Annegret Soltau hat allerhand mit sich angestellt. Denn ihren Körper vor allem hat sie als Objekt und Sujet ihrer künstlerischen Behandlungen und Dekonstruktionen verwendet, hat ihn mit Fäden verbunden und Fotos davon zerschnitten, zerrissen und mit Verwerfungen grob vernäht oder mit anderen Aufnahmen collagiert. Sie thematisiert Gewalt, Verletzlichkeit, Schwangerschaft, Familie und gehört zu den bedeutendsten feministischen Künstlerinnen. Marli Feldvoß hat die Eindrücke ihres Besuchs der Werkschau auf der Darmstädter Mathildenhöhe 2006 mit dem Titel „Annegret Soltau – ich selbst“ festgehalten.
„Ich steige ins Bild rein, mit Haut und Haar.“ So direkt zeigt sich Annegret Soltau gleich auf dem Ausstellungsplakat (der Werkschau von 2006), das dem Besucher schon von weitem ins Auge sticht. Es flattert hoch oben über der Darmstädter Mathildenhöhe, schert sich nicht um die kalte Pracht von Jugendstilensemble, Hochzeitsturm und russischer Kapelle, sondern sendet auf seiner ganz besonderen Wellenlänge. Es zeigt ein Porträtfoto der Künstlerin, aus dem das Gesicht herausgerissen und in ein Fenster verwandelt ist. Das „Fenster zur Seele“ hat bei Soltau die Form einer Kopfverletzung angenommen, deren ausgefranste Ränder mit großen Stichen und schwarzem Garn wieder vernäht sind – eine Technik, die schon lange zum Erkennungsmerkmal ihres Werks geworden ist.
„Ich selbst“ hat Annegret Soltau ihre bisher größte Werkschau genannt. Die heute Sechzigjährige, schon lange in Darmstadt ansässige Künstlerin war sich selbst von Anfang an ihr liebstes und beinahe einziges Modell, zu dem sich, bereits im Kleinkindalter ihre Tochter, später weitere Familienmitglieder gesellten, erst kürzlich auch die Männer. Mit ihren Motiven und Materialen des ungeschönten, meist nackten Körpers knüpft sie an die in ihrer Zeit ebenso radikal empfundenen Selbstdarstellungen Paula Moderson-Beckers, Meret Oppenheims oder Frida Kahlos an, mit ihrer Collagetechnik erinnert sie eher an die Dadaisten, insbesondere an Hannah Höch.
Das haptische Zeichnen mit Nadel und Faden hat Annegret Soltau bereits in den siebziger Jahren entdeckt, wobei ein eklatanter Unterschied zwischen Übernähen und Vernähen festzustellen ist. Die ersten Fotoübernähungen folgten noch, spinnwebartig, dennoch verschönernd, idealisierend, den Konturen des eigenen Gesichts; die Vernähungen erzeugten hingegen richtige Nähte, setzten den Riss, die mutwillige Zerstörung voraus, um etwas Neues entstehen zu lassen. Wie ein entkerntes Haus, mit klaffenden Kratern, mögen die Gesichter oder ganze Leiber aussehen, ehe sie von Soltau mit den stets herausgerissenen, niemals geschnittenen Teilstücken mit Nadelstichen zu fremdartigen Wesen neu zusammengesetzt werden. „Mutter-Glück“ heißt eine Serie der jungen Mutter, bei der ihre Angst vor der Auflösung, vor dem Zerstückeltwerden, vor dem Verlust des Künstler-Ichs angesichts des Mutter-Ichs vielleicht seinen drastischsten Ausdruck gefunden hat. Oder „Grimas“: groteske Märchengestalten, halb Mensch, halb Tier. Oder ganz neu: „N.Y.FACES-chirurgische Operationen“, Soltaus mit Spritzen und Zähnen bewaffnete Reaktion auf den 11. September.
„selbst“, „schwanger“, „generativ und Vatersuche“, „hybrids“ – vier Leitmotive führen durch die chronologisch angelegte Werkschau eines autobiografisch orientierten fünfunddreißigjährigen Kunstschaffens. Bei dieser Übersicht steht vielleicht zum ersten Mal die Materialvielfalt der Künstlerin vor Augen: Performance, Installation, Radierung, Fotoradierung, Fotovernähung, Videofilme sowie die in den letzten Jahren entstandenen über zwei Meter hohen Leuchtkästen mit digitalisierten, teilweise mit Leuchtfarben stark verfremdeten Körperfragmenten, wie Mutanten der eigenen Kunst. Daneben, zum Greifen nah, die frühe Soltau mit, „Permanente Demonstration“, ihren Umwicklungsperformances, bei denen sie Besucher wie sich selbst mit dem schwarzen Faden in der Hand eingesponnen hat – wie einen Kokon. Mit den auf diese Weise zugefügten Einschnürungen, den davon zurückbleibenden Hautvertiefungen, nahm Soltau – simulativ – schon jene Alterungsprozesse vorweg, die sie seit einigen Jahren zum Skandalon des Kunstbetriebs haben werden lassen. Jene „generativ“ (nur Frauen), zuletzt „transgenerativ“ (Frauen und Männer) genannten Arbeiten, die den Menschen in seinen drei Lebensaltern und als Teil einer Menschenfamilie zeigen, die dem kontinuierlichen Lebensprozeß von Werden und Vergehn unterliegt, haben wiederholt zu Protest und Ausgrenzung durch Abhängung geführt. Nur, hinter den Vorwürfen „Ästhetik des Hässlichen“ oder „Verletzung gängiger Moralvorstellungen“ verbirgt sich in Wahrheit der vielleicht letzte Tabubruch, der heute offenbar durch die Darstellung weiblichen Alterns ausgelöst wird.
Identitätssuche ist bei Annegret Soltau Knochenarbeit. Unermüdlich hat sie den eigenen Körper malträtiert, auf ihn eingestochen, ihn geritzt. Schmerzhaft schön ist ihr Lächeln unter zusammengekniffenen Augen, als ob sich die Pein der Nadelstiche in den „Ich überstochen“ genannten Selbstporträts in lustvolle Last verwandele. Zur Selbstauslöschung tendieren die gekratzten, dann immer wieder neu belichteten Negative ihrer Fotoradierungen – vom leeren weißen Feld über die fortschreitende Zerstörung einer Figur – bis ein finales schwarzes Viereck übrig bleibt. Von Ende siebziger bis Mitte der achtziger Jahre entstanden diese bis zu sieben Meter langen Fotowände mit bis über tausend dergestalt bearbeiteten Fotos.
Genau hier verläuft die Schnittstelle, an der sich Soltau für ihre konkrete Körperkunst gegen den Weg der Abstraktion entschieden hat. Diese Abkehr bleibt auf der Rückseite der Fotovernähungen, der „anderen“ Seite, immer als Ablehnung, Verwerfung sichtbar. Man braucht ihre Arbeiten eben nur umzudrehen oder muss um sie herumgehen, um die gestichelten und geknoteten schwarzen Fäden als eigenwillige abstrakte Gegenwelt, als ihr unbewusstes Substrat zu betrachten. Dort windet sich die filigrane Fadenzeichnung, Gespinst, Gerüst, Gerippe, Negativansicht jener auf der Vorderseite oft so grausam und grell anmutenden Collagen, die von Soltaus zerstörerischen Kräften, ihren Angst- und Gewaltvisionen diktiert sind, dabei Antworten auf immer wieder neue gesellschaftliche Herausforderungen formulieren. Ohne das Versprechen auf Katharsis steht Annegret Soltau mit ihren Arbeiten und als Gesinnungsgenossin direkt an der Seite jener Gewalttätigkeit, die ein Francis Bacon mit ihrer ganzen Entsetzlichkeit, ihrem Exzess, als eine der Grundkomponenten der „condition humaine“ nur in der Malerei auszudrücken wagte.
Zur Ausstellung sind folgende Publikationen erschienen:
Erstveröffentlichung in NZZ 31. Mai 2006
Hinweis auf die laufende Ausstellung im
Museum Goch
vom 24.11.2024 – 30.03.2025
Sonntag, 16.3.2025, 11.30 Uhr
Matinée zu Annegret Soltau – Fragen der Nachkriegsgeneration
Vortrag durch Prof. Dr. Ulrike Mietzner
Eintritt frei
Sonntag, 30.3.2025 16 Uhr – Finissage der Ausstellung Annegret Soltau
Kastellstraße 9
D – 47574 Goch
t: 02823 320602
mailto: museum@goch.de
Kommende Ausstellung im Städelmuseum Frankfurt:
Unzensiert
Annegret Soltau – eine Retrospektive
8.5.2025–17.8.2025
Erstellungsdatum: 10.02.2025