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Kurt Gerstein: SS-Obersturmführer im Widerstand?

Schaf im Wolfspelz

Gerd Laudert


Kurt Gerstein, Zeichnung nach einem Foto von 1941

Die Verstrickungen des hochrangigen SS-Mitglieds und Hygiene-Spezialisten Kurt Gerstein in die Massenvernichtung des NS-Regimes sind bis heute umstritten. Nach der Befreiung als Belasteter eingestuft, wurde er 1965 juristisch rehabilitiert. Seit Anfang der 2000er Jahre mehren sich die kritischen Stimmen. Gerd Laudert hat sich mit den konträren Sichtweisen befasst und hält es für angebracht, noch einmal neu und genauer auf die Causa Gerstein zu schauen.

 

Kurt Gerstein war einer der außergewöhnlichsten, widersprüchlichsten und auch umstrittensten Persönlichkeiten des Widerstands gegen die nationalsozialistischen Verbrechen. Er war ein Zeuge des Holocaust, ein als SS-Offizier persönlich involvierter Augenzeuge der Geschehnisse in NS-Vernichtungslagern, insbesondere in Belzec und Treblinka. Er verfasste 1945 ein historisch bedeutsames Dokument („Gerstein-Bericht“), einen detaillierten Bericht über eine Massenvergasung in Belzec. Doch ist der Name Kurt Gerstein auch auf verhängnisvolle Weise verknüpft mit einem Schreckenswort des Holocaust: mit dem des Blausäure-Giftgases Zyklon B. Am 25. Juli 1945 wird der SS-Obersturmführer Kurt Gerstein erhängt in seiner Zelle in einem Pariser Militärgefängnis aufgefunden. Die Umstände seines Todes – war es Selbstmord? – sind bis heute nicht vollständig aufgeklärt.

Ein wechselvolles und ein bis heute nicht abgeschlossenes Kapitel: Die Rehabilitierung Kurt Gersteins

Nach seiner anfänglichen und bis 1965 aufrechterhaltenen Verurteilung als Belasteter bzw. (Mit-) Täter gilt Kurt Gerstein heute, wenn auch – auffälliger Weise – mit nur geringer publizistischer Unterstützung dieses Beurteilungswandels, als ein Mann des (christlichen) Widerstands gegen den Nationalsozialismus. Begonnen hatte der lange Prozess der Rehabilitierung Kurt Gersteins mit den Bemühungen seiner Witwe Elfriede Gerstein, das Urteil der Spruchkammer Tübingen, die ihren Mann 1950 posthum als „Belasteten“ eingestuft hatte, zu revidieren.

Wichtige Schritte auf diesem Weg waren die vieldiskutierte Aufführung des Dramas „Der Stellvertreter“ von Rolf Hochhuth (1963), die juristische Rehabilitierung durch K.G. Kiesinger (1965: Einstufung Gersteins als „Entlasteter“), das Erscheinen der ersten Biografien über Kurt Gerstein (Saul Friedländer 1968, Pierre Joffroy 1972), die Tagungen und Ausstellungen des „Förderkreises Kurt Gerstein“ in Hagen-Berchum in den späten 1990er Jahren, die erste deutsche Gerstein-Biografie von Jürgen Schäfer 1999 und schließlich die im Frühjahr 2000 in Berlin erstmals gezeigte Wanderausstellung „Kurt Gerstein – Widerstand in SS-Uniform“.

Zum Thema Rehabilitierung schreibt Prof. Bernd Hey im Katalog zur großen Berliner Ausstellung: „1985 fand zum ersten Mal eine Ausstellung zum Leben Kurt Gersteins statt; Ausstellungsort war das Evangelische Landeskirchenarchiv in Bielefeld. (…) Am 7. April 2000 eröffnete die Wanderausstellung „Kurt Gerstein – Widerstand in SS-Uniform” in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin. (…) Der Film ‚Amen. Der Stellvertreter‘ von Costa-Gavras ist vorerst die letzte Station der Rehabilitierung Gersteins. Im Februar 2002 in Paris und im Mai desselben Jahres in Bielefeld fand jeweils die Premiere des Filmes statt.“

Doch auch der für eine angemessene Würdigung Kurt Gersteins hoch engagierte Prof. Hey gibt zu bedenken, dass im Blick auf dessen Rolle in der NS-Zeit noch nicht alle kritischen Fragen, die vor allem von Historikern gestellt werden, geklärt sind. „Die These, ein SS-Offizier sei ein Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime gewesen, verlangt nach einer breiten Auseinandersetzung (…) Es gestaltet sich schwierig, den Widerstand eines SS-Offiziers öffentlich zu würdigen, ohne gleichzeitig im Detail zu erläutern, dass es einen solchen Widerstand tatsächlich gegeben hat (…) [Es] bleiben häufig Fragen unbeantwortet, sodass die Person Gerstein heute noch von Historikern kontrovers diskutiert wird.“

In zugespitzter Form wird die Kontroverse um Gerstein in einem Wikipedia-Personenartikel dargestellt: „Gersteins Persönlichkeit und Rolle sind in der Geschichtswissenschaft umstritten. Manche Historiker sehen ihn als einen der Bekennenden Kirche nahestehenden Christen, der versuchte, Informationen über die Verbrechen der Nationalsozialisten zu erlangen und gegen das NS-Regime zu verwenden. Andere sehen in ihm den Mittäter, der sein Fachwissen zur ‚Verbesserung’ der Massenmordmethoden weitergab und erst nach der Kapitulation Deutschlands versuchte, sich als heimlichen Kämpfer im Widerstand gegen den Nationalsozialismus darzustellen.“

Drei dezidiert kritische Stimmen

Dass in den letzten Jahren kritische Anfragen zu Kurt Gerstein offenbar wieder zunehmen, zeigen die folgenden Stimmen. Zunächst plädieren zwei renommierte deutsche Historiker angesichts weiter bestehender Unklarheiten für eine erneute Prüfung der Rolle Gersteins.

Der Historiker (geb. 1950) erwähnt in seiner 2006 veröffentlichten Monografie „Der Militär- und Wirtschaftskomplex der SS im KZ-Standort Sachsenhausen Oranienburg“ auch Kurt Gerstein. „Die Desinfektionsabteilung der Waffen-SS im KZ-Standort Sachsenhausen-Oranienburg war eine Einrichtung des Hygieneinstituts der Waffen-SS in Berlin (…) Gerstein, der 1941 unter anderem in Oranienburg seine militärische Grundausbildung im Sanitätsersatzbataillon absolvierte, war Mitarbeiter des Hygieneinstituts der Waffen-SS und hielt sich häufig in Oranienburg auf; möglicherweise war dies sogar sein Dienstsitz. (…) Über die Rolle Gersteins in Oranienburg bestehen trotz der beträchtlichen Literatur über ihn noch erhebliche Unklarheiten; hier gibt es noch grundlegenden Forschungsbedarf. Insbesondere ist seine Rolle bei der Belieferung von Konzentrations- und Vernichtungslagern mit Zyklon B, das er anscheinend in großen Mengen in Oranienburg lagerte, noch immer nicht eindeutig geklärt. (…) Um exakte Informationen zu erhalten, ist es notwendig, unabhängig von bisherigen Veröffentlichungen alle Quellen erneut einzusehen und einzeln zu prüfen.“

Der deutsche Historiker Andrej Angrick (geb. 1962) beschäftigt sich in seinem 2018 im Wallstein Verlag erschienenen zweibändigen Werk „Aktion 1005“ – Spurenbeseitigung von NS-Massenverbrechen 1942–1945“ ausführlich auch mit der Biografie Kurt Gersteins. Über dessen Beitritt zur Waffen-SS schreibt er im ersten Band: „Für diesen Schritt scheint es politische Beweggründe gegeben zu haben, die Gersteins Selbstdarstellung vom Schaf im Wolfspelz widersprechen. In die Beurteilung seiner Persönlichkeit – die offenbar von einem starken, geradezu narzisstisch gesteuerten Sendungsbewusstsein und Publikationswillen bestimmt war – und vor allem seiner bedeutsamen dienstlichen SS-Tätigkeit – ist dieser Umstand anscheinend nicht eingeflossen. Vor allem aber kann nirgends nachgewiesen werden, dass [Gerstein] seine Amtsgeschäfte als SS-Hygieniker vernachlässigt und wirklich Sabotage begangen hätte (…) [Er war] wohl viel tiefer in die Verbrechen verwickelt, als sein Nachkriegsbericht glauben macht. Und dies mag wiederum erklären, warum Gerstein (…) in den letzten Jahren des Regimes zum nervlichen Wrack mutierte und in letzter Konsequenz am 25. Juli 1945 in französischer Haft Selbstmord beging.“

Unter dem bewusst provozierenden Titel „Ein Täter als ‚Whistleblower des Holocaust‘“ erscheint Ende 2020 in einer Internet-Zeitung ein umfangreicher, mit zahlreichen Anmerkungen und Belegen versehener Artikel von „Paulette Gensler“ (Pseudonym eines Autorenkollektivs aus Leipzig), der noch weitaus schärfer die verbreitete Rezeption Gersteins als eines „Widerständlers in SS-Uniform“ kritisiert. 1963 habe Rolf Hochhuth mit seinem Schauspiel „Der Stellvertreter“ dem SS-Mann Kurt Gerstein „als dem Helden seines Stückes ein Denkmal errichtet, das maßgeblich die weitere Beurteilung jenes Mannes bestimmt [habe]“. Dann, so „Paulette Gensler“ mit Hinweis auf die Bücher von Pierre Joffroy und Saul Friedländer, sei „die Causa Gerstein nachträglich durch Biographien [abgesegnet worden], die allesamt von einer gehörigen Sympathie oder zumindest Faszination für jenen ‚Spion Gottes‘ geprägt sind.“ So habe eine „literarische Geschichtsschreibung aufgrund ihres Verführungscharakters die folgende Forschung und Rezeption in einer kaum gekannten Weise kanalisiert.“ (…) „Bald übernahm auch die evangelische Kirche die für sie günstige Erzählung und wurde die maßgebliche Verfechterin der Ehre Gersteins.“  ( https://versorgerin.stwst.at/artikel/12-2020/ein-tater-als-whistleblower-des-holocaust)

Eine persönliche Anmerkung

Es ist m. E. verständlich und nachvollziehbar, dass insbesondere Christen, die Kurt Gerstein z.T. auch persönlich kannten und ihm nahestanden wie etwa ehemalige BK (Bibelkreis-) Mitglieder, aber auch junge Christen des ESW (Evangelischer Schülerinnen- und Schülerverein der Ev. Kirche von Westfalen) sowie Mitglieder des 1995 im Kurt-Gerstein-Haus gegründeten Förderkreises, vor allem die christliche Motivation und Haltung Gersteins und dessen Selbstverständnis als Zeuge des Holocaust betonen. In ihren Augen war Kurt Gerstein als Christ von Anfang an ein entschiedener Gegner des Nationalsozialismus. Er sei nur deshalb in die Waffen-SS eingetreten, um deren Verbrechen von innen ausspionieren und bekämpfen – sabotieren – zu können. Auch habe er (was aber, wenngleich nicht konkret belegbar, kaum zutreffen wird) in seiner dienstlichen Funktion als Giftgas-Experte des Hygiene-Institutes der SS nahezu alle (! G.L.) von ihm bestellten Zyklon-B-Lieferungen unschädlich machen bzw. sie für Desinfektionszwecke umleiten können.

Ebenso nachvollziehbar ist andererseits, dass Historiker, die den christlichen Hintergrund Kurt Gersteins mehr oder weniger ausblenden (und auch weniger gut kennen), den Fokus ihrer Forschungen stärker auf die Verstrickung des hochrangigen SS-Mitglieds und Hygiene-Spezialisten in den geplanten und ab 1942/43 schon weit fortgeschrittenen Massenmord legen und dabei hier und da – auch unter Berücksichtigung einiger auffälliger Persönlichkeitszüge Kurt Gersteins – auf Hinweise stoßen, die dafür sprechen könnten, dass Gerstein wohl doch tiefer in die NS-Verbrechen verwickelt war, als es der von ihm 1945 in mehreren Versionen verfasste so genannte „Gerstein-Bericht“ erkennen lässt.

Die Wahrheit dürfte, auch wenn dies trivial klingen mag, irgendwo dazwischen liegen. Man wird in der Causa Gerstein der Wahrheit vielleicht erst dann ein Stück weit näherkommen, wenn endlich, vermutlich 2045, d.h. hundert Jahre nach dem Tod Gersteins, das offenbar noch existierende Dossier des Pariser Militärgerichts zugänglich gemacht wird. Doch wird dies allenfalls das Lebensende des Pariser Häftlings ein wenig erhellen, aber sicher nicht die ganze Wahrheit über Kurt Gerstein aufklären und belegen können.

Wichtig erscheint mir jedoch folgendes:

Wer in Gerstein aufgrund ihn belastender historischer Quellen und einschlägiger Gerichtsurteile einen überführten Täter, nämlich den „Zyklon B-Lieferanten“ sieht und ihn wegen seiner Verstrickung in die Verbrechen des Holocaust verurteilt, der verkennt nicht nur, dass es – und dies ist weithin unbestritten – Gersteins primäres Ziel war, die Welt angesichts der Verbrechen, die er erstmals in Belzec als Augenzeuge miterlebt hatte, zu warnen und wachzurütteln. Sein sich immer mehr zuspitzendes Dilemma bestand darin, dass er, um ein Zeuge sein und bleiben zu können, in einem schwer zu bestimmenden Ausmaß zum (Mit-) Täter werden musste.

Wer Gerstein als Täter verurteilt und seine Zeugenschaft kleinredet, verkennt vor allem dieses: Eine noch größere Schuld als Kurt Gerstein, der seine sein Gewissen durchaus schwer belastende Selbstverpflichtung als Zeuge bis zuletzt bewusst und zudem unter ständiger und zunehmender Lebensgefahr aufrechterhalten hat, haben diejenigen auf sich geladen, die Gersteins Appelle und Warnungen ignoriert haben.

Insofern überzeugt auch mich Saul Friedländers Votum am Ende seines Buches über „die Zwiespältigkeit des Guten“:

„Das wahre Drama Gersteins war die Einsamkeit seines Handelns. Das Schweigen und die völlige Passivität der Deutschen, das Ausbleiben jeder Reaktion bei den Alliierten und den Neutralen, ja des gesamten christlichen Abendlandes gegenüber der Vernichtung der Juden verleihen der Rolle Gersteins erst die wahre Bedeutung. Sein Rufen blieb ohne Widerhall, seine Hingabe war einsam, sein Opfer erschien deshalb ‚unnütz‘ und wurde zur ‚Schuld‘.“

Vielleicht ist es heute – 120 Jahre nach der Geburt Kurt Gersteins und 80 Jahre nach seinem Tod in Paris – an der Zeit, nicht nur im Bielefelder Archiv, sondern auch an anderen biografischen (Fund-) Orten und in einschlägigen Forschungsstätten noch einmal neu und genauer hinzuschauen, um die Verstrickungen dieses unerhört einsamen und schuldig gewordenen SS-Mannes als Zeuge und Täter des Holocaust neu bewerten zu können.

Kurt Gerstein hat sich schuldig gemacht, weil er genau hinsehen wollte, und weil er hingesehen hat. Er hat das Morden in Belzec gesehen, hat es detailliert geschildert, um die Welt darüber aufzuklären und wachzurütteln – während Millionen andere, vor allem – aber nicht allein – in der NS-Zeit lebende Deutsche sich durch ängstliches oder gleichgültiges Wegsehen schuldig gemacht haben. Dies anzuerkennen sind wir Heutigen m.E. Kurt Gerstein schuldig. Umso mehr, als wir derzeit wieder besonders gefordert sind: wachsam zu sein gegenüber demokratiefeindlichen und menschenverachtenden Bestrebungen weltweit.

Im Übrigen scheint mir die Beschäftigung mit Kurt Gerstein ein Lehrstück in Sachen „Politische Bildung“ zu sein, weil hier gut begründete konträre Sichtweisen als solche wahrgenommen und sehr sorgsam bedacht werden müssen.

 

 

 

Literatur:

Saul Friedländer, „Kurt Gerstein oder die Zwiespältigkeit des Guten“, Bertelsmann, 1968
Pierre Joffroy, „Der Spion Gottes. Die Passion des Kurt Gerstein“. K.F. Koehler, 1972
Jürgen Schäfer, „Kurt Gerstein - Zeuge des Holocaust. Ein Leben zwischen Bibelkreisen und SS, Luther Verlag, 2000
Bernd Hey/ Matthias Rickling/ Kerstin Stockhecke, „Kurt Gerstein (1905-1945). Widerstand in SS-Uniform“, Verlag für Religionsgeschichte, 2000
Hermann Kaienburg, „Der Militär- und Wirtschaftskomplex der SS im KZ-Standort Sachsenhausen Oranienburg“, Metropol, 2006
Andrej Angrick, „Aktion 1005 – Spurenbeseitigung von NS-Massenverbrechen 1942–1945“, Wallstein Verlag, 2018

 

Siehe auch:
Doris Stickler: Das Doppelspiel des Kurt Gerstein

Erstellungsdatum: 12.10.2025