Der Schriftsteller Jamal Tuschick schildert die Geschichte der Sozialdemokratie und der Linken in der Bundesrepublik Deutschland ab den 1960er Jahren. Was Tuschick hier unternimmt, ist die Vergegenwärtigung eines Zeitbewusstseins, das sich nach dieser Zeit in Stich- und Schlagworten verloren hat. TEXTOR veröffentlicht Jamal Tuschicks „Sozialdemokratische Sonnenverehrung“ als Fortsetzungsroman in loser Folge. Dies ist der 2. Teil.
Bis heute faszinieren mich die Distinktionsgewissheiten kleiner Leute, die den Bogen nie überspannten und sich auf der Kirmes ohne Ansehensverluste öffentlich übergaben. Das sozialdemokratische Wir hatte hundert Jahre Arbeitskampf in der Industriegesellschaft auf dem Buckel, vom Informationszeitalter hatte noch kein Mensch gehört.
Die Siedlungs- und Dorfsozialdemokraten erkannten die Reiter der Apokalypse nicht. Ihnen erschien der langsam aufkommende Hedonismus für den Hausgebrauch so degoutant wie meinem Vater das Wort Lingerie, das wie Savoir-vivre zu seiner Verfügung stand, wenn auch gezogen aus einer phonetischen Tiefsee. Ich komme gleich darauf zurück.
Es regierte die hölzerne Vernunft. Man glaubte nicht, dass hinter der Presspappe des Vokabulars die Psyche ihr eigenes Ding abzog. Man hatte alles im Griff so weit. Ein Rand der inneren Not einer Generation vor Bomben unter die Erde geflohenen und vor Tieffliegern, die lachend Maschinengewehrsalven versendeten, davongelaufenen Kinder, zeigte sich, wenn mein Vater das ihm fremde Wort Lingerie aussprach. Es gab dafür nur einen Kontext. Nach dem Krieg hatte meine Großmutter in „Ami-Kasernen“ die Wäsche der Sieger eingesammelt. Die Soldaten warfen sie in Beuteln aus den Fenstern, sobald Großmutter in ihrer neuen Rolle als Waschwitwe „wie eine Landfahrerin“ mit nur einem marktschreierischen Wort um die Wäsche gebeten hatte. Die Frau eines Sozialdemokraten, der sich vor den Nazis so wenig hatte einschüchtern lassen, dass er in einer Strafkompanie auf der Krim verheizt worden war, packte die Beutel in einen Kinderwagen; umsprungen von ihren Kindern. Mein Vater und sein Bruder hatten eine 1943 bei der letzten Gelegenheit gezeugte Schwester, auf die sie nicht immer gut aufpassten.
Die SPD war die Partei der Industriegesellschaft und die Industriegesellschaft war am Ende. Sonst wäre die SPD nicht an die Macht gekommen. So wurde sie zur Partei des Umbaus. Wer außer der SPD hätte den Abbau des Sozialstaates als Reformprojekt darstellen können?
Alles wäre anders gekommen, hätte meine Großmutter nach dem Krieg nicht mit drei kleinen Kindern die Heimkehr ihres Mannes vergeblich erwartet. Mein sozialdemokratischer Großvater war nicht zurückgekommen. Er war zwölf Jahre nicht wenigen Leuten ein Dorn im Auge gewesen - ein stur-stummer Dissident, der auf das Dritte Reich allergisch reagiert hatte. Das spiegelte mein Vater: eine allergische Abwehrbereitschaft.
Mein Vater nahm das Politische persönlich. Ich verstand das nicht. Ich glaubte, die Partei stünde ihm näher als seine Familie. Sein Gerechtigkeitsfimmel ging so weit, dass er mich öffentlich bloßstellte; als herrschten allgemein Vertrauensverhältnisse.
Mein lebender Großvater war das schlanke Gegenteil meines Vaters. Ihn stieß „diese Naivität“ ab.
Heute denke ich, dass die SPD meinem Vater als Vaterersatz diente und er eine Kommunion der Redlichen halluzinierte. In seinem Bücherschrank stehen im Anmerkungsrausch gepflügte psychologische Titel, die ihn alle nicht davor bewahrt haben, den Gemeinschaftssinn anderer Leute zu überschätzen.
Nicht selten opferte er ein Wochenende, um als Betreuer von Jugendgruppen seiner gesellschaftlichen Verantwortung gerecht zu werden. Manchmal begleitete ich ihn. So kam ich zum ersten Mal in ein Naturfreundehaus im Taunus. Ursprünglich hatte es da weder Zentralheizung noch fließendes Wasser gegeben. Relikte dieser Zeit waren Kannen und Wannen in den Betreuerkammern. Wir hätten unser Ensemble nicht nutzen müssen. Mein Vater fand es pädagogisch wertvoll, das Waschlappenprogramm mit mir durchzugehen. In der Wohnung seiner Mutter gab es kein Bad und fließend Wasser nur in der Küche. Das blieb so bis zu ihrem Tod.
Das antike Waschgeschirr war eine Antiquität. Die Kanne hatte den Schwung eines Schwanenhalses. Das Becken passte zu der Kanne wie die Untertasse zu der Tasse eines Services. Dass eins zum anderen passte war nicht selbstverständlich in der Tagungsstätte am Fuchstanz. Freiwillige bewirteten die Gäste. Sie wollten in ihrem Ehrenamt keinen Stress erleben. Trotzdem war nicht wenig Arbeit mit der Versorgung der Falken, Jungsozialisten und Gewerkschaftsjugendlichen verbunden, die in malerischer Lage und fürwahr abgeschieden über die Kämpfe der Arbeiterklasse, die Notwendigkeit einer Revolution sowie über ihre Bausparverträge und andere Geldanlagen sprachen.
Die als Herbergseltern Waltenden hatten ihre Gäste mit belegten Broten und Früchtetee abgespeist, das lief unter dem Titel „Fütterung der Raubtiere“, und waren dann nach Oberursel in ihre häuslichen Verhältnisse abgezogen. Mein Vater spielte den leutseligen Nachtwächter und ich war zu seiner Unterstützung und Unterhaltung dabei. Er hatte sonst nicht viel mit Süddeutschland am Hut. Er hegte die üblichen Vorurteile der Nordhessen gegenüber dem prallen Leben in der Rheinmainsenke. Jedoch gab es wiederkehrende Termine in Frankfurt am Main, die er dazu nutzte, in die „Schmiere“ zu gehen. Außerdem hatte er mysteriöse Aufgaben in der Strafvollzugsanstalt Rockenberg. Mein Vater brachte Leute in Rockenberg unter. Bevor ihn der zweite Bildungsweg in eine andere Umlaufbahn gebracht hatte, war er, nach einer Ausbildung bei Coca-Cola, Vertreter für Zigaretten gewesen. In seinem Volkswagen, noch mit geteilter Heckscheibe, hatte er den Harz abgegrast und da manches Abenteuer in engen Kurven bestanden. Auf eine undurchsichtige Weise hing die Vertreterzeit mit erotischen Aufschwüngen zusammen, die vor allem meine Mutter immer wieder zu spöttischen Bemerkungen anstifteten. Die Töchter der Gastwirte im Harz, hart an der Zonengrenze, tauchten darin dramatisch wie in einem Stummfilm auf, so als habe sich keine meinem, mit achtzehn kahlen und vermutlich schon damals ermüdend ausführlichen Vater entziehen können. Schließlich konnte er es mit seinem Gewissen nicht mehr vereinbaren, „den Leuten Gift anzudrehen“, was einfach war, weil außer meinem Vater alle wie die Schlote rauchten.
Der Nichtraucher als Vertreter für Zigaretten – das war auch eine Schote, die ihren biografischen Ursprung in einer Tragik hatte. Mein Vater hatte sich seine Lehrstelle nicht aussuchen können und war Einzelhandelskaufmann nur deshalb geworden, weil es für ihn nichts anderes gegeben hatte.
Die Gruppe brach am dritten Tagungsmorgen auseinander. Zwei Revolutionäre sprengten ein Urinal zur Freude aller Jugendlichen. Der aggressive Schabernack enttäuschte meinen Vater schwer. Er fühlte sich den Junggenossen familiär verbunden. Ihnen fiel es leicht, ihn herabzusetzen. Sie zeigten schon Anflüge von Unmut und Ungeduld, wie ich sie bei Erwachsenen beobachtete, die meinen Vater „umständlich“ fanden.
Die Erinnerung ist wie ein Hund, der sich hinlegt, wo er will.
Cees Noteboom
Zwanzig Jahre nach der Sprengung des Klos kam ich als Referent in das Naturfreundehaus. Zwischen Küche und Speisesaal gab es keine Trennwand mehr. Die Art, wie Brotscheiben mit Käse und Aufschnitt flott belegt wurden, brachte mir die Platten voller pyramidal arrangierter Käse- und Wurstbrote in Erinnerung, die ich einst sehr gern gegessen hatte. Mir fiel auch das Arrangement aus Kanne und Wanne wieder ein. Diese unspektakuläre, 1970 längst anachronistische Ansicht organisierte einen Gedankenausflug nach Frankreich. Knapp volljährig war ich mit Mara in Frankreich unterwegs und befasst mit den Chancen, die Kirchenbücher, Auswanderungsgeschichten und die Überlieferungen von Hofmiseren einem Schriftsteller bieten. Darauf gebracht hatte mich John Berger. Berger lebte in den Savoyer Alpen, Mara und ich brachen das Unternehmen, ihn zu besuchen auf halbem Weg ab. So dicht vor der Möglichkeit, Berger zu treffen, erschien uns ein Treffen unmöglich. Viel später las ich eine Geschichte von Berger, die seitdem zu meinem inneren Bestand gehört. Er schildert eine homosexuelle Gemeinschaft in bäurischen Verhältnissen. Da sind zwei zusammen in der Schutzbehauptung gemeinsamer Bewirtschaftung. Es gibt die Steigerung, dass ein Partner nach außen die weibliche Rolle spielt und das erst nach seinem Tod und auch nur für den Arzt und nur Wenige erkennbar wird. Der Arzt hält dicht im kleinen Kreis der Mitwisser.
Auf einer langen Bank sitzend, ließ ich einen Versuchsballon steigen. Ich fragte die ebenfalls eingeladene Soziologin S., ob sie mit dem Werk von Berger vertraut sei. Das war sie. S. sprach dann vor einer Gruppe Sozialdemokraten über die Prozesse der Zivilisation (Norbert Elias) und über Entzivilisierungsprozesse wie sie Oliver Nachtwey, sich auf Elias beziehend, darstellt. Etablierte reagieren auf aufsteigende Außenseiter mit der Preisgabe der eigenen Moralstandards an gröbere Formate. Bei Restaurationsversuchen ihrer Ordnung werden sie zu jenen Barbaren, die sie vor sich zu haben glauben. Sie verwechseln sich mit dem Gegner nicht grundlos. Heiner Müller sagt ungefähr: Wenn man keinen Feind mehr hat, dann trifft man ihn im Spiegel.
Mein Vater war ein Punk in der Politik, als er anfing. Ein Punk mit acht Jahren Volksschule und ein bisschen sozialdemokratischem Gewerkschaftswissen. Damals war jeder Ausflug in die DDR Vaterlandsverrat. Auf der Gegenseite agierten die Fürsten der Reaktion. Humanistisch gebildete Führungspersönlichkeiten, die den Untergang des Abendlandes mit meinem Vater kommen sahen. Mit Macht kannten die sich aus.
„Was macht der sich mausig?“ fragten sie einander. „Wo nimmt der das Selbstbewusstsein her? Warum hat dieser kleine Sozi keine Angst vor uns.“
Mein Vater hatte keine Angst. Er wollte jenen faulen Frieden stören, den die alten Nazis mit sich selbst geschlossen hatten. Gestern las ich, dass ein für die Verfolgung der Sinti und Roma zuständiger SS-Scherge in einem Landesministerium noch bis zur Pension zuständig für die „Landfahrerfrage aka Z-Frage“ war. Solchen Typen gegenüber verbot sich eine moderate Position.
Es war die Zeit der Ölkrise, der abflauenden Entspannungspolitik und der Verschärfungen auf dem Arbeitsmarkt. Willy Brandt erreichte seine Grenzen als einziger Visionär der regierenden Klasse. Das Ansehen des vierten Bundeskanzlers schwand. Seine Gegner, die ihn Jahrzehnte als Vaterlandsverräter denunziert hatten, witterten Morgenluft. Die schweigende Siedlungsmehrheit und die Wutbürger von damals nannten ihn „Asbach-Willy“
Im März 1974 wurde die Volljährigkeitsgrenze herabgesetzt. Das ging als Reform durch, der in Kassel geborene und in Immenhausen aufgewachsene Gerhard Jahn zeichnete verantwortlich. Der soziale Rückstoß war gewaltig. Was vorher mit achtzehn möglich war, erschien nun in Reichweite der Vierzehnjährigen. Sie verwandelten ihre Elternhäuser in Wohngemeinschaften – im Geist einer grandiosen Verspätung. Ästhetisch waren wir noch auf dem Stand von Easy Rider, als die Sex Pistols ihren ersten Auftritt hatten.
Selbst die größten Pessimisten vermochten noch keine multikulturelle Dystopie zu entwerfen. Das um eine Waschbeton- manche sagten zu Unrecht Hochhaussiedlung erweiterte Dorf meiner Kindheit lag hinter den Sieben Bergen der Zukunft wie in einer besonderen Zeitzone fest in deutscher Hand. Es gab eine großflächige landwirtschaftliche Produktion, noch war der Einkauf beim Erzeuger nicht schick. Die Genossen kauften aus politischen Gründen ihre Kartoffeln im Konsum.
Ich war mit drei sozialdemokratischen Familien vor Ort verwandt. Das waren die Familien des Bruders und der Schwester meines Vaters. Meine Tante war zwar nicht in der SPD, aber ihr Mann. Deutlich vor Augen steht mir, dass mein Vater unter seinen Geschwistern derjenige mit dem kleinsten Auto war, und wir zuhause die wenigsten technischen Geräte hatten und sowieso nie das Neueste. Mein Vater war ein schlechter Verbraucher. Das nahm ich ihm übel. Seine Genügsamkeit forderte mich heraus. Wir hatten lange im Rückstand gelegen, wegen des beruflichen Anlaufs, den mein Vater genommen hatte, und weil meine Mutter mit ihren Halbtagsbeschäftigungen nie glücklich wurde, wie vermutlich auch nicht die Zeitungsausträgerinnen und Putzfrauen in der Nachbarschaft glücklich wurden; immerhin hatte meine Mutter eine Ausbildung zur Stenotypistin gemacht. Außerdem konnte sie halbwegs Englisch. Das war selten.
Auto und Fernseher hatten wir erst ab den frühen 1970er Jahren. Mein Vater sagte: „Das Wichtigste im Leben, Liebe und Gesundheit, kann keiner kaufen.“
Im Mai wurde das Idol meines Vaters endgültig vom Thron gestoßen, kurz nach der offiziellen Enttarnung von Günter Guillaume. Nun sei die anbiedernde Ostpolitik zu Ende, hieß es überall. Auch in der SPD waren kalte Krieger, die Brandt Führungsschwäche vorgeworfen hatten und den Sturz begrüßten.
Vor allem ging es darum, innenpolitisch Profil zu beweisen; sich gegen eine aggressive Opposition zu behaupten. Der ehemalige Wehrmachtsoffizier Schmidt fand für seine Ansichten martialische Bilder und manchmal auch eine bellizistische Diktion. Das nahm man ihm nicht übel. Ich konnte den Sozialdemokraten in Schmidt nicht entdecken. Für mich war Pazifismus eine SPD-Tugend, weil ich die Wiederbewaffnungsgegner und Ostermarschierer durch die Bank für Genossen hielt. Da fehlte Wissen. In der ersten Friedensbewegung überlebten viele Sektierer, die in weit zurückreichenden Traditionen standen und später in den Grünen noch einmal beispielsweise anthroposophische Standpunkte repräsentierten. Der Demeter-Dunst, die Reformhausbewegung – zudem gab es Splitterformationen, die in der dritten Generation zwischen heilenden Steinen, Animismus und Verschwörungstheorien eingemauert im Grunde genauso links wie rechts waren. Jedenfalls in der oberflächlichen Betrachtung. Sah man genauer hin, waren sie mehr rechts als links.
Mein Vater vermied Esoteriker. Er hinderte mich nicht, als ich von einem Guru und seinen Jüngerinnen heraufgebeten wurde in die Sphäre des wahren Wissens. Um nicht in Teufels Küche zu kommen, nenne ich ihn Johannes den Säufer.
Johannes war ein promovierter Spinner, der wusste, was geht. Deshalb war er in der SPD. Er verdiente sein Geld mit Bildungsarbeit bei freien Trägern und Partei nahen und Partei eigenen Organisationen. Das ist ein Kosmos für sich. Die Verdienstmöglichkeiten da zogen Leute an, die so neben der Spur lebten, dass sie unter der ständigen Aufsicht in normalen Verhältnissen nicht klar gekommen wären. Sie brauchten Freiräume und Grauzonen, und sie umgaben sich klerikal mit einer jugendlichen Anhängerschaft. War irgendwas im Busch, sagten sie SPD und appellierten an das Einer-von-uns-Gefühl. Das war wie ein Kode-Wort. Ohne den SPD-Mantel wäre Johannes als falscher Fuffziger und Scheinheiliger von den Hilfskräften der Vernunft, die in der lokalen SPD den Ton angaben, sofort entlarvt worden.
„Die alte Freiheitsforderung: Gleiches Recht für alle wurzelt viel mehr in der Verschiedenheit als in der Gleichheit der Menschen.“ Magnus Hirschfeld
Bereits im 19. Jahrhundert gab es eine kritische Auffassung der polarisierten Geschlechterbetrachtung „in entweder männlich oder weiblich“. Das Preußische Landrecht sah eine Freiheit vor, die es einer Person „mit unbestimmten Geschlechtsmerkmalen im Alter von achtzehn Jahren erlaubte, selbst zu entscheiden, „welchem Geschlecht (sie) angehören“ wollte. Das Bürgerliche Gesetzbuch von 1900 hob die Regelung in einem offensichtlichen Rückschritt auf.
Helmut Schmidt war gerade vereidigt worden, als ich meinen ersten Liebesbrief bekam. Er fände keine Erwähnung, wäre meine Verehrerin nicht eine der berufensten Anhängerinnen gewesen, auf die sich Johannes stützte. Ich nenne sie Rhea nach einer titanischen Gestalt aus der griechischen Mythologie. Rhea stammte aus einem familiär aufgebauten Kreis – verbunden mit den Komplexen Naturheilkunde, Ökologie, Pazifismus, Sozialismus, Geisterglaube und Sonnenverehrung. Rhea hielt magische Heilungen für möglich. Sie spürte Strahlenfelder und nutzte Wünschelruten. Sie wurde von ihrer Mutter ausgebildet. Die Seniorheilerin genoss als Physiotherapeutin einen Ruf wie Donnerhall. Sie machte Hausbesuche und half Migräne- und Hexenschussopfern besser als jeder Arzt. Sie stand gemeinsam mit Johannes an der Spitze der Bewegung, die via Johannes in die SPD hineinragte. Der neue Bundeskanzler sagte: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“
Ich fragte meinen Vater, ob eine sozialdemokratische Sonnenverehrung für ihn akzeptabel sei. Er schloss das aus. Ich durfte mir mein eigenes Bild machen. Ein halbes Jahr besuchte ich Schulungstermine in einer Begegnungsstätte nahe dem Steinernen Schweinchen. Heute kann man da auch alternativ heiraten. Eine Johannes-Jüngerin wurde zwanzig Jahre später die letzte Frau des Scheinheiligen. Ein Jünger brachte sich um. Er ließ sich von einem Zug überrollen. Der Selbstmord nahm mich mit. Nach der Beerdigung tobte ich mich im Park Wilhelmshöhe aus.
Ich will noch von einem anderen Selbstmörder berichten. Martin Hübner lehnte sich mit Rimbaud gegen die Verhältnisse auf. Er lebte bei einer abgedrehten Oma und einem seit Stalingrad abgeklärten (mit Halluzinogenen vertrauten) Opa in einem Widerstandsnest. Die RAF der ersten Stunde war durch Opas Pforten der Wahrnehmung getreten. Martin fehlte die Resilienz seiner Altvorderen. Er nahm jede Breitseite der Kritik mit dem kleinen Lächeln, das Leute an sich haben, die wissen, dass sie nicht gut ankommen in der Welt. Solche entschuldigen sich ständig dafür, dass die Welt es mit ihnen aushalten muss – sie es aber nicht mit ihr aufnehmen können. Die Beflissenheit löst Wut aus. Martin steckte in der Opferrolle wie eine Dattel im Speckmantel.
Kurz bevor er sich umbrachte, tappte Martin in einem Tross Exzess orientierter Jesusjünger mit, die in den Gärten vor der Höhe hausten. Ab und zu kriegte er einen Rappel, dann kehrte der Heilige Geist bei Martin ein, um in ihm mit eisernem Besen zu kehren. Angeführt wurden die Jünger von einem Schrebergartengangster. Frank Regner ging über jede Einladung einen halben Schritt hinaus. Mehr nicht. Seine Devise lautete: Gucken, was geht. Gucken, was kommt. Was so vom Laster fällt. Die Skizzen seiner Freundschaften waren zeitgenössische Zille-Zeichnungen. Sie zeigten die zurückgelehnte Art des gewaltbereiten Gärtners.
Frank nahm Martin auf und aus. Man ahnte eine enttäuschte Bereitschaft zur Kumpanei. Martins unirdisches Wesen ließ keinen Kuhhandel zu. Sein karitativer Hammer suggerierte Unterwürfigkeit. Seine Seligkeit auf allen Wegen schien wahnhaft.
Es gab einen fehlgeschlagenen Versuch der Genossen, Martin zu befreien. Nach seinem Tod präsentierte sich Antonia ‚Toni‘ Weber – für mich überraschend – als Martins Witwe. Toni verdiente im Tonträger heimlich dazu. Man konnte da stundenlang Platten hören. Ohne Kaufzwang. Wie großzügig ich das fand. Wie ausreichend das als Geschäftsidee war.
Geschäftsführer Bernie Schuster war ein verklebter Typ, ein Krummbein, ein Jockey, stets ungekämmt, unausgeschlafen, abwesend. Doch bestens informiert. Achim Frank, sein Chef, saß jeden Abend in der Fiedel und genoss das Unternehmerglück im Kreis der Propheten. Diese Leute hatten Ansagen gemacht und Recht behalten. Sie waren nach dem Abitur ohne Warm-up, Auszeit oder Studium durchgestartet, selbstverständlich unter Umgehung staatsbürgerlicher Pflichten.
Mein Vater zu mir: „Du drückst dich nicht nach Berlin weg.“
Die Väter der Propheten hatten ihre Beziehungen spielen lassen. Sie waren mit ihren Söhnen bei ihnen gut bekannten Sparkassenleitern (Tennisfreunden) vorstellig geworden und hatten Kredite losgeeist: für eine neuartige Dämmstoffproduktion, die Umgestaltung einer aufgelassenen Fabrik in ein Kulturmultiplex und in einen Weinhandel, der vierzig Jahre später als Mutterhaus von zig Filialen dastehen sollte.
Die Propheten kreierten die nächste Generation des bodenständigen Mittelstandes.
Tonis Mutter durfte nicht arbeiten, sie war dem „Haushaltsvorstand“ genauso unterworfen wie ihre Tochter. Tonis Vater, Vincent Weber, gab den bibelfesten Tyrannen in der Strickjacke. Er hielt sich an eine obsolete Verbotsliste und kritisierte die Manieren von Tonis Freundinnen. Die Tochter trug dem Vater die Schlappen nach und hefteten sie an seine Füße. Gegen Vincent half nur träumen.
*
Im CDU-Ortsverein saßen die Eingesessenen … Grundbesitzer, Selbständige wie der Edeka-Wagner gemeinsam mit Habenichtsen, deren Selbsthass sich selbständig gemacht hatte. Die Besitzlosen profitierten nicht von ihren politischen Entscheidungen, so wenig wie viele Trump-Wähler ein halbes Jahrhundert später.
Noch gab es die Bewegung 2. Juni als massive Bedrohung. Mein Vater wurde von Leuten bedroht, die sich für Revolutionäre hielten und meinen Vater als Revisionisten angifteten. Seine Überzeugungen wurden von keinem Genossen der Siedlungssozialdemokratie links überboten. Die Kirche musste im Dorf bleiben. Verkehrsberuhigung war ein Thema. Revolution war kein Thema in den Ortsvereinssitzungen. Wir waren „endlich auf Bundesebene“ an der Regierung, auch wenn ich Schmidt nicht mit diesem Wir zusammenbekam. Dabei waren alle Genossen mehr Schmidt als Brandt. Das Wir vor Ort ergab sich aus der Nachbarschaft, der bloßen Parteinahme; womöglich nur aus einem Lippenbekenntnis in einer von der SPD regierten Stadt; in einem von der SPD regierten Land.
In der Aktentasche meines Vaters lauerte ein Hasenbrot auf mich. Ich würde ihm nicht entgehen.
Wir saßen an zusammengeschobenen Schulbänken, lauter Männer (und ich) ohne Abitur und Migrationshintergrund. Die Einwanderung war in vollem Gang, doch keiner hatte sie auf dem Schirm.
Der erste Mensch mit Migrationshintergrund im sozialdemokratischen Alltag war kein Grieche – und kein Chilene, der Allende persönlich gekannt hatte; es war der ursprünglich korsische Adoptivsohn 1975 in die Siedlung gezogener Genossen. Sampièro war ein SPD-Kind, geprägt von den Überzeugungen der Nähreltern. Man fand ihn hübsch und aufgeweckt. Mein Vater fühlte sich von ihm an Kino-Korsaren erinnert. Er sagte: „Bei Sampièro kann man sich das Messer zwischen den Zähnen gut vorstellen.“
Im gleichen Jahr tauchte Alberto auf, ein Italiener, der den ganzen Bella Napoli Quatsch abkriegte. Mein Vater hatte vor seiner Hochzeit acht Mal in Italien gezeltet, das Zelt liegt heute noch in seinem Sack im Keller, der zwischendurch Hobby- und Partyraum war. Da stehen Sachen aus dem Haushalt der Mutter meines Vaters, so wie die Vitrine mit dem Plattenspieler. Ich sage nur Capri Fischer.
Ein Augenblick am Comer See in den 1950er Jahren verlieh dem Landschaftsbegriff Lombardei einen besonderen Klang im Verein mit dem labial stets unbewältigten Lago di Como. Der Italienfahrer Fritz trug ein Lumberjacket: ein Wort wie eine Grenze. Als geborener Sozialdemokrat lehnte er es ab, sich am Fürstenhäuserklatsch zu delektieren. Adelsklatsch war was für Leute mit dem falschen Bewusstsein. Doch gab es da eine Lücke – Edwards Abdankungsstory. Nicht, dass mein Vater sich die Namen der Protagonisten jemals gemerkt hätte. Er wusste nur, in England hatte es einen König gegeben, der aus Liebe zu einer Frau aus dem Volk bürgerlich geworden war.
Für meinen Vater war die britische Verfassungskrise von 1936 ein Triumph der inneren Freiheit. Kurz zu den Fakten: Eduard VIII. sah sich gezwungen, die geschiedene Amerikanerin Wallis Simpson zu heiraten. Das Commonwealth stand Kopf. Regierungen überschlugen sich. Simpson erschien dem Establishment mehr als zweifelhaft. Georg VI. übernahm nach der Abdankung seines Bruders. Ein historischer Katzensprung später regiert noch immer Georgs Tochter Elisabeth.
Lektorat: Christiane Meyer-Thoss
Erstellungsdatum: 13.11.2024