vernichtungslager im Osten. Kern nahm sich die Dorfchronik vor, suchte nach Quellen, um sich ihr Verschwinden zu erklären.

Unter den Nazis des Dorfes fiel ihm einer auf, der Karriere machte, es zum Gauleiter brachte, sein Name: Bürckel. Der Mann war verantwortlich für die Deportation der Dorfjuden, somit für den „judenfreien Gau Saarpfalz“. Er war ebenso mitverantwortlich für die Erfindung der Deutschen Weinstraße samt, an ihrem Eingang, dem Deutschen Weintor, heute ein beliebtes Foto-Motiv für Touristen. Ein Mitbürger, der hoher Nazi-Funktionär wurde, beteiligt am deutschen Mordprogramm. Nach dem Krieg sei Bürckel – als „hoher Besuch“ – stets willkommen gewesen. – Nichts, was es nicht in jedem zweiten deutschen Dorf gegeben hätte.

Peter Kern
Dorfansicht mit Nazis
280 S., brosch.

ISBN: 978-3-95565-647-8
Hentrich & Hentrich,
Berlin Leipzig 2024

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Erstellungsdatum: 09.07.2024