Der holländische Maler und Performancekünstler Fredie Beckmans kann tatsächliche Begebenheiten so erzählen, als wären sie erfunden, und umgekehrt. Wenn es also bei ihm eine Wahrheit gibt, dann ist sie nicht durch Glaubwürdigkeit gedeckt. Das klingt nach Kunst und führt uns in einen unglaublichen Abschnitt seiner Biografie.
An meinem Sechzigsten bekam ich zum Geburtstag vom Sozialamt das Wort „Zeitmaschinenmonteur“ geschenkt. Es hatte lange genug gedauert. Das Wort stand auf dem Formular. Es sei eine passende Arbeit für mich. Also Zeit für einen Szenenwechsel. Da es eine passende Arbeit für mich sei, sollte ich mich als Arbeitsloser nun mal umschulen lassen, Künstler hin, Künstler her. Ich holte mir alle Schulbücher ins Haus; aber die Frage war natürlich, ob ich es mit meinen 60 Jahren noch einmal schaffen würde: Umschulen, umpolen, umdenken. Eine neue Berufstätigkeit und kein Cent in meinem Portemonnaie. So kurz auch noch vor meiner bevorstehenden Pensionierung. Es war schwer, aber es ist gelungen. Seitdem habe ich viel geforscht und verschiedene Zeitmaschinen sogar repariert. Der einzige gravierende Fehler, der immer wieder auftrat, war, daß man in einer funktionierenden Maschine nicht in die Zeit zurück reisen konnte. Es wurde meine Spezialität, so an den Maschinen rumzufummeln, daß sich da tatsächlich auch was tat. Habe viel dran verdient und dann letztendlich sogar ein Formular unterscheiben müssen, daß ich nicht sagen oder behaupten werde – oder was auch immer versuchen werde, mitzuteilen, daß es mir gelungen ist, die Maschinen nicht nur vorwärts zu treiben, sondern letztendlich auch reisefähig zu machen. Ich muß darum leider hier schweigen.
Als Kind bekam ich zu meinen Geburtstagen nie irgendein Spielzeug von meinen Eltern geschenkt. Wir waren viel zu arm dafür. Immer wieder aber habe ich ein Wort geschenkt bekommen, um damit zu spielen. Ich habe wirklich jedes Jahr von ihnen ein Wort zu meinem Geburtstag geschenkt bekommen und durfte dann ein ganzes Jahr lang damit spielen. Als ich acht Jahre alt wurde, bekam ich ein sehr schönes Wort: Destillator. Da war ich noch zu jung, um es wie ein Glas Wein in meinem Mund zu gurgeln. Aber es gehörte zu den ersten Versuchen, mit Wörtern zu spielen. In den ersten Jahren bekam ich Wörter wie: Gedankenabsorber und Baumwollputz. Mit zwölf Jahren habe ich das Wort Autobiografie bekommen, um damit zu spielen. Gut, ich habe das Wort ausgepackt, war aber eigentlich zu jung, um an dem Wort herumzufingern. Flix flax flux stellte ich mich vor einen Spiegel, schaute mich selber an und sprach langsam das Wort „Autobiografie“. Jetzt konnte ich im Spiegel mein eigenes Ich anschauen und meine eigene innere Leere sehen. So fühlte ich das jedenfalls. Dabei habe ich öfter auf die Hinterseite des Spiegels geblickt. Aber da war noch weniger als Nullkommanix. Da ist wohl der Kern dafür gelegt worden, daß ich allmählich ein Artist und darüberhinaus ein Narzisst wurde. Wo war da nur der Zugang zur eigenen Seele, von dem viel gesprochen wurde, den mir aber niemand zeigen konnte? Mann, war ich damals verspielt und naiv! Stundenlang habe ich mich in den Fensterscheiben gespiegelt. Das tue ich sogar heute noch und sehe dann das große ICH.
Auf irgendeine Weise hatte ich damals schon verstanden, dass man aus sich selber heraustreten und sich selber anschauen muss, um eine Autobiografie schreiben und spielerisch gestalten zu können. Zum Glück mußte ich nur ein Jahr lang mit einem Wort spielen. Und zu meinem 13. Geburtstag bekam ich dann – oh holdes Glück! – das Wort Palindrom geschenkt. Es dauerte ein wenig, bis ich Lust bekam am Spiel mit Retrowörtern. Vorwärts, rückwärts, Regen Neger vorwärts rückwärts, auf meinen eigenen Namen sogar: Ei, der Freibier Fredie. Heute würde ich Retrowörter nicht mehr so verwenden. Palindrom, Retrowörter, pfaa, Wörter ohne Inhalt. Risotto a la Otto, Sir? Sehr viele Palindrome des Essens habe ich mir ausgedacht: Iss Ossi. Und Nesselessen. Ich verlor die Geduld und konzentrierte mich auf geografische Palindrome: Ede und Epe in Holland, Ellemelle in Belgien, Saas in der Schweiz und Sees in Frankreich. Ich habe viel zu viel Zeit damit vertan, gebeugt über Atlanten in Bibliotheken. Ein Jahr lang habe ich in meinem Weltatlas gelebt.
Die Rettung kam an meinem 16. Geburtstag. Da habe ich als pubertierender Jüngling das Wort Kunstmalerei geschenkt bekommen. Wie gesagt: als pubertierender Jüngling! Aus Protest habe ich mit dem Wort nicht gespielt und bin stattdessen Kunstmaler geworden. Von da an malte ich mit Wörtern. Und das tue ich heute noch immer (Vogelhäuschen). Als Kunstmaler ist mein Medium das Wort. Das Schwierige dabei ist, dass man als Maler mit Wörtern vor dem eigenen Gemälde steht. Man nimmt dem Betrachter des Bildes viel weg, wenn man davor steht und redet und viel zu viel redet und nicht mehr aufhört zu reden. Die Erklärungen einer zweiten Schicht, sogar einer dritten Schicht im Bilde, die nur der Maler selber noch versteht, weil er – ahum – weil ich stundenlang im Vollrausch vor dem Bilde sass und es in wilder Euphorie gelesen habe. Der Betrachter wird da wohl nie ankommen. Es sei denn, man säuft sich mit mir wieder in das Bild hinein.
Vor Kurzem bekam ich zu meinem Geburtstag in der Schweiz das Wort Schuh geschenkt. Ich habe nicht lange damit gespielt. Als Gegenwartskünstler warte ich nicht lange und habe schnell eine kurze Geschichte geschrieben, damit ich wieder weitermalen konnte. Idi Fidi Fidschi. Vor einigen Jahren hat man auf den Fidschi Inseln im Ost-Pazifik in einem Museum einen kleinen Schuh ausgestellt. Es war nur ein kleines Museum. Als eines Tages der Schweizer Konsul der Fidschi Inseln, Herr Ulli Schneider, das kleine Museum besuchte und den Schuh sah, erschrak er heftig. Neben dem Schuh lag eine schriftliche Erklärung, auf der man lesen konnte, warum der Schuh ausgestellt wurde. Er entschloss sich, dafür zu sorgen, dass diese kleine Reliquie in die Schweiz zurückgebracht werden würde. Die Geschichte:
Vor ungefähr hundert Jahren reiste ein Schweizer Missionar, Tobias Nothelfer, mit seiner Familie auf die Fidschi Inseln. Er wollte versuchen, die damals noch wilden Inselbewohner zu christianisieren. Er reiste mit seiner Frau Catharina und zwei Kindern, Martin und Elisa. Die freuten sich riesig, weil sie ja auf diese Weise auf eine ganz lange Ferienreise gingen. Aus dem Hafen von Marseille fuhren sie dann los. Martin und Elisa hatten zum Glück viele Bücher dabei. Denn sechs Wochen auf verschiedenen Ozeanen voller Wasser sind dann doch irgendwann langweilig. Sie lasen viele Abenteuerromane, und von Vater und Mutter wurden sie während der Reise unterrichtet.
Nach langer, langer Zeit erreichten sie Suva, die Hauptstadt der Fidschi Inseln. Von dort reisten sie noch ein paar Tage über eine Insel in der Nähe von Tavua, da, wo der Vater Gottes Wort predigen würde. Das Dorf bestand aus kleinen Palmhütten, und es gab viele Kinder.
Der Vater war viel unterwegs und versuchte, die erwachsenen Leute dazu zu bewegen, ihrem animistischen Glauben abzuschwören. Die Leute waren sogar dazu bereit, – bis er ihnen erzählte, dass es verboten sei, Menschenfleisch zu essen. Daraufhin haben die Dorfbewohner eines Tages einen riesigen Topf aufgestellt und die ganze Familie darin gekocht, gebraten und aufgegessen. Das einzige, was übrig blieb, war der kleine Schuh von Elisa. Irgendwie muss der aus dem Topf gefallen sein. Sonst hätte man den auch mit aufgegessen.
Als junger Ornithologe habe ich auch irgendwann das Wort Onomatopöie geschenkt bekommen. Onomatopöie bedeutet, daß zum Beispiel ein Vogel seinen Namen der Art seines Gesangs verdankt, den er produziert: Kuckuck, weil er „kuckuck“ ruft, Uhu wegen seines „uhu“ und Zilpzalp eben wegen seines „zilpzalp“. Komischerweise heißt der Kuckuck in Holland Koekoek, weil er „koekoek“, und der Zilpzalp Tjiftjaf, weil er „tjiftjaf“ ruft. Die tiefsinnigste Idee bei meiner leichtsinnigen Spielerei mit Wörtern war dann wohl, dass ich versucht habe, ein Wort zu finden für den Menschen an sich, das als onomatopoetisch gelten kann. Ich stiess dabei auf ein in der Theaterwelt gebräuchliches Wort, das man verwendet, wenn zwei oder drei Schauspieler hinter der Bühne so einen Sprachlärm machen, daß es klingt, als ob man auf einem Markt Hunderte von Menschen miteinander reden hört. Dafür gibt es ein spezifisches Wort. Seitdem nenne ich die Menschen – Rhabarber. Auf Englisch ist das rubarb, und auf Holländisch heißt der Menschen eben auch Rhabarber.
Ich danke Ihnen, meine lieben Rhabarberinnen und Rhabarber.
Erstellungsdatum: 18.07.2024