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Fortsetzungsroman von Jamal Tuschick

Sozialdemokratische Sonnenverehrung

Jamal Tuschick


Der Schriftsteller Jamal Tuschick schildert die Geschichte der Sozialdemokratie und der Linken in der Bundesrepublik Deutschland ab den 1960er Jahren. Was Tuschick hier unternimmt, ist die Vergegenwärtigung eines Zeitbewusstseins, das sich nach dieser Zeit in Stich- und Schlagworten verloren hat. TEXTOR veröffentlicht Jamal Tuschicks „Sozialdemokratische Sonnenverehrung“ als Fortsetzungsroman in loser Folge. Dies ist der 1. Teil.

Nachrichten aus dem Bauch der alten SPD

 

Ein Ortsverein der SPD liefert der Geschichte das Zentrum. Im Bürgerhaus einer Siedlung, die ein tausend Jahre altes Straßendorf seit den frühen 1960er Jahren mit erheblichen Störungen der vertrauten Abläufe erweitert, kommen Arbeiter, Angestellte und Handwerker auch deshalb zusammen, um ihrem keineswegs selbstverständlichen sozialdemokratischen Selbstverständnis einen geselligen Rahmen zu geben. Sie tragen nach außen, was die meisten für sich behalten: ihre politischen Überzeugungen. Als Sohn des Ortsvereinsvorsitzenden erlebt der Erzähler eine waschechte sozialdemokratische Sozialisation in einem Klima hart geführter gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Nach dem Abitur leistet er Zivildienst bei der Arbeiterwohlfahrt in der Abteilung Essen auf Rädern. Erst jetzt hat er seine erste richtige Freundin, die Tochter der Nachfolgerin seines Vaters. Simone Schilling wurde in Berlin geboren und kam im Schlepptau der Mutter, die einen akademischen Ruf erhalten hatte, nach Kassel. Sie verliebte sich in die nordhessische Landschaft. Zwei Jahre lebt sie mit dem Erzähler in einem ehemaligen Jagdhaus der Försterei Fahrenbach im Kaufunger Wald. Nach der Trennung des Paars zieht der Erzähler nach Veckershagen auf das Gehöft der Familie Schäfer. Der letzte männliche Nachkomme musste in einer geschlossenen Psychiatrie untergebracht werden. Der Erzähler hat eine neue Freundin, Gerda aus Helsa. Sie spielt die Wäscheruffel in einer Southernrockband, die aus einer evangelischen Hausmusikgemeinschaft hervorgegangen ist. Der beste Freund des Erzählers ist Tille Freyschmidt, ein frei umherschweifender Regionalreporter. Auch der Erzähler blüht im Provinzjournalismus auf.

Der blaue Himmel über der Ruhr

 

Natürlich wussten auch unsere Genossen, dass „die historische Normalität des globalen Turbokapitalismus die Krise“ ist, und der Neoliberalismus, der damals noch anders hieß, „das Leben in eine Ware verwandelt“ (César Rendueles). Trotzdem durfte das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet werden.

In den Augen meines Vaters war der Kommunistische Bund Westdeutschland (KBW) „eine Modeerscheinung“. Eine leise Verachtung für „die Kommunisten spielenden Studenten“ sprach sich aus, wenn sich die Genossen des sozialdemokratischen Ortsvereins nach einer Sitzung noch zwischen Tür und Angel, das heißt zwischen den Klos im ersten Stock des Bürgerhauses, das Jahrzehnte als Volksschule gedient hatte und vom Mief der Katzenwäsche imprägniert war, und einem umgewidmeten Klassenzimmer, das einige aus der Kindheit kannten, auf einem hallenden Korridor mit quietschendem Linoleumboden, stets auf die gleiche Weise merkwürdig unterhielten. Heute weiß ich, worum es ging, darum nämlich, Traditionen nicht ins Sediment sinken zu lassen, sondern sie fleißig im Gedächtnis und folglich am Leben zu halten.

Wem was gehörte, war ein unerschöpfliches Thema. Allerdings erschöpfte sich das einschlägige Interesse im Dorf und in der dazugekommenen, auf Äckern, die „Länder“ genannt wurden, einst in Rekordzeit hochgezogenen Waschbetonsiedlung, in der nun auch individuell gestaltete, mit Spalieren in den Vorgärten bürgerlich erscheinenden Eigenheime bildbestimmend waren. Nach den Begriffen des Dorfes lange kennen konnte die Alte Schule nur, wer aus dem Dorf kam. Wer aber aus dem Dorf kam und trotzdem Genosse war, geisterte als Außenseiter herum. Ich erinnere zerschossene Typen, die im Sommer samstags in der Versehrtensportanlagen an der Fulda unter sich blieben. Das waren sie – Versehrte. Die Geschichtsvergessenheit der Bundesrepublik einschließlich der zügigen Wiederbewaffnung empfanden sie als persönliche Katastrophe.

Man war so schnell abgerückt von der Losung „Nie wieder Krieg“.

Die Dorfgenossen bildeten eine verschwindende Minderheit unter reaktionären so wie politisch gleichgültigen Verkehrsteilnehmern, die alle CDU wählten und ihren eigenen Chieftain hatten, dessen Stellvertreter der Vater meines Pfadfinderführers war.

Die Dorfgeschichte ließ sich tausend Jahre zurückverfolgen. Gesellschaften eines ursprünglich sächsischen, dann fränkischen Hofes, nutzten es als Etappenziel auf ihren Jagdausflügen. Den Hunden der Herrschaften wurde der Marsch geblasen. Wohnte ein Fürst der Andacht bei, durften sein tierisches Gefolge mit in die Dorfkirche.  

Einige Familien waren seit dem 18. Jahrhundert im Dorf ansässig. Es gab drei Großbauernhöfe, die nie aus der Hand einer Familie gegeben worden waren.

Bilderbuchkarrieren führten von den Christlichen Pfadfindern über den Fuß- und Handballverein sowie die Freiwillige Feuerwehr in die CDU. Kommunisten waren überhaupt nicht vorgesehen, obwohl sich alte Genossen noch an richtige Kommunisten erinnern konnten, die sie in den 1950er Jahren mit dem Ruf begrüßt hatten:

„Wer hat uns verraten: Sozialdemokraten.“

Die SPD meiner Kindheit war ein Relikt aus der Zeit vor dem Godesberger Programm. Sie bestand tatsächlich aus Arbeitern. Kein Lehrer, kein Arzt, kein Anwalt gehörte dazu. Nach oben aus riss allein der Unternehmer Brinkmann, der nach dem Supermarktleiter Wagner mein zweiter Arbeitgeber wurde. Ich grub seine Beete um und zog einen Versorgungsgraben von der Waldemar Straße bis zu seinem Haus. Schließlich legte ich den feuchten Frontsockel frei und verlegte eine Drainage. Da war ich vierzehn und stolz auf meine Schwielen. Meine Einnahmen und Ausgaben musste ich vor meinem Vater schriftlich verantworten. Das wurde abgezeichnet.

Gern beobachteten mich Schauspieler vom KBW („Kommunistendarsteller“) bei der Arbeit. Sie agitierten hämisch über den Zaun, zwei, drei Unentwegte, die im Selbstermächtigungswahn Delikte im Spektrum der Beklopptenkriminalität verwirkten. Ich sagte gegen sie vor Gericht aus. Da waren sie kleinlaut und hofften, mit einem blauen Auge davonzukommen. Ich traf sie wieder und wieder in Kneipen, auf Konzerten. Sie lösten sich ohne Veteranenstatus in der Normalität auf; während mein Vater zumindest in der Nachbarschaft legendär blieb. Der eiserne Fritz hatte allen die Stirn geboten, mit nicht mehr Rüstzeug als Sinn für und Freude am Mittelmaß.

Mittelmaß bedeutete keineswegs mittelmäßig. Das Machbare war die heilige Kuh der SPD. Machbar war der Umzug aus dem Waschbeton in den Fertigbau. Fertigbauhäuser waren der letzte Schrei und wurden von Hilfsarbeitern binnen vierundzwanzig Stunden bezugsfertig gekloppt. Gestern noch Mieter, heute schon Hausbesitzer auf dem Weg zum Eigentum. Das war machbar, angesichts „der atomaren Bedrohung“, die für Endzeitstimmung sorgte. Die Rote Armee stand vor der Tür in Thüringen, und der Amerikaner wollte auf deutschem Boden gucken, was nukleartechnisch in der Vorhölle des Kollektivselbstmords möglich war. Schon Franz Josef Strauß hatte als Verteidigungsminister Mittel aus dem Giftschrank der Menschheit geordert, ungefähr zu der Zeit, als Willy Brandt den „blauen Himmel über der Ruhr“ forderte und einer meiner Onkel Audi-NSU fuhr. Das war ein großer Fortschritt zum Messerschmitt-Kabinenroller; zugleich eine Winzigkeit im Vergleich mit den Straßenkreuzern der Amerikaner, die unsere Freunde waren, auch wenn ihre Chefs ständig darüber nachdachten, wie sie uns als Nuklearkaninchen experimentell nutzen konnten.

Es ging um den begrenzten Atomschlag.

Antimilitärische Psychose

 

So kriegsmüde, wie Deutschland nach 1945 oft hingestellt wurde, war das Land nicht. Die Idee, man könne dem Russen verlorenes Territorium gleich wieder abjagen, fand gefiltert von Sprachregelungen großzirkulare Zustimmung. Man unterstellte der Sowjetunion einen nuklearen Angriffswillen, bevor die UDSSR über Atomwaffen verfügte. Das Gleichgewicht des Schreckens wurde erst 1949 hergestellt. Szenarien nahmen den Schrecken vorweg - mit aufgerückten Grenzen. Der Russe stand vor der Tür. Die Front war bequem zu erreichen. Die Amerikaner im Gefolge von John Foster Dulles und Dwight David Eisenhower wünschten sich die deutsche Auxiliartruppe als Panzerarmee mit einer Mannschaftsstärke von 500.000 Mann. Daran scheiterte zunächst der „Beauftragte des Bundeskanzlers für die mit der Vermehrung der alliierten Truppen zusammenhängenden Fragen“. Um den Protest im Lager der Wiederbewaffnungsgegner zu schwächen, hatte Adenauer den Posten zur Bürde eines (christlichen) Gewerkschaftsführers gemacht. Der Mann hieß Theodor Blank und nach ihm hieß ein Amt, das ab 1950 die Bundeswehr etablierte. Zu spät griff man auf Vergleichszahlen der nationalsozialistischen Aufrüstung zurück. Erst Strauß will die gute Idee gehabt haben, bei Hitler nachzuschlagen. Den Deutschen attestierte Strauß, der gern erster Verteidigungsminister der Bundesrepublik geworden wäre, eine „antimilitärische Psychose“. In seinen Erinnerungen geht das so über Stock und Stein. Man müsse dem empfindsamen Volk die bittere Medizin in kleinen Schlucken einflößen. Strauß spricht mit Adenauer über blanke Konfusion, der Chef wittert eine Intrige und ruft über den Zaun seinen Staatssekretär Globke herbei. Da rollte der Zug schon. Fünf Jahre zuvor hatte Adenauer Offiziere zur Klausur in ein Kloster geschickt. Sie sollten ergründen, was Westdeutschland zur Verteidigung Westeuropas beitragen könne. So entstand die „Himmeroder Denkschrift“ auch mit Beteiligung von Johann Adolf Graf von Kielmansegg, der eine Paradelaufbahn von der Reichs- zur Bundeswehr absolvierte. Adenauers Gewährsmann war Graf Schwerin, nach dem die Vorläuferbehörde des Amts Blank benannt worden war. Schwerin diente dem Bundeskanzler als „Berater für Militär- und Sicherheitsfragen“. Die militärischen Absichten verdeckte das Wort „Bundesgendarmerie“. Wie gesagt, die Amerikaner drängten Besiegte in die Rolle von Verbündeten angesichts eines weltweiten Notstands der Freiheit. Ich setze das nicht alles in Anführungszeichen, jedenfalls gab es 1950 schon (wieder) eine kriegerische Verpflichtung gegenüber Europa. Man lernt, wie wirkungslos der plebiszitäre Pazifismus in einer Auseinandersetzung nicht zuletzt mit Dienststellen war. Die Herrschaften unterschieden zwischen Militarismus und wahrem Soldatentum. Sie sensibilisierten sich für die Härten im Kampf Deutscher gegen Deutsche und kultivierten die Vermeidungsfloskel vom deutschen Kontingent, das im transatlantischen Gefüge wie eine gute Dienststelle funktionieren sollte. Sie planten Krieg als Fortsetzung des Verwaltungsaktes mit anderen Mitteln.

„Der Strahlenkrieg“, so unvermeidlich er schien, fand dann doch nicht statt. Stattdessen löste sich die örtliche SPD auf und diffundierte zwischen Dorf und Siedlung in der Anpassung an eine neue Zeit. Die Vermögensumverteilung hatte so weit stattgefunden. Die Bildungsreform griff. Wer zu blöd war, dem konnte auch die Genossen nicht helfen. Die klügsten Köpfe verschworen sich im Ringverein der Windsurfer. Ihr Zauberwort hieß „Lebensqualität“. Nun ging es um Gleitzeit und Teilzeit und karibische Urlaubsziele. Aber das waren keine geborenen Mittelständler, die ihre Surfbretter auf den Dächern großer Audis transportierten und Langstreckenflüge aus eigenem Erleben kannten. Das waren Männer, die mit vierzehn in die Lehre gekommen waren und sich sonst wie oder eben auf dem zweiten Bildungsweg flottgemacht hatten. Der zweite Bildungsweg war die Bildungsreform vor der Friedeburg’schen Bildungsreform.

Die Vitalen im Ortsverein bauten sich in einer Kooperation mit der DLRG ein Vereinsheim. Die Buchstabenfolge DLRG garantierte wie ADAC, HB und BMW die Vernunft in allen Dingen.

Viele waren rundum Allianz versichert.

Die Gewissheiten meines Vaters ergaben sich aus proletarischen und halbproletarischen Traditionen und einer politischen Sozialisation der Lehrlinge im Haus der Jugend an der Damaschkebrücke. Daher rührten der Text und die Ästhetik. Rudi Arndt und Holger Börner verkörperten den sozialdemokratischen Stil der Betonfraktion. Diese Männer flößten meinem Vater Vertrauen ein. Der Aufstieg der Grünen, ihrer Akteure und ihrer Ästhetik, trennten meinen Vater von der Politik. Das war nicht mehr seine Welt. Die Schröder-SPD zeigte später sehr deutlich, wie vorausschauend mein Vater gehandelt hat. Mit dem Genossen der Bosse hatte er nichts gemeinsam. Schröders Interpretation eines Sozialdemokraten verhöhnte die alten SPDler.

Der wohlwollende Staat 

 

„In den 1970er Jahren“, so Wolfgang Streeck, „ging das Kapital der wiederaufgebauten Industriegesellschaften daran, sich aus der nationalen Nutztierhaltung herauszuarbeiten.“ Da endete die soziale Marktwirtschaft, auch wenn sie noch Jahrzehnte später beschworen wurde.

„Der Neoliberalismus kam mit der Globalisierung“, sagt Streeck. In den 1970er Jahren war Globalisierung noch ein seltenes Fremdwort. Weitsichtige Genossen warnten vor der Rückkehr des Manchesterkapitalismus. Kein Genosse versprach sich von Öffnungen etwas Gutes. Die von meinem Vater geführten Siedlungs- und Dorfsozialdemokraten waren Fetischisten „gewachsener Verhältnisse“ in einer Welt mit autofreien Sonntagen und Vollbeschäftigung. Mein Sinnbild dieser Ordnungskategorie war der Kleingarten in seiner Kolonie. Die Kolonisten hatten Kaninchen gezüchtet und miniaturisierte Landwirtschaft betrieben, solange die Hungersnot groß gewesen war. Manche hatten in ihren Gärten verbotenerweise auch der Wohnungsnot getrotzt.

In der Machtmühle

 

Nun kaufte man alles billig beim Konsum und konnte sich in seinem Garten der Zierde widmen. Mein Gewährsmann für diesen Kosmos war Onkel Willi. Der Polsterer arbeitete im Staatstheater und hatte den Krieg noch in den Knochen. Willi war nicht evakuiert worden, wie die anderen Kinder in seiner Straße. „Die (in drei Nächten aufeinanderfolgenden) großen Angriffe“, auch das eine stehende Wendung, hatte er im Rübenkeller einer „Pappschachtel“ - so nannte man Mitte der 1930er Jahre in den Zuchthausschatten gestellte Zweifamilienhäuser; in den möbliert vermieteten Mansarden wohnten Junggesellen, die oft auch Handwerksgesellen waren; die Häuser sahen in ihren schnurgeraden Reihen so aus, als könnte ein Wind sie wegtragen - schwer traumatisiert überlebt. Es gab keine psychoanalytische Aufhellung des Grauens. Niemand wusste, was ein Trauma war. Was blieb, war das Ressentiment. Es wurde eingehegt von den Gewerkschaftsschulungen im Haus der Jugend und den parteipolitischen Ansagen in der Löwengrube. Hätten in Willis Umgebung nicht Sozialdemokraten mit der Faust in der Tasche das Dritte Reich überstanden, um gleich danach, noch im Geist des Sozialismus, den Arbeiterkampf wieder aufzunehmen, wäre Willi kein Linker geworden. Seine politische Sozialisation war reine Anpassung an die Verhältnisse gewesen. Dieser nie begriffene Opportunismus hatte eine interessante Spaltung hervorgebracht. Willi sprach wie ein „ewig Gestriger“ und fand lebhafte Zustimmung bei politisch ungebundenen oder offensiv reaktionären Kolonisten. Er nahm „kein Blatt vor den Mund“. Da er aber Genosse - und der Schauplatz seiner Kindheit ein sozialdemokratischer Hort gewesen war, der ihm das beste Leumundszeugnis ausstellte, erfuhren seine Regressionen eine Metamorphose in der Rezeption.

„Der Willi meint das nicht so.“

Auch kluge Leute versicherten sich gegen das Verstehen. Anders gesagt, es war wichtiger, einer von uns zu sein, als klar in der Birne. Wenn „unsere“ Genossen soffen, tranken sie gern mal einen. Soffen die anderen waren es Säufer. In diesem Karree freiwilliger und unfreiwilliger Selbstbeschränkungen war „ein Blick über den Tellerrand“ ausgeschlossen.

Die Genossen rechneten mit einem wohlwollenden Staat, der sich seine Steuerungsmöglichkeiten zu ihren Gunsten nicht nehmen ließ. Die Kapitulation des Staates vor dem Kapital vollzog sich zwar öffentlich, wurde aber so abgehandelt wie Willis Ausfälle. Der Staat war nämlich auch einer von uns. Die SPD steckte in der Machtmühle, man durfte es ihr nicht schwerer machen, als sie es ohnehin schon hatte.

„Jetzt, wo wir an der Reihe sind.“

Die Genossen sahen wohl und sahen nicht, dass sich auch eine sozialdemokratische Regierung nicht gegen den globalen Wettbewerb stemmen konnte. Es ging um „die internationale Wettbewerbsfähigkeit“ und um die Lohnkosten. Wir waren zu teuer.

Dem Visionär Brandt war Schmidt im Stil eines VW-Aufsichtsratsgenossen gefolgt. Er feierte die Sachlichkeit, war selbst aber ganz schön pompös. In der Retrospektive sieht man die Vorarbeit, die Schmidt für Schröder leistete. Schmidt hätte sich stärker desavouiert, wären die Riegel am Ostblock schon aufgegangen.

Der Genussmensch in der Revolte

 

Dem Visionär Brandt war Schmidt im Stil eines VW-Aufsichtsratsgenossen gefolgt. Er feierte die Sachlichkeit, war selbst aber ganz schön pompös. In der Retrospektive sieht man die Vorarbeit, die Schmidt für Schröder leistete. Schmidt hätte sich stärker desavouiert, wären die Riegel am Ostblock schon aufgegangen.

Wolfgang Streeck, auf den sich Lafontaine gern bezieht, schreibt: „Die Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft erwies sich als weit kleiner als die untergehende Industriegesellschaft; so wuchs die Zahl der nicht mehr Gebrauchten, der Überschussbevölkerung.“

Für die Bodenmarkierer der SPD, die Plakataufhänger, Flugblattverteiler und Klapptischtransporteure, erfüllte sich das politisch Machbare in der angestrebten „Verteilungsgerechtigkeit“ (nach einem Leistungsschlüssel) und in der „Transparenz“. Niemand hätte ihnen erklären können, dass die neue Zeit (die Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft des Informationszeitalters) durch die Hintertür des Genusses Einzug halten, das heißt, im doppelten Sinn ohne Arbeit daherkommen würde. Wolfram Siebeck war ein Herold der Zukunft, Lafontaine und Siebeck boten im Jetzt von 1978 dem politischen Morgen ausgeschlafene Gesichter.  

Einer Tageszeitung vertraute der Genussmensch Lafontaine einst an, wie er Leib und Seele im Amt des Oberbürgermeisters von Saarbrücken zusammenhielt. Er drückte sich in der derbsten Kombination volkstümlich aus und erntete für die Offenbarung keinen Tadel. Der geringe Abstand des Saarlandes zu Frankreich wurde zur Erklärung der Lebensart Lafontaines und seines Genussvorsprungs herangezogen. Die Rede war vom Savoir-vivre. Kein Ort konnte weiter weg von Frankreich sein, als das um eine Siedlung erweiterte, 1936 gegen den Widerstand der Bauern eingemeindete Dorf, in dem mein Vater die SPD verkörperte. Für uns sah ein Sozialdemokrat aus wie Holger Börner. Schon Hans Eichel, im Brotberuf Lehrer, passte nicht ins Bild. Er hatte nie richtig malocht.

Hasenbrot und Möhrengemüse

 

Mit dem Willen zur richtigen Aussprache sprach mein Vater Fremdwörter besonders falsch aus. Savoir-vivre war ein Zungenbrecher. Savoir-vivre hatte man nicht zu haben. Der Fisch aus der Konserve genügte nicht nur, vielmehr gab es nichts Besseres vor dem Latrinenmenetekel „der schlechten Zeit“, die in den Köpfen weiter ging, mit Feuerstürmen, Brandleichengestank und Hunger.

Die Haltbarkeit von Lebensmitteln in Büchsen war ein unerschöpfliches Thema. Die Konservenbatterien im Kellerregal verminderten eine tiefliegende Sorge.

Was für den Hering galt, galt selbstverständlich auch für das halbe Hähnchen aus dem Wienerwald nicht nur als kulinarischer Klimax und bald zerlegtem Mahnmal des ausgestandenen Hungers über die Kriegszeit hinaus, sondern auch als äußerst seltene Alternative zum Hasenbrot, das stets mir zufiel. Hatte mein Vater auf der Arbeit sein Pausenbrot nicht gegessen, bekam er abends etwas Anderes. Ich kriegte das Hasenbrot. Die Ungerechtigkeit ließ sich nicht besprechen. Die Ungerechtigkeit hatte die Macht des Wetters, das man sich auch nicht aussuchen konnte.

Die größte Delikatesse meiner Jugend war das Kotelett mit Erbsen- und Möhrengemüse als Tagungshöhepunkt auf dem Hohen Dörnberg, wo wir in einer Begegnungsstätte mit Sauna und Tischtennisplatte fremde Genossen trafen. Nicht wenige kamen uns nicht sozialdemokratisch vor, weil sie nicht so aussahen wie wir.

Die Zukunft gehörte der Tonband- und Videotechnik.

Zu den Referenten zählte der Sprecharienvirtuose Bazon Brock. Seine Eloquenz war verdächtig. Sprachliche Unbeholfenheit flößte hingegen Vertrauen ein. „Schwätzer“ war eine zurechtweisend-herabsetzende Zuschreibung. Wortgewandt durfte nur sein, wer als Repräsentant anerkannt war. Gewerkschaftsführer und SPD-Obere, die mit den Bonzen auf Augenhöhe verhandeln mussten, brauchten Geschmeidigkeit.

Wir brauchten das nicht.

 

 

 

Lektorat: Christiane Meyer-Thoss

Erstellungsdatum: 05.11.2024