MENU
Versuch einer aktualisierenden Lektüre der „Verwandlungen“

Für jemanden, der sich an Äußerlichkeiten orientiert, war damals wirklich alles anders und geht uns nichts mehr an. Tatsächlich aber handelt sogar die antike Literatur von Themen und Problemen, die uns heute noch beschäftigen. Was Ovid (43 v. Chr. bis etwa 17 n. Chr.) in den Metamorphosen, den Verwandlungen, in herrlichen Versen detailgenau beschreibt, muss nicht aufwendig interpretiert werden. Ein kleiner Gedankenschritt führt vom Besonderen ins Allgemeine, in unsere Gegenwart. Felix Philipp Ingold zeigt an wenigen Beispielen die Aktualität Ovids.
Mit dem Versepos „Verwandlungen“ (Metamorphoses) hat der altrömische Dichter Publius Ovidius Naso – kurz: Ovid – zu Beginn der christlichen Zeitrechnung ein Meisterwerk heidnischer Welterfassung und Welterklärung vorgelegt, das nachfolgend über viele Jahrhunderte hin seinerseits zum Gegenstand zahlreicher Verwandlungen geworden ist. Was Ovid einst in fünfzehn umfangreichen Büchern und zahllosen Einzelepisoden dichterisch vor Augen führte, wurde später in gewandelter Form (in Romanen, Kunstmärchen, Bildwerken, Filmen, Comics) nacherzählt und nachgebildet, wobei es naturgemäss zu merklichen Kürzungen wie auch zu mancherlei Erweiterungen kam.
Durch ihre weitläufige Verbreitung, Popularisierung und auch Verharmlosung sind Ovids „Verwandlungen“ zu einem markanten Schulbuchklassiker geworden und damit, über die westliche Welt hinaus, zu einem Fundus der sogenannten Allgemeinbildung. Die Geschichten von Narziss, Diana, Arachne oder von Philemon und Baucis haben sich zu Gleichnissen menschlicher Befindlichkeiten und Möglichkeiten verdichtet, die in den bildenden und darstellenden Künsten wie in den neuen Medien und in der Produktwerbung fortwirken, obgleich ihre Originalfassung, nicht anders als der Autor selbst, inzwischen kaum noch präsent ist.
Bei genauerer Lektüre der „Verwandlungen“ lassen sich diverse Episoden ausmachen, die nicht nur mythischen Modellcharakter für menschliche Schwächen oder Tugenden haben (etwa Verrat/Treue, Neid/Mitgefühl, Zorn/Vergebung), die vielmehr als Projekte oder wenigstens als Prognosen aufgefasst werden können für lebensweltliche Befindlichkeiten und Bedürfnisse, die erst in jüngster Zeit vorrangige Aktualität gewonnen haben. Als Autor war Ovid souverän genug, um das Überdauern und die bleibende Wirkkraft seines Werks behaupten zu können: In den Büchern, den Strophen, den Versen der „Verwandlungen“ werde er, so hält er in einer Nachbemerkung selbstgewiss fest, endlos weiterleben – über alle Epochen, alle Weltkreise, alle Gestirne hinweg werde man ihn unter seinem unauslöschlichen Namen lesen, da seine dichterischen „Vorahnungen“ früher oder später sich als Wahrheiten herausstellen, also sich verwirklichen würden („siquid habent veri vatum praesagia“). Mit dieser pathetischen Schlusserklärung bringt Ovid seine Überzeugung zum Ausdruck, für alle Zeit ein Gegenwartsautor zu sein.
Als ein staunenswertes Beispiel für die Verwirklichung seiner „Vorahnungen“ kann die vielfach kolportierte Geschichte von Pygmalion im zehnten Buch der „Verwandlungen“ gelten, der als Künstler „mit glücklicher Hand und wundersamer Geschicklichkeit“ die Skulptur einer Frau erschafft, deren bildnerische Vollkommenheit nicht nur ein Schönheitsideal, sondern auch das elementare künstlerische Begehren erfüllt, das eigene Werk zu beseelen und zu verlebendigen: „Es sieht aus wie eine wirkliche Jungfrau! Man möchte glauben, sie lebe, wolle sich bewegen – bloss die Sittlichkeit halte sie zurück. So vollkommen verbirgt sich im Kunstwerk die Kunst!“ Die vollkommene „Kunst“ – damit ist an dieser Stelle das wahre Leben als Ergebnis einer Verwandlung gemeint. Das Paradoxon bietet, wie so oft bei Ovid, die rhetorische Form dafür.

Dass sich Pygmalion, „abgestoßen von den Makeln“ so mancher Frauen, in seine lebensechte Kunstfigur verliebt und sie zu seiner Partnerin macht, ist als anekdotische Männerphantasie weithin bekannt, gewinnt jedoch angesichts jüngster Errungenschaften der Robotik im Zusammenwirken mit künstlicher Intelligenz jähe Aktualität. Denn tatsächlich sind neuerdings aktions- und reaktionsfähige Sexpuppen auf dem Markt, die als reale Partnerinnen realen Nutzern genügen können: Was sich „wie“ lebendig anfühlt, wird auch als „lebendig“ akzeptiert. Und das heisst: Was sich Ovid vor zweitausend Jahren ausgedacht, ausgemalt, vielleicht auch gewünscht hat, wandelt (und trivialisiert) sich neuerdings vom Phantasma zu kruder Wirklichkeit.
Um sicher zu gehen, dass sein perfektes – sein der Wirklichkeit perfekt entsprechendes – Bildwerk tatsächlich lebt, prüft Pygmalion mit tastender Hand dessen Stofflichkeit und Sensibilität, er redet zu ihm, küsst es, umarmt es und meint die Erwiderung seiner Gefühle wahrzunehmen, ja, er spürt, wie der weiche Körper dem Druck seiner Finger nachgibt und befürchtet auch gleich, „an den Gliedern, die er presst, könnten blaue Male entstehen“. Um so inniger und begehrlicher wendet er sich der Jungfrau zu, er kleidet sie ein, schmückt und beschenkt sie reichlich, nun schon im Vertrauen darauf, sie werde ihm als Gattin angehören.
Bis zu diesem Punkt der Intimität scheinen auch heutige roboterisierte Sexpuppen ihren Dienst zu tun. Was aber Pygmalion darüber hinaus an seinem lebendigen Kunstgeschöpf zu schätzen weiss – Sittlichkeit, scheues Erröten – , das vermag die Roboterfrau noch nicht zu bieten, schon gar nicht die Fähigkeit, zu empfangen und zu gebären. Diese Fähigkeit kann allerdings auch Pygmalions Frau nur mit Hilfe der göttlichen Venus erlangen, und „schon runden sich die Hörner des Mondes neunmal zur vollen Scheibe, da gebiert sie den Paphos …“ Ob künftige Roboterpuppen für Schwangerschaften trainiert werden können und ob diese dann weiterhin auf neun Monate programmiert wären, bleibt abzuwarten. Die Vorahnung (oder Ankündigung?) dafür ist bei Ovid im Originaltext abzurufen.
Geht es in der Fabel von Pygmalion um die Erschaffung künstlichen Lebens („Fleisch und Blut“) aus toter Materie, so wird in einem Kapitel aus dem fünfzehnten und letzten Buch der „Verwandlungen“ das Gegenteil davon thematisiert. Auch hier bietet Ovid einen direkten Anknüpfungspunkt zu einer aktuellen Problemlage. Mit anonymer Bezugnahme auf den altgriechischen Philosophen, Naturforscher und Mathematiker Pythagoras (6. Jh. v. Chr.) wird in rund zweihundert Versen beredte Klage geführt darüber, „dass man Tiere als Speise auftischt“. Die heutigen Debatten, Vorschläge und Angebote zu veganer Ernährung scheint Ovid an dieser Stelle „vorauszuahnen“, wobei er bedauernd konstatiert, dass der „weise Mund“ des Pythagoras seinerzeit „keinen Glauben fand“.
Mit dem alten Gelehrten unterscheidet der Dichter zwischen „friedlichen“ und „mörderischen“ Nahrungsmitteln, letztere bestehend aus Fleisch (Wild, Vieh), Geflügel und Fisch, erstere aus Feldfrüchten, Obst, Kräutern, Blüten aller Art, deren Erscheinungsform und Vorzüge bemerkenswert plastisch beschrieben werden. Ovid gibt sich klar als Sympathisant des Veganismus zu erkennen und wirbt mit vielerlei Argumenten und Beispielen dafür, während er andererseits jeglichen Fleischkonsum nicht nur als töricht, sondern als geradezu verbrecherisch brandmarkt – „sich an blutigem Fraß zu freuen“, sei Raubtieren vorbehalten, die „mit gierig verschlungenem Fleisch ihr eigenes Fleisch mästen“ und es somit (was für ein Bild!) „Leib in Leib bestatten“. Demgegenüber sollte es den Menschen ein Gräuel sein, meint Ovid mit Pythagoras, „als Lebewesen von eines anderen Lebewesens Tod zu leben“.
Entgegen der von ihm beobachteten ungezügelten Gier nach Fleisch und Blut evoziert Ovid ein weit zurückliegendes „goldenes“ Zeitalter, da man den „Mund noch nicht mit Blut besudelte“ und sich stattdessen „mit Baumfrüchten und erdwüchsigen Kräutern“ sorgsam ernährte. Darauf folgt eine umfängliche versifizierte Abhandlung über das Töten von Tieren und Menschen allgemein sowie in besonderen Situationen. Mord an Mensch und Tier sei in jedem Fall abzulehnen, auch wenn es sich dabei um rituelle Opfer handle, und Tötung habe einzig dann eine Berechtigung, „wenn wir Lebewesen erschlagen, die uns nach dem Leben trachten“. Für einen heidnischen Autor sind das bemerkenswert aufgeklärte Überlegungen, die zu der damaligen „blutigen“ Zeit mit ihren Kriegen, Massenmorden und Todesstrafen in scharfem Widerspruch stehen.
Den doppelten „Frevel“ des Tötens und des Fleischkonsums führt Ovid auf den menschlichen „Schreckensbann der Angst“ vor dem eigenen Tod zurück. „Deshalb verkündige ich euch, damit die Gier des Bauches nicht über die fromme Scheu triumphiert: Hört auf, verwandte Seelen durch unheiligen Mord zu vertreiben! Und es nähre sich nicht Blut von Blut.“ Für besonders frevelhaft und widersinnig hält Ovid das Schlachten und den Verzehr von Pferde-, Rind- oder Schaffleisch, von Tieren also, die dem Menschen weit mehr Nutzen bringen, solang sie am Leben, als wenn sie tot sind. „Doch davon – woher nur hat der Mensch solch gewaltigen Hunger nach verbotener Speise? – wagt ihr euch zu ernähren, ihr Sterblichen“, mahnt der Dichter: „Ich bitte euch, tut das nicht, beachtet meine Ermahnungen! Gebt ihr nämlich eurem Rachen die Glieder ermordeter Rinder zu kosten, so seid euch bewusst und fühlt, dass ihr dabei eure eigenen Feldarbeiter verzehrt!“ Ein durchaus logisches Argument, doch in der Ernährungsfrage steht die Logik auch heute noch hinter Vorurteilen und Emotionen weit zurück.
Bekanntlich gibt es Vornamen (wie Claude, Maria, Robin), die von männlichen und weiblichen Personen gleichermassen getragen werden können. Ein solcher Name ist auch Iphis, der einst im alten Griechenland auf der Insel Kreta verbreitet gewesen sein soll, inzwischen jedoch völlig vergessen und längst außer Gebrauch ist.

In einer seiner subtilsten „Verwandlungs“-Episoden (sie findet sich im neunten Buch) macht Ovid den doppelt kodierten Namen zum dramaturgischen Angelpunkt. Den Auftakt dazu bildet die mörderische Drohung eines „frei geborenen Mannes aus dem einfachen Volk“ gegenüber seiner schwangeren Frau, er werde nur die Geburt eines Sohnes akzeptieren – sollte ein Mädchen geboren werden, sei es dem sofortigen Tod geweiht. Als Grund für diesen Rigorismus nennt der Mann, nicht eben überzeugend, sein „geringes Vermögen“, das ihm die Finanzierung einer allfälligen späteren Mitgift für eine allfällig zur Welt kommende Tochter verunmöglichen würde.
Geboren wird dann aber doch ein Mädchen, und um das Kind zu retten, wagt die verzweifelte Mutter einen „frommen Betrug“, indem sie es vor dem gewaltbereiten Vater als ihren Sohn ausgibt, es wie einen Knaben kleidet und erzieht. Das Kind wird nach seinem Grossvater auf den Namen Iphis getauft, von dem außer der Mutter niemand zu wissen scheint, dass er für beide Geschlechter stehen kann. Der vermeintliche Junge wächst zum vermeintlichen Mann heran und verliebt sich als solcher in eine gleichaltrige „vielgerühmte Schönheit“, die sich ihrerseits in ihn verliebt und schon bald zu seiner Braut wird. Als die beiden ihre Gleichgeschlechtlichkeit entdecken, ist es mit ihrer Sehnsucht und „Liebesglut“ nicht etwa vorbei, im Gegenteil – die Leidenschaft „wird dadurch nur noch heißer“ (hoc ipsum flammas ardetque in virgine virgo): „So liebt ein Mädchen ein Mädchen!“
Die Brautleute sind sich der „ungeheuerlichen, neuartigen“ Exklusivität ihrer Beziehung bewusst, sie wissen, dass es keine „natürliche Leidenschaft“ ist: „Treibt doch die Liebe nicht Kuh zu Kuh, nicht Stute zu Stute.“ Die Mutter der/des Iphis erkennt als einzige außenstehende Person die Gefährdung dieser gleichgeschlechtlichen Liebe („bei der es keinen Bräutigam gibt, nur zwei Bräute“) und überlegt sich vielerlei Mittel und Wege, um sie als solche zu retten: „Doch die Natur, die mächtiger ist als alle, will es nicht …“
Nur göttliche Autorität und Kraft vermag die Natur zu korrigieren oder gar zu überbieten; also wendet sich die Mutter des weiblichen Bräutigams an die ägyptische Göttin Isis und bittet sie unter Tränen um die Lösung des Problems, also um die Ermöglichung der „unmöglichen“, weil widernatürlichen Liebe. Durch die Verwandlung der natürlichen Tochter in einen künstlichen Mann ermöglicht die Göttin die übliche Paarung der Geschlechter, und Iphis gewinnt als Mann seine Frau. Offen bleibt, ob sie, die ihn doch lesbisch liebt, an dieser Problemlösung überhaupt interessiert ist.
Ovid lässt sich dazu nicht vernehmen, und man könnte den göttlichen Kunstgriff (die Geschlechtsumwandlung) für ein leichtfertiges Happy end halten. Doch die äußerliche Bereinigung der unhaltbaren Liebeslage sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Ovid in seiner tragisch gestimmten Geschichte vorrangig die gleichgeschlechtliche Beziehung zur Geltung bringt: Die wechselseitige Leidenschaft der beiden jungen Frauen kommt im Text klar zum Ausdruck, wogegen die nachfolgende eheliche Normalisierung zwar als gottgewollt ausgewiesen, nicht aber menschlich gerechtfertigt wird. Eben dadurch bestätigt der Autor seine Anschlussfähigkeit an die zeitgenössische Geschlechterdebatte und bietet er ein frühes Plädoyer für lesbische Selbstermächtigung.
Um das problematische Verhältnis zwischen den Geschlechtern geht es (im zehnten Buch der „Verwandlungen“) auch in der weit weniger bekannten Geschichte von Atalanta und Hippomenes. Der Aktualitätsbezug ergibt sich hier im Hinblick auf das körperliche Kräftemessen, genauer: die sportliche Konkurrenz zwischen männlichen und weiblichen Protagonisten. Atalanta, gleichermassen berühmt und begehrt wegen ihrer Schönheit wie auch ihrer Qualitäten als Schnellläuferin, wird durch einen ambivalenten Orakelspruch vor der Ehe gewarnt und gleichzeitig dazu verurteilt – sie werde der Verheiratung nicht entkommen und in der Folge „bei lebendigem Leib“ daran verderben.

Die Athletin, eingeschüchtert von dem Verdikt, schreckt ihre zahlreichen Freier mit einer provokanten Ansage ab: Sie sollen zum Wettlauf mit ihr antreten – der Erste, der sie bezwinge, werde ihr Gatte sein, derweil die Verlierer „den Tod als Lohn erhalten“. Auch in diesem Fall steht also, wie bei Iphis, das Leben auf dem Spiel. Der Drohung zum Trotz geht Hippomenes, von Atalantas Schönheit verblendet, die riskante Wette ein und stellt sich der Konkurrenz. Vorab beeindruckt ihn die begehrte Frau durch ihren athletischen, will heissen: ihren „männlich“ gestählten Körper („ein Leib wie der meine“), und ihm wird klar, dass nur eine Gottheit ihm zum Sieg wird verhelfen können.
Atalanta wiederum empfängt Hippomenes mit einer gewissen Sympathie als Herausforderer, nachdem sie bereits mehrere Bewerber bezwungen und zum Tod befördert hat – der Mann ist sehr jung, er ist von edler Herkunft, und er ist tapfer und schön wie sie selbst. Die strenge Kämpferin und Eheskeptikerin betrachtet ihn „mit sanfter Miene“ und gerät ins „Schwanken, ob sie ihm lieber unterliegen oder ihn bezwingen will“. Unterliegt sie ihm, gewinnt sie ihn als Mann, gewinnt sie den Lauf, verliert sie ihn als möglichen künftigen Gatten, den sie sich nun doch schon vorstellen kann. „Sie liebt, doch ist sie sich der Liebe nicht bewusst.“ Dieses Dilemma und den diskreten Gesinnungswandel der Frau vergegenwärtigt Ovid ebenso präzis wie einfühlsam in ein paar Dutzend Versen von höchstem dichterischem Rang.
Geplagt von Zweifeln, verunsichert durch ihr plötzlich aufkommendes weibliches Begehren („soll er sterben, weil er mit mir leben will?“) stellt sich Atalanta ihrer eigenen Herausforderung. Rasch wird nach dem Start zum Wettlauf klar, dass sie schneller unterwegs ist als ihr Konkurrent, doch dieser findet Unterstützung durch die Liebesgöttin Venus, welche die vorauseilende Atalanta mehrfach von der Rennstrecke ablenkt, so dass zuletzt Hippomenes das ungleiche Rennen gewinnt und die glückliche Verliererin die Ehe mit ihm eingehen kann.
Faktisch wird hier der Geschlechterkampf als ein Sportereignis vorgeführt, bei dem zwei schöne und starke Menschen als Frau und Mann gleichberechtigt aufeinandertreffen, er um den Preis seines Lebens, sie um den Preis ihrer Liebe. Die Frau, ausgestattet mit „männlicher“ Körperkraft, behauptet und beweist gegenüber ihrem Herausforderer den Vorrang, wird aber durch einen „göttlichen“ Trick um den verdienten Sieg gebracht.
Daraus ist Folgendes zu schliessen: Erstens – das Verhältnis zwischen den Geschlechtern ist stets auf Kampf angelegt und hat den Sieg der einen oder andern Seite zum Ziel. Zweitens – die Frau kann nur dann siegreich sein, wenn sie sich „männliche“ Qualitäten antrainiert und diese im Kampf auch tatsächlich einsetzt. Drittens (da es nicht um Gleichberechtigung und Gleichstellung, sondern um Vorrang geht) – der Mann benötigt, um in jedem Fall, also auch gegen ebenbürtige weibliche Konkurrenz, sich durchzusetzen, d.h. den Sieg zu erreichen, verdeckte Schützenhilfe; diese braucht nicht „göttlichen“ Ursprungs zu sein, es genügt dafür die Schwerkraft von Vorurteilen, Gewohnheiten und Normalitätsdruck. Fazit nach Ovid: Frauen und Männer können in jeder Hinsicht (Kraft, Schönheit, Intelligenz) gleichen Rang erreichen, was jedoch gemeinhin durch unlauteren Wettbewerb oder faulen („magischen“, „göttlichen“) Zauber verhindert wird.
Tatsächlich scheinen Frauen heute in gewissen Sportarten aufgrund von ausgeklügelten Trainings- und Ernährungsprogrammen mit den Männern mehr und mehr gleichzuziehen (so im Fussball, im Tennis oder in einigen Disziplinen der Leichtathletik), was nun auch vermehrt zur Problematisierung genetischer oder hormoneller Gegebenheiten führt. Es gibt Fälle, bei denen Frauen angeblich mit „männlichen“ Anlagen überdotiert und deshalb gegenüber andern Frauen im Vorteil sind. Bei Männern mit „weiblichen“ Anlagen fällt solche Ungleichheit im Sportbereich naturgemäss nicht ins Gewicht, da keine Leistungssteigerung damit verbunden ist. Dass aber Frauen und Männer – sei’s im Mannschafts-, sei’s im Einzelsport – unter gleichen Voraussetzungen in Wettbewerb treten, ist nach wie vor ausgeschlossen und bleibt sicherlich noch für längere Zeit tabu.
Doch irgendwann wird Ovid recht gehabt haben und vollkommen „aktuell“ sein, nämlich dann, wenn menschliche Körper durch medizinisch-technische Zurüstung und durch assistierende Robotik so perfekt gleichgestaltet sind, dass die Unterscheidung zwischen den Geschlechtern hinfällig wird.
Doch nicht zu vergessen: Die hilfreiche Göttin, die dem lesbischen Paar zur Ehe verholfen hat, zerstört später missgelaunt und willkürlich das listig bewerkstelligte Glück der Liebenden, indem sie beide in Raubtiere verwandelt, die sich fortan mit Klauen und Hauern gegenseitig zerfleischen. Bleibt abzuwarten, ob und wie und wann sich die althergebrachten „Verwandlungen“ als reale Gegenwart erweisen werden.
Erstellungsdatum: 02.11.2025