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Streifzüge durch die literarische Anthologie von Fiston Mwanza Mujila

Schlüsselorte

Cornelia Wilß


Fiston Mwanza Mujila. Foto: Alexander Paul Englert

14 Kurzgeschichten afrikanischer und afrodiasporischer Autor:innen spiegeln Aspekte urbaner Lebenswirklichkeiten über transkontinentale Grenzen hinweg. Die Stadt ist ein Schlüsselort für eine Szenerie, in der sich Tragik und Komik verflechten. Dann wieder ist sie die Hauptfigur, ein Ort der Sehnsucht und Entwurzelung. Figuren bewegen sich zwischen den Kontinenten, eben InterKontinental – so auch der Name eines Verlages, der sich mutig auf afrikanische und afrodiasporische Literatur spezialisiert hat und kürzlich erst mit dem Berliner Verlagspreis ausgezeichnet wurde. Cornelia Wilß traf den Autor zuletzt beim Textland Festival 2023.

Erzählung vom Selbst

Ausgangspunkt der Erkundigungen im urbanen Raum ist die „Erzählung vom Selbst“. Die meisten der 14 hier versammelten Autorinnen und Autoren leben gegenwärtig in Europa, oft schon seit vielen Jahren. Ursprünglich kommen bis auf eine Schriftstellerin alle aus Subsahara-Afrika und schreiben aus einer autofiktionalen Perspektive. Ein Schlüsselort kann vieles sein: von Kindheit und Jugend erzählen und Erinnerungen wecken, ein solcher Ort kann eine Gegenerzählung zum Offen-Sichtlichen sein, verborgene Stimmen hinter stummen Fassaden hervorlocken, zum Beispiel in Edinburgh mit seiner unsichtbar gebliebenen kolonialen und nahezu vergessenen „Schwarzen Geschichte“. Die hier versammelten Autor:innen kennen alle den Moment der Verzweiflung, in dem sich eine als existentiell empfundene Krise über das Leben im Exil wölbt, doch das Exil kann auch Trost im Kosmopolitischen bereithalten. So schreibt der Herausgeber mit kongolesischen Wurzeln, der seit Jahren in Graz lebt und arbeitet im aufschlussreichen Vorwort: „Weggehen und zurückkommen wohnt dem Wesen jedes Menschen inne. Dieser neue Globalismus ist ein Ort der ständigen Neudefinition von Religion, Herkunft, Geschlecht sowie des Schmelztiegels der Kunst und der Populärkulturen“. Und das zeige sich wie kaum an einem anderen Ort im Afrotopos Stadt. Die sei nicht vergleichbar mit der europäischen Vorstellung von moderner Urbanität – auch heute noch nicht. Die großen afrikanischen Städte seien eine Mischung aus kolonialer und postkolonialer Urbanität, im ständigen Wandel begriffen. Kinshasa, zum Beispiel, die quirlige Metropole, sagt Mwanza Mujila, der oft in den Kongo reist, habe einen „ganz besonderen Geruch“, den von gegrillten Maniokblättern und anderen Düften, der sie von Städten in Europa und anderswo unterscheide, ebenso wie die Musik in seinen Ohren und der anhaltende Lärm auf den Straßen. Für einige sei die Stadt ein Ort der Befreiung, wohin die Leute gingen, um ihre Träume zu verwirklichen. Aber sie könne auch ein sehr gefährlicher Ort sein, ein einsamer Ort der Ausgrenzung, der den Verlust der Identität schmerzlich spürbar mache. „In jedem Falle ist die Stadt ein Ausdruck der Modernität und das war für mich ein interessanter Ausgangspunkt für die Anthologie.“ 

Koloniale Stadtbilder

Die moderne afrikanische Literatur ist eng verwoben mit dem Topos der Stadt und fällt zeitlich mit der Errichtung der ersten Kolonialstädte zusammen. Schriftstellerinnen und Schriftsteller versuchten in dieser Zeit Zeit, die neue Ordnung zu kartografieren, das urbane Leben, welches von den Vorstellungen europäischer Mächte bestimmt wurde, zu beschreiben. Die koloniale Stadt (das Schwarze Europa oder Poto Moyindo, so der Beiname der kongolesischen Stadt Kinshasa in der belgischen Kolonialzeit) im Gegensatz zum Land „trägt die Keimzelle des Verderbens in sich. Europa ist eine entmenschlichte Welt.“ Nahezu alle afrikanischen Städte sind Erfindungen des europäischen Kolonialismus, sagt Fiston Mwanza Mujila: „Wenn man anschaut, wo die Kirchen oder Kathedralen sind, so findet man sie in der Mitte der Stadt. Im traditionellen Afrika stand in der Mitte der Stadt der Palast des Königs, aber das hat sich unter der kolonialen Dominanz, bei der auch das Christentum eine maßgebliche Rolle hatte, verändert. Die koloniale Stadt hatte das Ziel, die afrikanische Erinnerung zu domestizieren.“ Die koloniale Aneignung drückt sich auch in der Namensgebung aus. Städtenamen wie Élisabethville, heute Lubumbashi, mit der die britische Königin Elisabeth I geehrt werden sollte oder Léopoldville in der Kolonie Belgisch-Kongo, die sich Leopold II unter den Nagel gerissen hatte – erst nach dem „offiziellen“ Ende der Kolonialzeit führten zahlreiche Länder wieder afrikanische Namen für ihre Städte ein – ausgenommen Brazzaville: der Name der kongolesischn Hauptstadt ist ein Relikt aus der Kolonialzeit, bis heute benannt nach dem französisch-italienischen Afrikareisenden Graf Pierre Savorgnan de Brazza. Während der Kolonialzeit war der öffentliche Raum nicht allen gleichermaßen zugänglich. Die Stadt der Weißen war der Wohnort der europäischen Eindringlinge. An ihrer Peripherie entstanden schwarze Viertel, die Demarkationslinien wurden willkürlich gezogen. Fiston Mwanza Mujila selbst entstammt einer solchen Stadt, die die Folgen der Industrialisierung auf drastische Weise zu spüren bekam: die Diamantenstadt Lubumbashi, Kongos Bergbaumetropole und Kriegsschauplatz im kongolesischen Bürgerkrieg, ist eine Inspiration für seine literarischen Arbeiten. Die Städte in Afrika seien damals von den Kolonialplanern nicht für den Zuzug für viele Menschen gebaut worden; heute würden die Städter ihren Lebensraum selbst interpretieren und nach ihren Bedürfnissen gestalten.

Der Dramaturg, Romancier und Dichter, Dieudonné Niangouna, hebt in seinem Text Die Legende von der großen roten Rutsche das koloniale Erbe der administrativen Gliederung in Brazzaville hervor. Man darf nicht vergessen, dass Brazzaville eine in Maniokscheiben geschnittene Pizza ist / So viele Sprachen wie nur irgend möglich pro Bezirk in einer kleinen Stadt / Jedem Viertel die seine und den Kongo für alle… Von seinem Vater eingesperrt in der Bibliothek, im Gefängnis des Wissenskanons der westlichen Vorstellungswelt, bringt der Protagonist der Erzählung Unordnung in die Bibliothek; der Junge tauft die französische Literatur des 18. Jahrhunderts im väterlichen Lieblingsregal um, klebt Zettel an die Bücher, die den europäischen Werken Namen nach den Bezirken Brazzavilles geben.

Hemley Boum, die französisch-kamerunische Schriftstellerin, spielt mit den Unterschieden zwischen europäischen und afrikanischen Vorstellungswelten in ihrer Kurzgeschichte Alle Wege führen nach Duala, eine Stadt in Kamerun, die vor Leben sprüht, alles ist grün, tiefgründig, begierig, und so jung, „diese andere Art von urbanem Lebensraum ist spürbar“. Die Autorin hat die Stadt einst verlassen, danach in Lille studiert und lebt heute in Paris, kehrt jedoch immer wieder an ihren Ausgangspunkt zurück. Ein geheimer Tunnel verbindet sie – wie Alice im Wunderland – mit Duala, schreibt sie, welches sich wie ein Relief in ihre innere Topografie eingeschrieben und sich bei jedem Besuch verändert habe: „Duala wartet nicht. Afrikanische Städte sind gekennzeichnet durch den ständigen Exodus. Sie werden hinter uns wieder aufgebaut, anders, ohne uns, mit denen, die bleiben und sich dort niederlassen.“

Die tollwütige Stadt– einen gänzlichen anderen Blick auf den Topos Stadt wirft der sudanesische Autor, Abdelaziz Baraka Sakin, der als einer der bedeutendsten Stimmen der arabisch-sprachigen Literaturen in der europäischen Diaspora gilt. Die Stadt, sagt er bei der Buchpremiere, verband er in seiner Studienzeit an der Universität Assiut mit der Verfügbarkeit von Büchern, zu denen er, der auf dem Land aufgewachsen war, zuvor keinen Zugang hatte. Später sei die Stadt, insbesondere Khartum, zu einem Ort des Krieges und der Gewalt mutiert, wo man Angst haben müsse, vom Militär zwangsrekrutiert zu werden. Diese bitteren Erfahrungen verarbeitet er in seiner Kurzgeschichte zu einem kuriosen Verwirrspiel von Identitäten und Personen, in dem der Blinde der Sehende ist.

Die Schriftstellerin Leila Aboulela wurde in Kairo geboren, wuchs in Khartum auf und zog mit Mitte Zwanzig nach Schottland. Dem hiesigen Publikum ist sie durch die Veröffentlichung zahlreicher Erzählungen und Romane, die ins Deutsche übersetzt wurden, bekannt geworden. In Schlüsselworte hat sie ihre erste Erzählung über Kairo veröffentlicht, erzählt sie bei der Berliner Premiere. Die Geschichte spielt im Arabischen Frühling 2011: Eine junge Frau, die von ihrer Familie drangsaliert wird, schließt sich den Aufständigen an, der Tahir-Platz wurde zu einem kollektiven Ort, der alle aufnahm und wo die Ich-Erzählerin nie einsam sein würde. „Wir forderten Veränderungen und hielten einander an, stolz darauf zu sein. „Kopf hoch, Brust raus!“, sangen wir. „Du bist ehrbarer als der, der auf dir herumtrampelt.“

Fiston Mwanza Mujila ist ein Schriftsteller, ein Kurator, ein Herausgeber, ein Vermittler der Literatur der afrikanischen Diaspora in Europa – und nicht zuletzt ein Leser. Ihn treibt die Neugierde, die Erkenntnissuche und die Lust an Sprachen und Weltvorstellungen der „Anderen“ an. Fiston Mwanza Mujila ist einer, der Wert darauflegt, genau zuzuhören und bereit ist, sich befremden (im guten Sinne) zu lassen. Das Lesen afrikanischer Literaturen und ihren Schöpfern Raum zu geben,  könne eine Inspiration sein, die Vorstellung zu überwinden, dass es nur „eine einzige Wahrheit“ gäbe. Europa, sagt er, sei – auch in der Verfügbarkeit von afrikanischen Literaturen – immer noch kolonial geprägt, aber längst nicht mehr das Zentrum der Welt. Es gäbe viele Zentren, und es gäbe viele Wahrheiten. Die Welt von morgen werde deshalb eine andere, vielleicht eine bessere sein, das mache ihn optimistisch. Literatur sei ein Lebensmittel, wichtiger gar als Luft und Wasser! 

 

Zum Herausgeber:
Fiston Mwanza Mujila wurde in Lubumbashi, Demokratische Republik Kongo geboren und lebt seit 2009 in Graz, Österreich. Seine Texte umfassen Lyrik, Prosa und Theaterstücke. 
Laut, schrill und bisweilen boshaft geht es in seinem gefeierten Debutroman Tram 83 zu. Der Roman erschien 2014 bei Éditions Métailié in Paris, seit 2016 liegt er in der gelobten Übersetzung von Katharina Meyer und Lena Müller bei Zsolnay vor. Tram 83 wurde in zahlreiche weitere Sprachen übersetzt und stand unter anderem auf der Longlist des Man Booker International Prize und des Prix du Monde.
Sein Roman  Tanz der Teufel steht in englischer Übersetzung (The Vilain’s Dance) aktuell auf der Shortlist fort he National Book Award in den USA: Angesiedelt sind die Geschichten im Grenzgebiet zwischen Angola und dem Kongo, in der Provinz Lunda Norte und im Zentrum von Lubumbashi, Hauptstadt der rohstoffreichen Region Haut-Katanga im Kongo.
Neben seiner vielseitigen schriftstellerischen Tätigkeit unterrichtet Fiston Mwanza Mujila  Afrikanische Literatur an der Universität Graz und ist als Kurator für verschiedene Projekte tätig, darunter als Kurator für WELTWORTREISENDE - Transnationalen Grazer Literaturtage, die vom 17. bis 19. Oktober 2024 zum vierten Mal stattfinden werden.
Siehe Kulturtipp https://textor.online/de/texte-detailseite/weltwortreisende-transnationale-grazer-literaturtage/
Der Vermittler Mujila, wie er sich selbst beschreibt, ist ein literarischer Grenzüberschreitender und in Wortwelten unterwegs. Seit 2014 arbeitet er in einem dichten Netzwerk „aus der Welt der Bücher und Lyrik“ zur Poesie des Schwarzen Europas. Aus zahlreichen Gesprächen und die Lyrik der Schwarzen Diaspora in Europa streifend entstand eine breit angelegte Anthologie, die im Wunderhorn Verlag unter dem Titel Kontinentaldrift vorgelegt wurde. 
Im Frühjahr 2023 erhielt der Schriftsteller den Preis der Literaturhäuser. Sein Roman Tram 83 wurde mehrfach ausgezeichnet. Sequenzen in Tram 83 wurden oft mit Jazzpartituren verglichen. Live performt Mujia seine Texte, manchmal begleitet vom Grazer Saxophonist Patrick Dunst. „Die Wahrheit liegt nicht unbedingt in der Absicht des Erzählers, sie liegt im Rhythmus, in der Emotion, die durch die Lektüre des Textes ausgelöst wird“. Literatur sei wie Musik. „Die Sprache existiert vor dem Text, vor der Geschichte, deshalb haben die Charaktere ihre eigene Musikalität“ Auch der Roman Tanz der Teufel wurde als „unerhört musikalisch“ gefeiert. Für die Uraufführung der Oper Justice am Grand Théâtre de Genève im Januar 2024 entwickelte Mujila mit dem katalanischen Komponisten Hèctor Parrater unter der Regie von Milo Rauch ein Libretto. 

Fiston Mwanza Mujila (Hrsg.)
Schlüsselorte
Das Buch enthält Texte von:
Leila Aboulela,
Leye Adenle,
Aminata Aidara,
Djaimilia Pereira de Almeida,
Hemley Boum,
Ananda Devi,
Asya Djoulaït,
Ubah Cristina Ali Farah,
Tendai Huchu,
Niq Mhlongo,
Fiston Mwanza Mujila,
Dieudonné Niangouna,
Abdelaziz Baraka Sakin,
Vamba Sherif
282 S., geb.
ISBN-13: 9783982328171
Verlag InterKontinental, Berlin 2023

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Erstellungsdatum: 07.10.2024