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Interview mit dem Expertensystem Fiktive Geschichtsrückblicke (EFG)

So wird es gewesen sein

Rolf Schönlau


Pesttafel Augsburg. wikimedia commons

1348 erzählen sich in einem Landhaus, in dem heute eine Filiale des Europäischen Hochschulinstituts Sitz hat, sieben Frauen und drei junge Männer zum Teil recht „anzügliche“ Geschichten, die heute noch gelesen werden: Boccaccios „Decamerone“ entstand, weil in Florenz die schwarze Pest ausgebrochen war, die nicht nur die italienische Politik veränderte. Nach der Belastbarkeit solcher Geschichtsthesen über pandemiebedingte Wirtschafts- und Politikveränderungen befragte Rolf Schönlau sein eigenes Expertensystem.

 

Rolf Schönlau: Was der Politologe Jan Vogler im Interview in der FAZ vom 22. Juni 2020 als „eine beißende Ironie der Geschichte“ in den Raum stellte, ist eingetreten. Asien, das im Gefolge der Pest zwischen 1347 und 1351 von Europa als Zentrum der Weltwirtschaft abgelöst wurde, hat im Pandemium seinen Spitzenplatz zurückerobert. 

EFG: Die Prognose war richtig. Dass im Verlauf dieses historischen Prozesses auch zyklische Geschichtsbilder wieder aufgewärmt wurden und Oswald Spengler eine Renaissance erlebte, war zu erwarten. Aber natürlich verläuft die Geschichte nicht in Zyklen. Welche Weltregion Asien wieder ablösen wird, hängt von vielen Faktoren ab – am allerwenigsten von der Geographie.                                                                                         

Eine Anspielung auf die sogenannte Westwanderung der Weltwirtschaft. 

Ja, eine krude Theorie, nach der sich die ökonomische Entwicklung schrittweise um den Globus bewegen soll, also in der Frühen Neuzeit von Asien nach Europa mit den Stationen Italien, Spanien und Frankreich, im 19. Jahrhundert von dort nach England, im 20. Jahrhundert weiter nach Nordamerika und im 21. Jahrhundert wieder nach Asien. Wie gesagt, es verwundert nicht, dass abgehängte Weltregionen für derartiges Wunschdenken anfällig sind. Man könnte meinen, die früher vor allem im Osten verbreitete Vorstellung, alles wiederhole sich auf einer Kreisbahn, sei vollends im Westen gelandet – als Kompensation, versteht sich, für die realen Verluste.

Stichwort Kompensation. Wie muss man sich vorstellen, wurde mit den Verlierern des Pandemiums verfahren? 

Das Heer an Redundanten –

Redundanten?

Ja, man übernahm das englische to make redundant als makellose Umschreibung für den Sachverhalt der Entlassung sogar ins Chinesische. Also, das Heer an Redundanten wuchs gleich in der Corona-Phase des Pandemiums stark an. Home-Office, Home-Schooling, Online-Meeting usw. stellten nur eine Ausweitung der disruptiven Prozesse dar, mit denen nun auch der Verwaltungs-, Bildungs- und Konferenzmarkt umgekrempelt wurde. Die Redundanten tummelten sich als semi-selbstständige Klick-Arbeiter oder Crowd-Worker auf entsprechenden Plattformen, übernahmen Zustelldienste und andere subalterne Tätigkeiten.

Musste das nicht zu Aufständen und Revolten führen? 

Nein, in der herrschenden Begriffswelt war „Revolution“ vollständig durch „Disruption“ ersetzt worden.

Prä-pandemisch die Lieblingsvokabel der Startup-Szene. 

Ja, der Begriff hat eine beispiellose Karriere gemacht. Man wird sich die Geschichte als eine Kette von Disruptionen vorstellen müssen, Katastrophen als sinnstiftende Events. „Krise als Chance“ ist das zeitgenössische Pendant zu „Plus ultra“, dem Motto der Habsburger.

Sprechen wir über den Hack, die Klima-Disruption dank Corona im Pandemium aufgehen zu lassen.

Das war in der Tat ein Geniestreich, an dem paradoxerweise Politiker aus dem ausgebooteten Westen entscheidenden Anteil hatten. Nutznießer war bekanntermaßen der Osten, namentlich China. Wobei es auch Gewinner auf Seiten der globalen Verlierer gab. Man darf sich solche geopolitischen Verschiebungen nicht absolut vorstellen. Eine differenzierte Betrachtung führt zu dem Ergebnis, dass in Regionen, die wenig betroffen waren von den Auswirkungen der Pandemien, die Disruptionen zur politischen Stabilisierung beitrugen. Die Hauptbetroffenen dagegen kamen in so bedrohliche Schieflagen, dass das Gros der Bevölkerung redundant wurde.

Das entspricht den Auswirkungen der Pest 1347 bis 1351. Jan Vogler fand heraus, dass noch im deutschen Kaiserreich, also mehr 500 Jahre später, konservative Parteien in Gebieten mit schwachen Pestausbrüchen stark vertreten waren, und umgekehrt. 

Nun, auch wenn wir noch nicht das Jahr 2500 schreiben, wird man eine Tendenz zu beobachten haben, die in dieselbe Richtung weist. Allerdings unter dem Vorbehalt, dass das Begriffspaar konservativ/fortschrittlich schon vor dem Pandemium als Marker für politische Einstellungen nicht mehr tauglich war.

 

 

Die Fragen stellte Rolf Schönlau, der auch die Antworten besorgte.

Link zur Studie von Gingerich/Vogler: https://papers.ssrn.com

Erstellungsdatum: 25.11.2024