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Ein israelischer Fall und seine tiefere Bedeutung

Politische Säuberung

Eran Rolnik


„Toter Baum im Meer des Lebens“. Installation von Amiram Dora 2017, Foto: רן רזניק. wikimedia commons

Im Wörterbuch des Unmenschen hat „Säuberung“ sicher einen Ehrenplatz. In Diktaturen zählen zum ‚Unsauberen‘ umstandslos auch Menschen, die, wie kürzlich wieder geschehen, als ‚Müll‘ bezeichnet werden. Eran Rolnik, Psychoanalytiker, Psychiater und Historiker in Tel-Aviv, ist auch Autor der Zeitung Ha’aretz. Seine kritischen Artikel zu Benjamin Netanjahu waren Anlass einer Untersuchung durch die israelischen National Service Commission. Rolnik beschreibt seinen Fall.

 

Im Kern des Begriffs „politische Säuberung“ liegt eine Phantasie der Reinheit: die Vorstellung eines öffentlichen Raums, der frei von Störungen, frei von Vielstimmigkeit und frei von der natürlichen Komplexität demokratischer Gesellschaften sei. In der Geschichte haben Regime diese Phantasie immer wieder als Herrschaftsinstrument genutzt – vom athenischen Ostrakismos über die römischen „Proskriptionen“ bis hin zu den national-sozialistischen und stalinistischen Säuberungen und der Kulturrevolution in China. Gemeinsamer Nenner all dieser Beispiele ist eine psychische und institutionelle Logik: Kritik wird zum Angriff erklärt, Unbehagen zum subversiven Akt, unabhängiges Denken zum Schandfleck am „Körper des Staates“.

Heute erfolgen politische Säuberungen selten durch Lager oder Schauprozesse, sondern durch scheinbar „neutrale“ bürokratische Mechanismen: Disziplinarverfahren, die Umdeutung fachlicher Kritik in „verletzende Äußerungen“, der Einsatz des Beamtenrechts zur Abschreckung und Einschüchterung. All dies dient dem Ziel politischer Disziplinierung.

Ich habe diese Dynamik erlebt, als ich – einen Monat nach Ausbruch des Gaza Krieges – von der israelischen Zivilbeamt*innenkommission einbestellt wurde. Anlass waren Artikel, die ich in der Zeitung Haaretz veröffentlicht hatte, im Rahmen des Protests von Ärztinnen, Ärzten und Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten gegen die geplante Justizreform.

Ich trat den öffentlichen Dienst in Teilzeit an, nachdem ich bereits seit vielen Jahren als Psychiater, Psychoanalytiker, Hochschullehrer und Forscher tätig war. Meine vielfältigen beruflichen Tätigkeiten waren von Beginn an offen kommuniziert worden; wie bei leitenden Ärzten in Teilzeit üblich, erhielt ich eine ausdrückliche Genehmigung, diese fortzuführen. Dennoch stützt sich die gegen mich eingereichte Disziplinarklage weder auf eine strafbare Handlung noch auf eine berufliche Pflichtverletzung – und auch nicht auf Kritik in dem Bereich, für den ich im Finanzministerium verantwortlich bin, der medizinischen Leitung der Entschädigungsbehörde für Opfer nationalsozialistischer Verfolgung. Die Klage ist ein durchschaubarer politischer Hexenprozess: Sie kriminalisiert die Tatsache, dass ich die Regierung und ihre moralisch-politischen Entscheidungen in einem Moment gesellschaftlicher Krisendynamik öffentlich kritisiert habe.

In der Anklageschrift heißt es, meine Äußerungen „könnten das Vertrauen der Öffentlichkeit“ in den Staatsdienst untergraben, und meine Kritik an parteipolitischen Ernennungen und Gesetzesinitiativen im Bereich der psychischen Gesundheit „sei eines Staatsbediensteten nicht würdig“. Nicht die Handlung steht im Zentrum, sondern der Gedanke. Nicht Verhalten, sondern „falsche“ Meinung. Gefordert wird nicht fachliche Professionalität, sondern bedingungslose Loyalität – ein Muster, das Hannah Arendt treffend beschrieben hat, als sie die Logik von Regimen analysierte, die sich nur durch die permanente Erzeugung innerer Feinde stabilisieren können. Jede unabhängige Stimme wird zum Risiko, und gegen dieses Risiko wird ein Arsenal von Filterung, Zensur und Sanktionierung in Stellung gebracht.

Meine persönliche Affäre macht sichtbar, wie sich ein professionelles Verwaltungssystem in ein autoritäres Instrument ideologischer Säuberung verwandeln kann.

Doch dahinter steht ein noch tieferer israelischer Paradox, den ich „Deep Israel“ nenne. Gemeint ist nicht ein „Deep State“ im konspirativen Sinn, sondern die tief verankerte professionelle und normative Schicht des Landes: die Krankenhäuser, die Universitäten, der Staatsdienst, das Bildungswesen, die Justiz und die wissenschaftlichen Institutionen. Diese Schicht steht für angesammeltes Wissen, Professionalität und ein demokratisches Ethos. Sie erkennt – zu Recht – dass der Populismus der letzten Jahre den öffentlichen Dienst erodiert und die Fähigkeit des Staates gefährdet, als Demokratie zu bestehen.

Ihr gegenüber steht die politische Basis der Regierung: ein Publikum, das von permanenter Mobilisierung und Polarisierung lebt. Aus dieser Dynamik erwächst eine Politik, die Institutionen schwächt, Expertise delegitimiert und einen öffentlichen Raum ohne kognitive Dissonanz verlangt. Der Konflikt zwischen institutioneller Tiefe und kurzsichtiger populistischer Demontage bildet heute den Kern der Auseinandersetzung um Israels Zukunft.

In diesem Kontext ist die Behauptung, ein Psychiater, Psychoanalytiker und Intellektueller dürfe die Regierung nicht kritisieren, kein Einzelfall. Es ist Teil eines größeren Prozesses: der schleichenden Aushöhlung des demokratischen Raums durch Angst. Die Anwendung des Disziplinarrechts gegen Staatsbedienstete, die eine fachliche, ethische oder staatsbürgerliche Position formulieren, ist selbst eine Form politischer Säuberung. Wie autoritäre Regime früher versuchten, einen „reinen politischen Körper“ zu schaffen, so wird heute versucht, einen öffentlichen Dienst zu formen, der frei von Kritik, frei von unabhängiger Reflexion und frei von Dissens ist.

Als Psychoanalytiker kann ich die psychische Logik solcher Mechanismen nicht übersehen: die Angst vor Komplexität, institutionelle Paranoia gegenüber Vielstimmigkeit und die Reaktivierung von Projektionen – die Übertragung innerer Bedrohungen auf jene, die anders denken. Politische Säuberung ist immer ein Versuch, politische Angst durch Zwang und Loyalitätsforderungen zu bewältigen.

Gerade deshalb ist dieser Kampf nicht mein persönlicher. Es geht um eine grundsätzliche Frage: Ist der israelische Staatsdienst noch in der Lage, Dissens auszuhalten? Anzuerkennen, dass ein Beamter auch ein denkender Bürger ist? Und lässt sich der Übergang von professioneller Verwaltung hin zu autoritärem ideologischem Sortieren noch aufhalten?

Meine eigene Affäre ist nur ein Testfall. Es geht nicht um mich allein, sondern um die Grenzen des Denkbaren im öffentlichen Dienst – und um die Zukunft des demokratischen Raums in Israel. Politische Säuberung beginnt mit der Zumutung an den Einzelnen, zu schweigen. Doch sie endet nie dort. In diesem Kampf müssen diejenigen, denen Israels demokratische Zukunft am Herzen liegt, gewinnen – selbst wenn ich persönlich verliere.

 

 

 

Zuerst erschienen bei Haaretz am 1.12.2025


 

 

 

Erstellungsdatum: 10.12.2025