Der Schriftsteller Jamal Tuschick schildert die Geschichte der Sozialdemokratie und der Linken in der Bundesrepublik Deutschland ab den 1960er Jahren. Was Tuschick hier unternimmt, ist die Vergegenwärtigung eines Zeitbewusstseins, das sich nach dieser Zeit in Stich- und Schlagworten verloren hat. TEXTOR veröffentlicht Jamal Tuschicks „Sozialdemokratische Sonnenverehrung“ als Fortsetzungsroman in loser Folge. Dies ist der 3. Teil.
Alberto kam aus Mailand, arbeitete bei VW und hob Gewichte beim KSV Hessen. Er hatte das, was mein Vater „eine gesunde Einstellung“ nannte. Alberto integrierte nicht sich, sondern uns mit überlegener Lebensart und universellem handwerklichen Geschick. Er war ein Geschenk des Himmels in der Ära der Umzüge aus den Mietwohnungen der Siedlung in die Reihenhäuser am neusten Dorfrand. Mit jedem bebautem Acker näherte sich das Dorf der Autobahn. Redete schon jemand über Schadstoffausstoß und Lärmschutz? Ich weiß es nicht mehr.
Migration war kein Thema. Stattdessen drehte sich viel um Terrorismus und Inflation. Auch der Kalte Krieg, der jederzeit heiß werden konnte, stand zur Debatte. Uns („der unbelehrbaren Menschheit“) blühte der Atomkrieg. Dazu kamen erste Pläne für eine Bundesgartenschau direkt vor der Haustür des Dorfes.
Ich springe in das Jahr 1977. Den Kreis der Unentwegten erweiterten zwei Lehrer, ein angehender Sozialarbeiter und ein Künstler. Ich nenne den Künstler Paul. Er hatte eine schöne Frau. Ihr gefiel die Siedlung. Das war eine neue Perspektive. Das Paar wohnte in dem halben Hochhaus an der Waldemar Straße, Paul malte seine eigene Tapete auf Raufaser. Ich konnte einfach vorbeikommen. Paul bot Bier an, seine Frau lächelte. Alles war easy. Auch so konnte man leben. Wer hätte das gedacht.
Ich beobachtete die ersten Anzeichen kultureller Heterogenität als Signale einer Aufwertung meines Territoriums. Andere hörten die Signale der Verdrängung. Ihre Intoleranz verwies auf ein körperliches Versagen. Sie entwickelten eine soziale Intoleranz auf biologischer Basis. Ihre Abwehr kam zu spät. Auf der Brache zwischen der Gesamtschule und Waldemar Straße entstand eine Siedlung in der Siedlung nach dem Matrjoschka Prinzip. „Wir“ hatten damit nichts zu tun. Es gab kein gewachsenes Wir vor Ort, in dem Neusiedler aufgegangen wären. Deren Raummarkierungen waren nach den Maßstäben der Altsiedler Dominanzerklärungen, die alles marginalisierten, was in der um 1960 entstandenen Hauptsiedlung einst Bedeutung gehabt hatte. Den Altsiedlern war es nicht gelungen, ein eigenes Kraftfeld zu erzeugen. Meine Eltern waren Dissidenten dieser Schwäche. Sie entzogen sich ihr an einen Rand, der nicht nur die Gemeinde vergrößerte, sondern auch deren soziales Spielfeld. Sie waren Pioniere. Einem neuen Gebiet erschlossen sie den Zuzug. Andere Familien, die den Entwicklungsschritt mitvollzogen, bauten außerhalb der Stadt auf weitläufigen Arealen wesentlich großzügiger als meine Eltern. Meine Eltern dachten an ihre Zukunft als altes Ehepaar mit idealer Verkehrsanbindung und dem Supermarkt vor der Haustür. Ihre Erwartungen folgten der sozialdemokratischen Machbarkeitslogik.
Als Besitzer auf dem Weg zu bescheidenem Eigentum rückten meine Eltern nicht nur räumlich ans Dorf. Es ergab sich ein neues Zugehörigkeitsparadigma, bei dem die potenten Aspekte der Siedlung dem Dorf zufielen. Ich glaube, der stärkste Motor solcher Verschiebungen ergibt sich konkret aus dem Entspannungsgrad, mit dem jemand seinen Alltag bewältigt. Die Sieger sind keine Überflieger. Sie verhalten sich wie Autofahrer, die immer auf der mittleren Spur bleiben.
In der erotischen Nachwuchsarena trennte sich die Spreu vom Weizen sofort. Die Schönsten und Besten bildeten die attraktivsten Paare. Dahinter stellten wir uns an, vereint im „Wir“ der Unzulänglichen. Jeder kriegte seine Portion auf den Teller geknallt. Ich wurde von einer angehenden Sozialarbeiterin, die im Rahmen der Schulsozialarbeit zur Hausaufgabenbetreuung bestellt war, aus dem Wettbewerb genommen. Maria kam aus einer Familie, die seit Friedrich II. Staatsaufgaben erledigte. Maria lehnte ihr preußisches Erbe ab. Sie hielt auch nichts von Hausaufgaben. Stattdessen spielte sie mit Schülern Flaschendrehen. Sie war mit dem sorglosesten Vergnügen an der Verletzung ihrer Pflichten beteiligt. Ihre Handlungen hielt sie für subversiv. Sie verknallte sich ein bisschen in mich, gerade genug, um mir Hoffnungen – und mich gleich nach meiner Initiation rasend vor Eifersucht zu machen, wenn sie vor meinen Augen einen Kommilitonen küsste, der die Schulsozialarbeit genauso ernst nahm wie sie. Mit dem denkbar geringsten Einsatz trug Maria mehr zu meinem Klassenbewusstsein bei als alle anderen Erfahrungsspenderinnen. Mit der Lässigkeit der herrschenden Klasse wilderte Maria gewisse Aspekte ihrer Persönlichkeit da aus, wo sie sich vor Zeugen sicher wähnte.
Den Einmarsch zaristischer Infanterie in ein deutsches Dorf beschreibt Solschenizyn als Triumphzug der Verwunderung. Man findet ein Fahrrad, und ein ganzes Bataillon staunt „das Wunderding“ an. Gemauerte Ställe und betonierte Brunnen erregen die Gemüter uniformierter Bauern. Nichts fliegt herum. Alles ist in Ordnung. Es gibt sogar elektrische Straßenbeleuchtung.
„Wie bringen die Deutschen es fertig, ihre Wirtschaft so zu besorgen, dass keine Spuren von Arbeit zu sehen sind?“
Die fast tödlich Ermatteten haben Polen zu Fuß durchquert, „dort ließ man die Zügel schleifen, aber hinter der deutschen Grenze war alles wie verwandelt“.
Die Marschierer pendeln zwischen Ehrfurcht und Grauen durch Ostpreußen. Ihr Verdruss ist ein Fass ohne Boden. Vor der schlurfenden Invasion zieht sich die Bevölkerung wie an einem Band zurück. Die ersten, die glauben, sich zeigen zu dürfen, werden wie Spione behandelt. Für eine genauere Untersuchung fehlt die Kraft.
Ausgehobene verfluchen die ehrgeizigen Kosaken. Die Kavallerie erschöpft nichts. Ständig provoziert sie Scharmützel.
Jeder geschotterte Weg ist eine Chaussee.
Die Gegend ändert sich bis nur noch Wald die Wege säumt. Unbekanntes Gelände ist eine Sache, in einem fremden Wald kämpfen zu müssen, eine andere. Die Fußkranken fürchten das Varus-Schicksal, ohne es zu kennen. Sie erwartet die Niederlage von Allenstein, die als „Schlacht bei Tannenberg“ historisch wurde. Die Falschbenennung sollte eine deutsche Niederlage des 15. Jahrhunderts tünchen, die dem polnischen und litauischen Nationalstolz Nahrung gab.
Das erklärte uns Gernhardt, ich weiß den Vornamen nicht mehr, an einem Samstagvormittag im Herbst 1978 in der Tagungsstätte auf dem Hohen Dörnberg. Der Referent suchte das Interesse seines Publikums an der falschen Stelle. Die Jungsozialisten wollten siegreiche Russen. Gernhardts Versuch, uns mit dem Sujet der verlorenen Siege vertraut zu machen, scheiterte an der Zuversicht jugendlicher Genossen, die von der Unumkehrbarkeit des Geschichtsverlaufs zu Gunsten ihrer Ideale überzeugt waren.
Wer die Deutungsmacht besitzt, stellt die Weichen. Das war Gernhardts Lektion. Der deutschen Generalität gelang es mit einem Propagandacoup den polnisch-litauischen Sieg von 1410 in den Schatten zu stellen. Es folgte eine effektive Deklassierung Polens als Pappkameraden zwischen Deutsch- und Russland.
Gernhardt gehörte zu der Generation, für die der Marsch durch die Institutionen (lange vor den Achtundsechzigern) so selbstverständlich war, dass sie davon keinen Begriff entwickelt hatten. Nun sahen sie sich mit einer Entwicklung konfrontiert, die in Subkulturen und auf Außenbahnen führte. Aussteiger*innen verzichteten freiwillig auf gesellschaftliche Teilhabe. Sie schlossen sich selbst aus, wie zum Hohn jener Ohnmächtigen vergangener Tage, deren Nachkommen wir waren.
Sektierer waren Verlierer. Sie arbeiteten der Reaktion in die Hände. Darin sah Gernhardt (so wie mein Vater) die größte Gefahr. Mein Vater predigte die Politik des kleineren Übels. Der Nachwuchs sah die Welt mit anderen Augen. Es durfte nicht sein, dass wir nur mit einem Kanzler regieren konnten, von dem es hieß, er sei in der falschen Partei. Schmidts schneidige Art und sein Genossen-Sie wirkten auf viele Jungsozialisten abstoßend. Der hochmütige Auftritt sicherte ihm mehr Akzeptanz auf der Gegenseite (und heizte Prozesse an, die zur Gründung der Grünen führten).
Was haben wir von der Macht, wenn wir keine sozialdemokratische Politik machen können, ohne den Kanzler zu verlieren. Das fragten sich Leute, die sich Sozialisten nannten und die Mutterpartei hart angingen.
Noch war die Bombe des Tages nicht geplatzt. Keine Tagung ohne Tränen.
Es war die hohe Zeit der Strickerinnen und der passiv aggressiven Abwehr. Alle hatten das Gefühl, sich zu wenig zu engagieren. Im Iran, in Afghanistan und in Nicaragua standen die Zeichen auf Revolution. Bei uns tat sich nichts. Nachmittags widmete sich Madeleine Wieland der Frau im Sozialismus. Der Veranstaltungstitel zitierte ungenau August Bebels theoretischen Vorstoß „Die Frau und der Sozialismus“. Außer Madeleine und mir hatte das Buch keiner gelesen.
So knackig beginnt Bebels hunderttausend Auflagen starkes Grundlagenwerk „Die Frau und der Sozialismus“.
Bebel untersucht das Wesen und die Ursachen der Unterdrückung. Er erklärt, dass „naturgemäß“ erscheint, was „immer schon so war“. Er räumt mit dem Aberglauben von den ewigen Werten auf.
„Ewig ist nur der Wechsel.“
Er erkennt: Sitte kommt aus den sozialen Bedürfnissen einer Gesellschaft. (Nicht aus göttlichen Verordnungen.)
Bebel interessiert zunächst die „Stellung der Frau in der Urgesellschaft“. Die Frau rangiert unter dem Arbeiter. „Sie ist das erste Wesen, das in Knechtschaft kam. Die Frau wurde Sklavin, ehe der Sklave existierte.“
Bebel übernimmt eine dreistufige Unterscheidung. Die Wildheit spricht er als Kindheit der Menschheit an. Einen Begriff von ihrer Verfassung geben ihm ethnologische Studien. Er skizziert in kolonialen Kategorien „rückständige Familien- und Verwandtschaftssysteme, die von unseren grundverschieden sind“. Dem Autor kommt es darauf an, seinen Lesern klarzumachen, dass ihre Lebensbegriffe vielmehr aus der Kultur als aus der Natur geschöpft sind. Er sucht Wege zu mutterrechtlichen Organisationen, um einen angenommenen „Urzustand“ von allen Kontaminationen des Jetzt befreit schildern zu können.
„Unter dem Mutterrecht herrschte im Allgemeinen ein Zustand verhältnismäßigen Friedens.“
Bebel weist auf Fehler in der Bibel hin. Er fragt: Wo hat Kain das Weib her, das ihm einen Sohn gebar. Er gelangt vom Inzest über die Promiskuität in endogamen Urzeithorden zu Blutverwandtschaftsfamilien.
Schließlich muss der Pool erstmal gefüllt werden, bevor Differenz bis zum Dissens ausgebildet werden kann.
Bebels Emanzipationsvorleistungen binden sich an den europäischen Kulturkreis. Die höchste Kulturstufe erscheint in diesem Kontext als Voraussetzung dafür, die (Frauen nicht „zur Haushüterin degradierende“) Ur-Form des Zusammenlebens im Sozialismus zu reaktivieren.
Bebel erkannte die geringsten Unterschiede zwischen Mann und Frau in archaischen Gemeinschaften kleinerer, leichterer und dümmerer Menschen im Vergleich zu den Zivilisierten, denen der Autor sich mitteilte. Er geht so weit, es in diesem Zusammenhang bemerkenswert zu finden, dass auch bei den Russen „was Körperlänge anbetrifft, kein so großer Unterschied zwischen den Geschlechtern wie bei Engländern und Franzosen“ besteht. Ich sende der letzten Feststellung ein russisches Sprichwort zu: Der Deutsche kann nicht ohne Eisenbahn, aber der russische Adler schafft es auch zu Fuß.
Abends beschwerte sich Madeleine über meine Zurückhaltung. Ich hatte es vermieden, mit den richtigen Fragen und Einwürfen die Diskussion in Gang zu bringen. Das hatte sich Madeleine selbst zuzuschreiben. In einer Troika gemeinsamer Interessen und Idiotien war es Madeleine, Roland und mir zwei Jahre gelungen, unsere Freundschaft nicht der Liebe wegen aufs Spiel zu setzen. Nun hatten Madeleine und Roland fadenscheinig nicht die Freundschaft, wohl aber ihre Liebe zu etwas Unverbindlichem und Vorübergehendem erklärt. Schon bald wolle man wieder in das ursprüngliche Kerngehäuse der Vertraulichkeit zurückkehren; ich möge mich nur gedulden.
Ich empfand Madeleine und Roland als Abtrünnige, obwohl ich der Abgesprengte war. So bizarr funktioniert Wahrnehmung. Das muss ich ausbauen. Schon im Kindergarten war mir aufgefallen, dass es Prinzessinnen und Schleppenträgerinnen sowie Prinzen und Steigbügelhalter gibt. Nie stand außer Frage, dass ich kein Prinz war. Das wurde so deutlich angezeigt wie die Uhrzeit am Kirchturm. Ich strebte ohne Vorbildung in die Rolle des Beraters einer Prinzessin. Waren die Konstellationen fixiert, vergaßen alle die Bedingungen ihres Zustandekommens. Dann war man befreundet und hatte Rechte. Es musste einem zugehört werden. Man war in der elternhäuslichen Umgebung der Freundin (zumindest halbwegs) willkommen und genoss Anspruch auf einen Platz am Esstisch. Ich habe oft und mit gutem Appetit in der Gesellschaft unzufriedener Väter gegessen. Ihnen war ich nicht unterlegen. Sie waren schon dabei, Sediment zu werden.
Ich wusste nicht, ob Madeleine und Robert ihre Liebe oder unsere Freundschaft herunterspielten. Ich verstand nicht, wie sie nach all den Freundschaftsbeweisen im Nagelbett der körperlichen Nähe so heiß aufeinander sein konnten. Ich ignorierte meine eigene Strategie. Jeder Versuch einer körperlichen Annäherung hätte die Freundschaft zerlegt. Andererseits durfte ich nicht nur, sondern sollte sogar in der riskanten Zone Zelte der Zurückhaltung aufbauen. Genau wie Roland, nur anders.
…
Die erste Tagungskatastrophe begann mit einem Blechschaden; verursacht von einem Fahrer ohne Führerschein. Der widerrechtlich geführte VW-Variant gehörte dem Freund einer Tagungsteilnehmerin, die politisch nicht gebunden war. Nennt sie Silvia. Silvia hatte Jürgen ans Steuer gelassen. Sie war in Jürgen verliebt, aber mit Variant zusammen. Variant studierte Maschinenbau, verbrachte seine Freizeit in Kneipen und gehörte zu einer Horde Anti-Intellektueller, die mit ihrer Grobschlächtigkeit deutlich in Erscheinung trat. Das waren aus (selbst im Vergleich mit Kassel) kleinen, vor allem westfälischen und niedersächsischen Städten Zugezogene, ich denke gerade an Paderborn und Höxter. Sie kultivierten abseitige Vorlieben für lokale Bands, Bildgeschichten und Kreisligaereignisse. Einer besaß einen Schrebergarten, das war ein schräger Gipfel. Manche übten handwerkliche Berufe aus, unverbunden mit den Abitur-Gärtnern und -Schreinern, die das Programm der Grünen vorwegnehmend auf der Verzichtschiene unterwegs waren.
Kein Variant übte freiwillig Verzicht. Die meisten waren mit Anfang Zwanzig aufgeschwemmt und konditionsschwach und trotzdem von sich so eingenommen wie die Spitzenkräfte der Subkultur.
Zwischen Variant und Jürgen rumorte es gewaltig. Wie kam dieses Dreieck zustande? Wieso war Silvia mit Variant zusammen? Er hatte ihr das Auto, sie Jürgen das Steuer überlassen. Jürgen hatte den Volvo von Freimuts Vater auf dem Parkplatz der Tagungsstätte touchiert. Ein emotionaler Blowout trieb die Mannschaft und ihre Empfindungen ins Freie. Die vierzig Tagungsteilnehmer*innen schlugen sich wie ein Mann auf Jürgens Seite. Niemand warf ihm Leichtsinn vor. Keiner ließ sich über seine Fahrtüchtigkeit aus. Man verlangte von Freimut, bei der Schadensmeldung Silvia als Fahrerin anzugeben. Das Politische war privat, und Jürgen einer von uns.
Wir bemerkten den Wanderer erst, als er sagte: „Ich habe alles mitangesehen.“
Unter der Woche reichte die Katzenwäsche. Wasser war mit Vorsicht zu genießen, es tat der Haut nicht gut. Selbstgemachte Marmelade hatte einem besser zu schmecken als gekaufte. Die eingelagerten Äpfel und Kartoffeln schmeckten vor ihrer Neige im Frühjahr nach bitterer Not und ließen sich nur mit schwersten Ermahnungen und Hinweisen auf den konstitutiven Kohldampf der Kriegskindergeneration herunterwürgen.
Zu den Schlössern der Armut meiner Kindheit zählten die Vorfreuden auf den Urlaub. Sobald die Reise losging, schwand die Freude dahin. Alles wurde rationiert und portioniert. Ein Stück Schokolade musste man sich auf der Zunge zergehen lassen. Sie schmeckte nach mehr. Solche phonetischen Koinzidenzen mehr – Meer, Beeren – Bären beglückten meinen Vater.
Wir hatten alles dabei. Auch einen Campingkocher. Deshalb gab es halbrohen Blumenkohl statt Pizza. Es gab den Kohl nicht ohne den Zusatz gesund.
Im Auto gab es schon mal gar nichts.
Wir waren verwöhnt. So verwöhnt, dass ich mir von selbstverdientem Geld einen Lauterbacher Strolch Camembert kaufte, nur um einmal über den bloßen Hunger hinaus – das ist nur noch Appetit – Käse zu essen. Die selbstverständlich heimliche Zufuhr war ein Vertrauensbruch.
Dann kam die Freiheit der Jugend. Plötzlich war ich vorn mit dabei, wenn auch nur in Kassel, wo sich die Vergangenheit länger hielt als anderswo. Kassel war die letzte Stadt vor der Zonengrenze. Unsere Verwandten in Eisenach lebten in der Deutschen Demokratischen Republik. Die Verwandten der anderen lebten in der Ostzone.
Erstellungsdatum: 21.11.2024