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Astrid H. Roemers Roman „Gebrochen-Weiß"

Schmerz und Lebensfreude

Anita Djafari


Astrid H. Roemer. Foto: Raul Neijhorst/Residenz Verlag

Die Familiensaga der Autorin Astrid H. Roemer, die unter dem Titel Gebrochen-Weiß erschienen ist, gibt Einblick in die Lebenswelt von Suriname, einer ehemaligen niederländischen Kolonie im Norden Südamerikas. In diesem Staat, der erst 1975 seine Unabhängigkeit erlangte, ist die 1999 mit dem LiBeraturpreis ausgezeichnete Autorin geboren. Als erste People of Colour erhielt Astrid Roemer 2021 den Prijs der Niederlandse Letteren für ihr Gesamtwerk. Anita Djafari hat den Roman, der von Bettina Bach ins Deutsche übertragen worden ist, mit Gewinn gelesen.

 

Hand aufs Herz: Wer kennt eigentlich Suriname? Man verortet es irgendwo in der Karibik, vielleicht. Nichts Genaues weiß man nicht, und das ist vielleicht auch gar nicht nötig, um diesen Roman zu lesen, zu verstehen und ja, zu genießen. Schauplatz ist die ehemalige niederländische Kolonie Surinam, ein kleines Land im Norden Südamerikas, das erst 1975 unabhängig wurde. Dort ist Astrid Roemer 1947 geboren und 1966 in die Niederlande ausgewandert. Seither lebt sie abwechselnd in beiden Ländern, in den Niederlanden gilt sie als die Grande Dame der niederländisch-karibischen Literatur. In Deutschland erlangte sie 1999 kurz Aufmerksamkeit mit ihrem Roman Könnte Liebe sein (Berlin Verlag 1998) in der Übersetzung von Christiane Kuby, für den sie den LiBeraturpreis erhielt. Die Veröffentlichungsliste der Autorin ist allerdings lang, Theaterstücke, Lyrik und etliche erfolgreiche Romane hat sie in den Niederlanden publiziert, 2016 wurde sie mit dem renommierten P.C. Hofft Preis für ihr Gesamtwerk ausgezeichnet, 2021 als erste People of Colour mit dem Prijs der Niederlandse Letteren. 2019 erschien Gebrochen-Weiß im Original, das nun in der hervorragenden Übertragung von Bettina Bach auch bei uns vorliegt und mit einem instruktiven Nachwort der Übersetzerin versehen ist. 

Um es gleich zu sagen: Dieser Roman ist überbordend. Eine Art Familiensaga über drei Generationen, die sich in komplizierten Konstellationen entfaltet und bei der man – zugegeben – bei so viel Personal manchmal den Überblick verlieren kann. Das liegt daran, dass wir es mit sechs Erzählstimmen zu tun haben, vorwiegend weiblichen, nur eine von ihnen nimmt die Ich-Perspektive ein. Das ist Heli, die unfreiwillig weggegangen ist, sie wurde in die Niederlande geschickt zu ihrem dort lebenden Onkel Winston (ein Bruder ihrer Mutter), weil sie den falschen Mann liebte. 

Dreh- und Angelpunkt sind vor allem drei Figuren. Da ist Großmuttter Bee, die mit ihrem Mann Anton fünf Kinder hat und jetzt, sterbenskrank, von ihrer Enkelin Imker betreut wird. Sie wird als  "weiß" eingestuft und entstammt einer Familie verarmter Plantagenbesitzer und Sklavenhalter. Verheiratet wurde sie mit einem schwarzen Sklaven, ihre Kinder waren auf der rassistisch geprägten Farbskala als „gebrochen-weiß“ eingestuft. Dieser Terminus galt für alle Menschen, die aus Verbindungen zwischen „Sklavenhaltern und Sklaven“ hervorgehen und betraf also eigentlich alle in dieser großen weitverzweigten Familie. 

Eines ihrer Kinder ist Mutter Louise, die vier Kinder von verschiedenen Männern hat, als Lehrerin arbeitet und tapfer versucht, ihren Töchtern beizubringen, auf materiell eigenen Füßen zu stehen. Eine von ihnen ist Heli, die sich aber verstoßen fühlt und um das Gefühl von Zugehörigkeit ringend dennoch versucht, ihren Weg in der Fremde zu finden und das Bildungsangebot für sich zu nutzen, indem sie dort studiert. 

Daneben gibt es auch die Schwestern von Heli, die bedingt durch die unterschiedlichen Väter auch unterschiedlich materiell versorgt sind. Während Bruder Audi auf eine staatliche Schule geht, wird zum Beispiel Babs von einem Chauffeur in eine private Schule gefahren. Ein einziges Chaos, das sich in allen Einzelschicksalen abbildet, in dem sich aber auch die Leser*innen verirren können, weil sich der ganze Roman voreiligen Zuordnungen und Interpretationen immer wieder entzieht. 

So geht es auch in der Familie von Oma Bee turbulent zu. Laural, die Schwester von Mutter Louise, dämmert in einer Einrichtung vor sich hin. Ein Holländer mit blauen Augen hatte ihr die Ehe versprochen und sich dann aus dem Staub gemacht. Zuvor war sie eine engagierte, beliebte Lehrerin gewesen, jetzt muss sie um Erlaubnis bitten, wenn sie ihre Mutter besuchen will, die vermutlich nicht mehr lange leben wird. Überhaupt löst der nahende Tod dieses Gravitationszentrums, das die Großmutter bildet, eine Dynamik in dem komplizierten Gefüge der Familie Vanta aus, welche die Handlung dieses Romans entscheidend vorantreibt. 

Dies alles sind nur Schlaglichter auf die miteinander verwobenen Schicksale, die uns vom Chor der unterschiedlichen Erzählstimmen nahegebracht werden, wobei allen Frauenfiguren gemeinsam ist, dass sie ständig von Männern bedrängt werden und in Folge damit beschäftigt sind, den Kopf über Wasser zu halten und sich dabei Lust und Lebensfreude nicht nehmen zu lassen. Sie haben es alle nicht leicht, auch nicht miteinander, aber bei so viel prallem Leben entsteht schon durch die Reibung auch Wärme und gegenseitige Fürsorge. 

Die Hintergründe für dieses Setting – ein von 1667 bis 1975 kolonisiertes tropisches Land, in dem sich nicht nur Niederländer, sondern auch Javaner, Hindustani und andere tummeln – werden an keiner Stelle auserzählt, sondern bilden sich ab in den verworrenen Lebensläufen. Immer wieder spielt der alltägliche Rassismus, der sich am Grad der Hell- oder Dunkelhäutigkeit der Protagonist*innen ablesen läßt, eine Rolle, die auch ihren Figuren einiges abverlangt. Niemand ist hier nur schwarz oder weiß, auch nicht im Verhalten. Diese Lebensläufe sind gebrochen, die Hautfarbe der Protagonist*innen nicht zufällig gebrochen-weiß. 

Diese lebenskluge Autorin tut sehr gut daran, auf jede Programmatik in diesem großartigen Roman zu verzichten. Hier wird nichts postuliert, das ist kein Aufruf zu weiblichem Empowerment, eingebettet in postkolonialen Aufklärungs-Geschichtsunterricht, auch wenn die Historie der Familie von Oma Bee aufgefächert wird und bis ins Jahr 1900 zurückreicht. Wir Leser*innen sind vielmehr eingeladen, uns in den „Dschungel“ der Familie Vanta zu begeben, ohne den Anspruch alles durchdringen oder gar bis ins Letzte verstehen zu wollen, uns vielmehr einzulassen und mitnehmen zu lassen von einem Sog, zu dem auch der besondere Rhythmus beiträgt, mit dem die Übersetzerin der eigenwilligen Syntax der Autorin folgt. Ein Roman, der nicht zuletzt durch die sehr sinnliche Sprache alle Konventionen sprengt und uns gerade deshalb, so paradox es klingen mag, so sehr zu bewegen vermag. 

 

Die Rezension erschien zuerst in der Virginia 1/2024

Astrid H. Roemer
Gebrochen-Weiß
Roman
Aus dem Niederländischen
und mit einem Nachwort von
Bettina Bach
416 Seiten
Residenzverlag 2023

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Erstellungsdatum: 02.07.2025