Der Schriftsteller Jamal Tuschick schildert die Geschichte der Sozialdemokratie und der Linken in der Bundesrepublik Deutschland ab den 1960er Jahren. Was Tuschick hier unternimmt, ist die Vergegenwärtigung eines Zeitbewusstseins, das sich nach dieser Zeit in Stich- und Schlagworten verloren hat. TEXTOR veröffentlicht Jamal Tuschicks „Sozialdemokratische Sonnenverehrung“ als Fortsetzungsroman in loser Folge. Dies ist der 4. Teil.
Holger sagte: „Die einen haben Angst vor dem Ende des Monats, die anderen vor dem Ende der Welt.“
Ich war zehn, als mich Holger Müller zu seinem politischen Sohn machte. Er war mein Sport- und Kunstlehrer; ein Terrier. Ein Terrier war einer, der dranblieb, Zähigkeit und Ausdauer bewies und sich nicht abschütteln ließ.
Für mich war Holger der erste Solitär, an dem ich Maß nahm. Die kindliche Einschätzung erscheint mir auch heute noch nicht abwegig. Holger hat in einem einigermaßen kurzen Leben nie geheiratet. Er blieb allein in den Funktionen eines Vorbildes für einzelgängerische Jungen und als erotischer Dummy für junge Frauen. Begabung interessierte Holger nicht. Er holte die Kunst vom Podest und gab den Bilderstürmer vor Gleichgültigen. Er haute die Kunst Leuten um die Ohren, denen Kunst nichts sagte. Der Kunstunterricht passte zu nichts anderem im Siedlungsgeschehen. Im Gegensatz zu anderen Lehrern gönnte Holger seinen Schülern keine billigen Erfolgserlebnisse. Er bot sich ihnen im Sportunterricht als Ringkampfgegner an und zerlegte sie auf der Matte.
Holger trug einen Django Bart und zeigte gern die Wolle auf seine Brust. Seine künstlerische Produktion fand er allein ihrer Nichtigkeit wegen preiswürdig. Politisch war er hyperaktiv. Außerdem trieb er Rasenkraftsport. Die Wettkämpfe waren antike Kraftrituale und fanden ohne Publikum statt.
Holger sagte manchmal Ostzone, und manchmal fand er Worte der DDR-Anerkennung. Es kam darauf an, ob er als Pfadfinderführer oder als Jungsozialist zu uns sprach.
„Der Kampf geht weiter.“
Mit diesem Appell von Rudi Dutschke begann ein großer Gesang des SPD-Apachen Holger auf dem „Erlebnisberg“ Hoherodskopf im Vogelsberg. Gezogen von der traurigsten Mähre der Gegend, rumpelten wir in einem lächerlichen Prärieschonernachbau über den erloschenen Vulkan. Auch der Kutscher sah nach Mistwetter und Alkoholnebel aus, aber auch nach einem verschwiegenen Glück im sozialen Unterholz.
Madeleine studierte Soziologie in Frankfurt am Main, Adorno und Horkheimer zu Ehren. Sie war fünf Jahre älter als ich und prunkte mit ihrem Seminar- und Wohngemeinschaftsvokabular. Wir waren in Kassel zu ahnungslosen Adepten der Frankfurter Schule geworden; nicht zuletzt deshalb, weil unsere sozialdemokratischen Eltern über Brecht und Biermann nicht hinauskamen. So konnte man die intelligente Reaktion nicht kontern. Mein humanistisch gebildeter Deutschlehrer vertrat den Standpunkt, dass eine Hochkultur ohne Sklaven nicht zu haben sei. Er führte Mesopotamien, Griechenland und Rom an. Er sprach von Prädestination und Destination. Der Radikalenerlass fand auf ihn keine Anwendung.
Wir saßen dann im Wald am Lagerfeuer. Holger deklamierte. Ihm fehlte die Angst, sich lächerlich zu machen. Seine Ode schweifte aus bis zu Bernd Lunkewitz, der 1969 von einem NPD-Ordner in Kassel angeschossen worden war. Das hatte die Stadt trotzdem nicht zu einem heißen Pflaster gemacht.
Roland zapfte Bier. Er war der einzige Kasseler Genosse, der Madeleines Frankfurter Verhältnisse kannte. Er verhehlte den Eingeweihten ein Unbehagen. Etwas nagte an ihm. Die Frankfurter spielten in einer anderen Liga. Im Häuserkampf war der Staat aufgemischt worden. Die Danys und Joschkas weilten nicht hinter den Sieben Bergen im Grimmsmärchenland.
Roland lebte gern weit vom Schuss. In Kassel konnte er sich ein Auto, ein Motorrad und die Mieten für eine große Altbauwohnung und zwei Garagen leisten. Stets fand er einen Parkplatz direkt vor der Kneipe seiner Wahl. Sonntags aß er bei den Eltern. Er hing an seinen Geschwistern.
Roland hatte alles, was er brauchte, abgesehen von der Gewissheit, Madeleines Ehrgeiz gewachsen zu sein. Sie war dabei, ihn abzuhängen, so wie sie mich zwei Jahre zuvor aus dem Rahmen ihres Lebens genommen hatte. Ein alter Schmerz fühlte sich wohl in mir. Längst genoss ich das Ziehen der Sehnsucht.
Madeleines Fleecejacke wirkte wie eine Proust’sche Madeleine.
Einer von uns lernte in der Berlitz School zusätzlich Französisch, um irgendwann „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ im Original lesen zu können.
Einmal war Madeleine etwas wegen mir passiert. Sie hatte sich einen Fuß vor der Martinskirche gebrochen oder zumindest den Knöchel verstaut. Der Wunsch, mich zu sehen, hatte sie sich beeilen lassen.
Die Hast trug die Schuld am Unfall, und ich war schuld an der Hast.
In der linken SPD gab es unterstützende Verbindungen zu den Spontis und RAF-Derivaten. Von der rechten SPD wurden die Spontis bekämpft. Der Frankfurter Oberbürgermeister Rudi Arndt verantwortete die Baupolitik, die den Häuserkampf provozierte. „Seiner 1965 geäußerten Idee, die bei den Luftangriffen auf Frankfurt am Main zerbombte Alte Oper nicht wiederaufzubauen, sondern sprengen zu lassen, verdankte er den Spitznamen Dynamit-Rudi.“ (Zitiert nach Wikipedia)
Arndt war ein Mann nach dem Herzen meines Vaters und zugleich ein Feindbild der Jusos. Roland und ich schlurften schon in den Puschen der Altvorderen, zufrieden mit den gesellschaftlichen Raumgewinnen im Zuge einer Vermögensumverteilung, der Verbreiterung des Mittelstandes sowie der Bildungsreform. Wir bemusterten den nächsten sozialdemokratischen Prototyp. Das war der Sportlehrer im Karmann-Ghia. Ein Typ wie aus der Camel Filter Werbung.
Am TV-Horizont fanden Kämpfe in Brokdorf und Walldorf statt. Die Durchsetzung des NATO-Doppelbeschlusses war ein SPD-Projekt in nächster Zukunft. In der Partei prallten die Gegensätze aufeinander. Die vermittelnden Instanzen erlagen dem Fieber der Empörung auf allen Seiten.
„Du musst den Gegner delegitimieren“, erklärte Holger spät in der Nacht auf dem Hoherodskopf. Madeleine schmiegte sich an Roland und quittierte die kämpferische Attitüde des alten Jungsozialisten mit den Signalen eines schwachen Interesses.
Ich hörte gespannt zu. Holgers Janusköpfigkeit zählte zu den schönsten Rätseln meiner Jugend. Er hatte mich (wie viele Jungen aus dem Kasseler Osten) mit Karten-, Knoten-, Kompasskunde, Geländespielen und Überlebenstraining Jahre auf Kurs gehalten. Holger war der ewige Hessenmeister im Kraftdreikampf. In der Gesamtschule bot er Kraftunterricht an. Sprach er zu uns als Pfadfinderführer, klang er wie ein Revanchist beim Referat über die verlorenen Ostgebiete. Der Alt-Juso Holger gehörte hingegen zu einem semi-konspirativen Netzwerk radikaler Linker, das den Feierabendterrorismus der Roten Zellen zumindest unterstützte. In jeder Rolle erschien Holger so eindeutig, dass niemand an ihm zweifelte. Ich zweifelte auch nicht an ihm. Ich kannte diese Widersprüchlichkeit von meinem Großvater. In ihm grüßten sich die Extreme.
Madeleine machte es sich noch ein bisschen bequemer auf Rolands Rumpf. Die Helden des Häuserkampfes und die akademischen Erben der Frankfurter Schule standen vor ihrer Attraktivität Schlange.
Holger legte Holz nach. Außerhalb des Feuerscheins ging es im Sekundentakt um Leben und Tod. Es roch nach Kien.
Ich bemerkte einen Ausdruck väterlichen Stolzes. Viele hatten nach Holgers Anweisungen gelernt, sich im Wald zu bewegen, aber nur in mir war das Verlangen gewesen, mit der Nacht und ihren Schatten zu tanzen.
In unserer Nachbarschaft sangen Falken ein Lied der kubanischen Revolution – Hasta Siempre Comandante.
Aprendimos a quererte …
Che Guevara war der schönste Held. Die Jugendarbeit war sozialistisch und weit weg von den Leitlinien der erwachsenen SPD. Den Falken erschien Schmidt als Fremdkörper und Parteizerstörer.
Se despierta para verte … der Nachwuchs chilenischer Exilanten sang richtiger als der Rest. Ein Jahr nach Allendes Sturz hatte die Nelkenrevolution stattgefunden und wir waren alle Portugiesen gewesen. Es gab immer Grund zur Hoffnung, so wie es immer einen Günter geben würde. Man kann nicht Speichellecker eines Granden sein, ohne den Trabantenstatus süchtig zu lieben. Guillaume war ein Verehrer Brandts gewesen. Er hatte dem Willy der Herzen zu einer Dolchstoßlegende verholfen, die es Brandt erlaubte, über seinen Verhältnissen ehemaliger Kanzler der Bundesrepublik zu sein. Mein Vater hatte ihn schon mit Brigitte Seebacher zusammen gesehen, Seebacher arbeitete in der Pressestelle des Parteivorstandes im Erich-Ollenhauer-Haus.
Gerüchte kursierten. Iris Leise, die Astronautin werden wollte und jeden Tag im Park Wilhelmshöhe etwas für ihre Gesundheit tat, hatte mir zuerst von Brandts Neuer erzählt. Ihr Vater war der Ben Witsch auf der Landesebene – ein Mann mit Missionen. Iris kannte Jordanien, schwärmte vom Mittleren Osten. Von ihr wusste ich, dass der SPD-Sicherheitsdienst stets über den Trainingsstand der RAF-Leute informiert war, die zuerst in Jordanien, dann im Jemen und endlich im Libanon Schießen gelernt hatten.
Das Klo auf halber Treppe ist oft besungen worden. Es war nicht beheizbar. Man stieg mit seinem Papier (nicht unbedingt von der Rolle, manche nutzten mit dem Lineal in Streifen gerissene, irgendwo aufgelesene Zeitungen) ins Treppenhaus und erfuhr vor Ort oft mehr als man wissen wollte. Wer oben auf war, musste nicht leise scheißen. Unter diesen Umständen verkümmerte die Verdauungsscham. Niemand träumte vom eigenen Klo, alle träumten vom eigenen Auto.
Obwohl Sauberkeit und Ordnungsliebe die Hausfrau adelten, herrschte eine klandestine Drecktoleranz. Da man dem Stoffwechsel der Anderen nicht ganz entgehen konnte, weitete sich das Familiäre und streifte der Hausgemeinschaft einen Pyjama der Vertraulichkeit über, in dem man per Sie blieb. Ich wusste über Frau Hein nicht ernsthaft schlechter Bescheid als über meine Mutter. Frau Hein achtete auf mich, wenn meine Mutter keine Zeit hatte. Frau Hein erzog ihre Kinder drakonisch, meinte es aber nur gut und erinnerte gern daran, was ihr alles nicht geschadet hatte. Manchmal widmeten wir einen Nachmittag dem leidigen Thema Aufessen.
Die Badewanne stand in der Küche. Abgedeckt wurde sie zum Esstisch. Es gab noch nicht die Gemeinschaftswaschmaschinen im Keller. Die Frauen wuschen von Hand und brachten die besten Stücke in die Reinigung. Weißsteife Tischdecken waren ein Leistungsbeweis.
Dann zogen wir in ein Siedlungshaus mit Zentralheizung und Waschkeller. Meine Mutter jubelte. So sah die Zukunft aus. Die moderne Hausfrau lieferte einer großen Erzählung die Heldin, lange bevor die Familie nicht ohne Auto und Fernseher komplett war.
Ich lebte in einer guten Zeit. Meine Eltern waren in der schlechten Zeit Kinder gewesen. Ich teilte nicht ihr Vergnügen an einer Wohnung, die nicht um die Jahrhundertwende mit Versorgungs- und Dienstbotentrakt und einem Lastenpaternoster für Bürger gebaut und später umgebaut und geteilt worden war. Die Zweckmäßigkeit der nagelneuen Zwei-, Drei- und Vierzimmerwohnungen bescherten den Erstbeziehern Kinoerlebnisse, die wir (die erste Generation Siedlungskinder) nicht begriffen. Es wurde noch gebaut, die Zufahrtswege waren verschlampt und die eingesessene Bevölkerung, und deren Kinder waren ungnädig. Überall lauerten Gefahren.
Das eigene Klo half nicht. Ohnehin gab es stärkere Attraktionen im Neuland. Noch fuhren viele mit dem Fahrrad oder dem Bus zur Arbeit. Armut und Vollbeschäftigung schlossen sich nicht aus. Egalitärer als damals wurde es in meinem Leben nie mehr. Frau Hein hieß jetzt Frau Dell. Herr Dell war Reisebusfahrer und Kettenraucher. Er war der erste Vater mit einer Markise am Balkon. Nun vollzogen sich die Aufessdramen in einer Gemeinschaft mit zwei Mädchen. Sie waren jünger als ich und sahen zu mir wie zu einem großen Bruder.
Herr Dell reagierte allergisch auf die SPD, unterschied aber zwischen Person und Partei. Persönlich war ihm mein Vater sympathisch. Zehn Jahre heckten die beiden gemeinsame Urlaube aus, von der ersten Bustour in den Schwarzwald über die erste Urlaubsfahrt mit Herrn Dells eigenem Auto an den Edersee bis zum Dauerbrenner Italien, wo manchmal zehn Siedlungsfamilien auf einem Fleck klumpten. Die Väter waren von ganzem Herzen Kolonnenfahrer. Ihre Geruchsmischung aus Sonnenmilch, Rasierwasser und Zigarettenrauch gehört zu meinem ewigen Bestand. Das Camel Filteruniversum („Ich gehe meilenweit für eine Camel Filter“), die HB-Werbung („Wer wird den gleich in die Luft gehen“), die Störgeräusche im Autoradio, das Selbstverständnis, mit dem High Fidelity und Continental falsch ausgesprochen wurden, abschätzige Randbemerkungen über ausländische Kollegen, die Sexyness der Mütter in ihren 4711-Parfümwolken … Anfang der 1970er Jahre ließen Dells sich scheiden, ohne dass vorher viel gestritten worden wäre. Herr Dell zog aus. Frau Dell wurde zur Geliebten eines Witwers mit sieben Kindern.
Wir wohnten die Siedlung trocken. Die Brachen zwischen den Häusern nahmen den zivilen Charakter von Rasenflächen an. Wäscheständer und kleine Spielplätze belebten das Bild. Man schützte das Gras vor den Kindern. Die Kinder spielten auf den Anliegerstraßen und umkreisten die Straßenkreuzer jener Amerikaner, die in der Siedlung eine Freundin hatten. Ich fand die Amerikaner vorbildlich. Sie ließen alles Deutsche klein erscheinen. Wir lebten ein Puppenhausleben im Schutz der transatlantischen Allianz. Mein pazifistischer Vater musste einer SPD das Wort reden, die es nicht mehr gab. Mein Vater lebte in der SPD seiner Vaterlosigkeit, des schuldlosen Unglücks seiner Kriegerwitwenmutter, der gewerkschaftlichen Kampfansagen, die um 1950 noch sehr sozialistisch geklungen hatten. Er lebte in einer halluzinierten Nie-wieder-Krieg-SPD. Die Partei war sein Roman und ich sein Kinder-Ich, dem er einen Vater geben konnte. Er zog mich in die Politik, sie war das, was später die Kunst wurde, und in bürgerlichen Kreisen Bildung gewesen wäre: so etwas wie ein Instrument oder eine Fremdsprache. – Eine Ich-Erweiterung.
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Die Kohorten der Außerparlamentarischen Opposition rannten, nicht müde werdend, gegen die Bollwerke des Staates an. Schließlich arrangierten sie sich in der bleiernen Zeit. Sie wurden grün und verlängerten die Umzüge der Friedensbewegung. Diese Entwicklung zehrte die SPD aus. Als Kanzlerwahlverein brachte sie Schröder an die Spitze, wo er einen anderen Durchmarschierer traf. Joschka Fischer. Der größte Albtraum der „Wo-haben-Sie-gedient“-Generation Schmidt/Strauß, war von der Macht nicht mehr zu trennen.
Einen Anfang nahm die SPD-Katastrophe, als Benno Ohnesorg von dem Polizisten Kurras erschossen wurde. Damals half die SPD der CDU dabei, Deutschland nicht nach links ausbrechen zu lassen. Auf diesem Hintergrund zerlegt sich der Willy-Brandt-SPD-Slogan „Mehr Demokratie wagen“ von selbst. Der Extremistenbeschluss erging 1972 unter Brandt.
Lektorat: Christiane Meyer-Thoss
Erstellungsdatum: 26.11.2024