Wie kann das gehen, was Susan Sontag in ihrem Essay „Against Interpretation“ fordert: Mehr sehen und fühlen, dafür weniger interpretieren? Die beiden Kuratorinnen Adrien Liberty und Carina Bukuts nehmen in ihrer Abschiedsausstellung Sontags Überlegungen zum Ausgangspunkt, um im Portikus Frankfurt einen Parcours zu gestalten, dessen Objekte so wenig preisgeben, dass sie permanent den Titel der Schau „What Are You Thinking“ in Erinnerung rufen. Ursula Grünenwald hat die sehenswerte Ausstellung durchquert und ihre Beobachtungen notiert.
Im Eingangsbereich der Ausstellungshalle steht ein ovaler Korb. Er ist mit einfachen Küchenhandtüchern ausgelegt, die die Grundlage für schwarz-verrottete Früchte sowie ein weißes Pappschild mit einer handgeschriebenen Mobilnummer und dem Wort Austern bereithält. Was tun? Anrufen oder darüber nachdenken, ob sich diese rätselhafte Arbeit auf Marcel Broodthaers Miesmuscheln bezieht? Oder einfach weitergehen?
Ansicht der Ausstellung „What Are You Thinking“, Portikus, Erdgeschoss, 2025. Foto © Portikus Frankfurt
Der Blick fällt auf die Stirnseite des Raumes, die in halber Höhe von einer schmutzvergilbten, semitransparenten Folie verdeckt wird. Wie ein Spritzschutz führt die Folie von Jason Dodge an der Wand des Ausstellungsraumes entlang. Der US-amerikanische Künstler hat die Folie mit kleinen, blauen Vogelnestern bedruckt, die Anleihen beim Logo eines internationalen Lebensmittelkonzerns nehmen, doch verleiht die unappetitliche Aufmachung des Untergrunds den Nestern eine angenehm fragwürdige Erscheinung. Was sehen wir hier? Eine bedruckte Folie? Zeitgenössische Arte Povera? Oder eine witzig-bissige Kritik der globalen Lebensmittelindustrie?
In der Nähe des zentralen Fensters ist die Folie aufgeschnitten und gibt das Wandobjekt „Swamp Creek (#7)“ des 2010 verstorbenen Künstlers Bill Walton frei: Neben einem schmalen, keilförmig zulaufenden Aluminiumblock hängen mehrere einander überlappende, mit grauer Farbe überzogene Rechtecke aus Leinwand. Der silbrig glänzende Metallblock kontrastiert die Leichtigkeit der sich wellenden Folie und korrespondiert zugleich mit der kantigen Metall-Licht-Glas-Installation der französischen Künstlerin Laure Lamiel.
Laura Lamiel, Mouvement de l'immobile, 2025. Zwei Gemälde unter Glas, Stuhl aus Stahl, Eisenfuß, Neonröhre, spiegelndes Plexiglas, variable Dimensionen. Foto © Portikus Frankfurt
Lamiels Installation wird von einem massiven Metallstuhl beherrscht, der über Eck gekippt, auf einer spiegelnden Glasplatte mit grau meliertem Untergrund balanciert. Über seiner schräg gestellten Sitzfläche liegt eine Neonröhre, an deren Ende ein maschinenbeschriebenes Blatt Papier befestigt ist: Alles ist zu tun nichts ist zu tun, entnimmt man dem französischen Text, der sich endlos fortsetzt und in sich selbst verliert: … rien est à faire tout est défaire rien est à faire tout est défaire ... Trotz ihrer materiellen Präsenz ist die Konstruktion der Arbeit überraschend fragil. So lehnt eine zweite Glasplatte an der Wand. Sie spiegelt nicht nur das grelle Licht der werkeigenen Neonröhre, sondern auch die Deckenbeleuchtung des Portikus. Die spröde Installation erweist sich beim genauen Hinsehen als unerwartet responsiv und kontextsensitiv. Sogar das merkwürdige fußähnliche Metallstück am Ende eines Stuhlbeins, möglicherweise ein Leisten für Kinderschuhe, fügt sich in das spielerische Gefüge der im Raum versammelten Objekte aus Fundstücken und Alltagsmaterialien ein.
Lucia Nogueira, No Time For Commas, 1995, batteriebetriebenes Spielzeug, Papiertüte, Holz, 61 x 91 x 68 cm, Foto: © Portikus Frankfurt
Unwillkürlich erregen das Rascheln und Rütteln der Arbeit „No Time for Commas“ von Lucia Nogeira die Aufmerksamkeit: Eine verschlossene braune Papiertüte kreist wie ein umherirrendes Insekt im Rechteck eines umgedrehten dunkelbraunen Holztisches. Die Bewegung wird von einem batteriebetriebenen Spielzeug im Inneren erzeugt, wie man dem Raumplan entnehmen kann – und muss, da die Begleitpublikation wie auch die Objekte ein Eigenleben zu führen scheint: Die in ihr enthaltenen poetischen Textfragmente, historische Quellen, darunter Sontags „Against Interpretation“, sowie verschiedene Notizen der Künstler*innen setzen die Offenheit der Ausstellung fort, statt Interpretationen anzubieten.
Beim Verlassen des Raumes nimmt man zwei Glasgefäße wahr, die auf mehreren losen Zeitungsseiten stehen und zur Hälfte mit einer orangefarbenen transparenten Flüssigkeit gefüllt sind. Während diese das Endprodukt einer Pinselreinigung sein könnten, lassen die beiden mit opaker weißer Flüssigkeit gefüllten Porzellanschälchen, auf die man kurz danach im Untergeschoss trifft, an die Verpflegung von Haustieren denken.
Pablo Accinelli, 30 cm, 2025. Büroklammern, Schlösser, Schlüssel, variable Dimensionen. Foto © Portikus Frankfurt
Die untere Galerie hält weitere Arbeiten bereit: Neun Schnüre aus verzinkten Büroklammern, die in unregelmäßigen Abständen von kleinen Sicherheitsschlössern unterbrochen werden, hat der argentinische Künstler Pablo Accinelli an die Decke gehängt. Man kann an einen monotonen Büroalltag denken, aber auch an die immense räumliche Wirkung der minimalistischen Skulpturen von Fred Sandback.
Ansicht der Ausstellung „What Are You Thinking“, Portikus, Erdgeschoss, 2025. Foto © Portikus Frankfurt
Laurie Parsons wuchtige Bodenskulptur „Troubled“ häuft Fundstücke aus einem Industriegebiet auf: angeschlagene Holzpaletten, ein schmutziges Seil, leere Getränkedosen, vergilbte Zeitungsseiten, Kleidungsstücke, Kohle, Staub und Erde. Wollte Parsons mit ihrer 1989 entstandenen Arbeit eine postindustrielle Replik auf die Akkuratesse der Minimal Art schaffen? Beim Hinausgehen fällt der Blick auf ein Objekt, das im Raumplan fehlt: eine Wandarbeit in Form eines Metallmülleimers, die erst im Verlauf der Ausstellung hinzugekommen ist. Weil an ihr zwei kleine Messingschlösser hängen, korrespondiert sie mit den Büroklammerschnüren im Raum.
Die ausgestellten Arbeiten entziehen sich – jede für sich und alle zusammen – einer abschließenden Interpretation, wie kunstwissenschaftliches Denken und Kunstbetrieb sie nach wie vor anstreben. Dabei zeigen die aktuellen Debatten um erlaubte und unerwünschte Inhalte in der Kunst, wie wenig definitorische Maßnahmen tragen. „What Are You Thinking“ legt noch nicht einmal Anzahl und Auswahl der Werke fest: Manche Arbeiten kommen, wie der bereits erwähnte Mülleimer und der schwarze Rollkoffer auf der Empore, erst während der Ausstellung dazu. Manche der Künstler*innen verzichten auf die Angabe des Entstehungsjahrs, andere auf einen Titel oder, wie Florence Jung mit ihrer Performance „Jung102“, auf Präsenz und Erkennbarkeit. Es sind diese unerwarteten Leerstellen und permanenten Veränderungen, die die Ausstellung zu einem fluiden Gefüge aus Raum und Zeit werden lassen. Wie aber lässt sich dieses feinmaschige Gespinst aus Gesehenem, Gefühlten und Gedachten in Worte fassen?
Das surreal-charmante Eigenleben der Objekte verwandelt den Portikus in einen Ort, dessen Kontrast zu den benachbarten Shopping Malls in der Frankfurter Innenstadt kaum größer sein könnte. Zielt das überbordende Dekor der Kaufhäuser darauf ab, die Passant*innen so zu stimulieren, dass sie zu Konsument*innen werden, lädt „What Are You Thinking“ zu einem gänzlich intentionslosen Dasein ein. Die Objekte bieten ihrem Gegenüber an, sie einfach nur anzusehen und sich für eine unbestimmte Weile auf sie einzulassen. Diese Zwiesprache kann man alleine führen, sie ist aber auch in Gesellschaft möglich. Aus der eiligen und fordernden Frage „Was denkst du“ wird ein entspanntes, zugewandtes Interesse an der Wahrnehmung der Mit-Betrachtenden. So, wie die Werke sich nicht aufdrängen, mal gesprächsbereit sind, mal rätselhaft erscheinen oder gar verschwinden, können auch die Besucher*innen ihre Eindrücke teilen oder für sich behalten.
Die Arbeiten im Portikus sind Gegenstücke jener „traumlosen Kunst“, die Theodor W. Adorno und Max Horkheimer als Bestandteil des kapitalistischen Kulturbetriebs kritisiert haben. Traumlos sind Adorno und Horkheimer zufolge solche Werke, die die Menschen als Produzent*innen und Konsument*innen im Takt und bei Laune halten sollen. Die im Portikus ausgestellten Werke entfalten dank ihrer diversen materiellen und formalen Vieldeutigkeiten ein enormes gesellschaftskritisches Potential, obwohl und gerade weil sie auf explizite politische Botschaften verzichten. Die Ausstellung zeigt, was Kunst vermag, die ganz auf ihre eigenen Mittel vertraut. „What Are You Thinking“ ist tiefgründig, amüsant, traumverloren und messerscharf. Was für ein wundervolles Abschiedsgeschenk.
Erstellungsdatum: 06.10.2025