MenuMENU

zurück

Sozialdemokratische Sonnenverehrung (IX)

Jamal Tuschick


Der Schriftsteller Jamal Tuschick schildert die Geschichte der Sozialdemokratie und der Linken in der Bundesrepublik Deutschland ab den 1960er Jahren. Was Tuschick hier unternimmt, ist die Vergegenwärtigung eines Zeitbewusstseins, das sich nach dieser Zeit in Stich- und Schlagworten verloren hat. TEXTOR veröffentlicht Jamal Tuschicks „Sozialdemokratische Sonnenverehrung“ als Fortsetzungsroman in loser Folge. Dies ist der 9. und letzte Teil.

Das Salzmann Labyrinth

 

In der letzten Woche meines Zivildiensts trennte sich Simone von mir. Wir gaben das Jagdhaus einvernehmlich auf. Simone zog sich zurück in das Haus ihrer ständig abwesenden Mutter. Die Professorin lebte mit einer Kollegin zusammen. Ich fand sofort eine neue Bleibe auf einem Gehöft bei Veckerhagen an der Werra. Das Anwesen war lange Stammsitz der Familie Schäfer gewesen. Die einst weitverzweigt-einflussreiche Familie wurde von den letzten Strudeln eines Niedergangs über zwanzig, dreißig Jahre, in denen erst nichts mehr dazugekommen und dann allmählich alles Mögliche abhandengekommen war, auf den Boden gezogen. Elvira „Elvi“ Schäfer, eine Musterinterpretin des stumpfsinnigen Das-kann-doch-einen-Seemann-nicht-erschüttern-Überlebenswillens, führte eine Sprudelbude am Fernwanderweg. Die Konsumgelegenheit ohne Einkehroption und Klo, ein Schalter und davor der Schöller- oder Langnese-Aufsteller, stand im Mittelpunkt eines Ensembles schief getretener Gartenhäuser. Stand da in einer aufgegebenen Nachbarschaft als vormaliges Idyll.

Die Zeit spielte Rabauke im Verein mit den Elementen.

Eine unserer Kasseler Höhlen war die aufgelassene Zeltfabrik in Bettenhausen – das Salzmann Labyrinth. Ein Verein gründete sich als Jagdgemeinschaft. Zur Beute rechnete ich sagenhafte Stimmungen. Allmählich kristallisierte sich ein Gebietsrechtsbegriff heraus. Man ließ sich zu Nachtdiensten einteilen, zog Zäune, verlegte Ketten, setzte Schlösser in massive Türen, erfand Sicherungen.

Ich besuchte meine Großeltern und sah in der Besenkammer nach, ob alles beim Alten geblieben war. Das Anwesen der Alten grenzte beinah an der Fachwerkburg der Schillings.

Simones Versuch, familiär zu wirken, ließ mich an absplitternden Rost denken. Wir lagen auf der Westernveranda und hörten das Klirren der Ketten in Waldemar Ferdinands Kuhstall. Am Tor klemmte eine Fleischbank, die zu meinen Lebzeiten gewiss nicht einmal heruntergeklappt worden war. Für ein halbes Reh hatte ich Ferdinands Hinterland am Bach mit der Sense gemäht, nach einer Unterweisung zum Umgang mit Dengelhammer und Wetzstein. Ferdinand performte die Bearbeitung des Sensenblattes; ergriffen vom pädagogischen Eros. Er hielt Kaninchen in einem Käfigstapel und machte sich einen Spaß daraus, sie hochtrabend anzusprechen.

Der bäurische Kreislauf erschöpfte sich in Redundanz und einer Schwermut der Glieder. Jetzt amtierte Ferdinand vor seinem Fernseher. Das Programm flackerte aus dem Panoramafenster eines neuen Anbaus. Die meisten Dorf- und Siedlungs-Mütter und -Väter saßen vor Fernsehern. Die Versager hielten ihre allabendliche Sitzung in der Trinkhalle im Einkaufszentrum ab. Eigensinnige ackerten noch in ihren Gärten oder tranken in der Vereinsgaststätte unter Aufsicht von Lotte Pohl. Die Ehrgeizigen knobelten im Bürgerhaus etwas aus. Der Geschichtsverein tagte im Gemeindehaus, in dessen Keller die alten Herren und Damen des Tischtennisvereins trainierten. Neben der Zehntscheune fand das Fußballtraining der Jugendmannschaft im Flutlicht statt. Im Glockenturm der evangelischen Kirche bewunderten christliche Pfadfinderinnen die Luftnummern der Mauersegler.

Ferdinands Misthaufen verströmte seine Aromen.

Die Sozialdemokratie verlor in der Siedlung und dem Dorf, dem die Siedlung Anfang der 1960er Jahre zugemutet worden war, ihre Basis. Auf der anderen Seite einer progressiven Öffnung der Partei für grüne Themen rutschte eine Fraktion ins faschistische Sediment. Simone kannte die Gründe, weshalb Bürger mit ihren Wahlentscheidungen die eigene Basis angreifen. Heute nennt man solche Verirrungen Politik des Unmuts. Es gab noch keine Galionsfiguren dafür. Die Repräsentanten des Unmuts waren kleine Lichter, die in Hinterzimmern hetzten.

Wie nah die Häuser zusammenstanden. Mein Interesse an Simone war lange nicht groß genug gewesen, um mir klarzumachen, wie viel Zeit ich in ihrer Nachbarschaft verbracht hatte. Simone gab mir zu verstehen, dass sie immer noch mehr über mich wusste als ich über sie. Meine Schwester war noch klein genug für den Sandkasten im Garten meiner Großeltern gewesen, als Simone mit ihrer Mutter ins Dorf gezogen war. Auch ich schnitt zuerst die Tochter einer alleinerziehenden, dramatisch auftretenden Professorin. So wie sie herumlief, so herausgestochen, konnte Margot Schilling nur Anstoß erregen. Sie regte den Direktverkauf an und animierte die zuerst höchst widerwilligen Erzeuger, auf ihren Höfen Verkaufsstellen einzurichten. Die Landwirte fanden eine Menge herabsetzende Bezeichnungen für die Professorin, die vergeblich versuchte, die Energie einer neuen Zeit in der SPD zu halten.

Der ewige Alarm einer Überengagierten hatte Simone gegen die Verheißungen des Aktivismus immunisiert. Sie war sachlich und ließ sich von harten Ansprachen nicht verstören.

Im Dorf atmete man die Luft des 19. Jahrhunderts. Es gab einen alten Hochmut. Solange Kassel Residenzstadt gewesen war, hatte das Dorf zum Hof gehört. Ein im Zweiten Weltkrieg zerlegtes Schlösschen (das den Dreißigjährigen Krieg überlebt hatte) diente dem Fürsten und seiner Entourage als Herberge auf seinen Jagdausflügen in dem ursprünglich fränkischen Königsforst (Kaufunger Wald/Söhre), der erstmals in einer Urkunde erwähnt wird, die einen Besitz von Karl dem Großen anzeigt. Die Bauern waren schließlich so reich, dass sie ihre Söhne aufs Friedrichsgymnasium schicken konnten. Ferdinands Urgroßvater fuhr mit einem größeren Gespann als der letzte Kurfürst auf die sonntägliche Promenade.

Die Landwirte waren wüste Knochen. Sie hatten satt zu essen, als nach dem Krieg alle anderen hungerten. Sie legten die gegen Wurst eingetauschten Teppiche auf den Hund gekommener Städter in ihren Schweineställen aus.

Im Neoprenanzug

 

Im Emanzipationsdiskurs nach dem Ersten Weltkrieg war „Kameradschaft“ ein progressiver Begriff. Die künftige Gattin begrüßte man mit „Neuer Sachlichkeit“ als „Kamerad“. „Die Frau von morgen wird instinktvoll und klug die guten von den bösen Komponenten der „neuen Sachlichkeit“ zu scheiden haben“, postulierte Max Brod. Das adressierte ein Ideal – die Kombination einer Schönschrift der Wirklichkeit mit männlicher Tüchtigkeit. Letztlich war das Verbesserungspornografie im Geist nicht transpirierender Multifunktionalität und von androgynem Chichi. In der nationalsozialistischen Gleichschaltung des weiblichen Kameraden dominierten andere Facetten. Die Frau als Kamerad näherte sich der Ebenbürtigkeit allein auf dem Feld körperlicher Belastbarkeit.

In der Depression von Neunundzwanzig nahm die emanzipierte Frau selbstverständlich einen Platz in der städtischen Öffentlichkeit ein und fungierte als Antagonistin der von archaischen Arbeitszwängen Unterworfenen, die noch Luft des 19. Jahrhunderts atmeten. Die Emanzipation fand ihre Symbole auf den Fließbändern der Automatisierung. Meinungsbildende Zeitgenossen synchronisierten ihre Erwartungen an die neue Frau mit dem Maschinentempo ihrer Gegenwart.

Auch meine Oma mütterlicherseits war eine Kameradin ihres Mannes. In ihren Siebzigern schlug sie noch Räder und bewies sonst wie Fitness und Unverwüstlichkeit. Ungezuckert und ohne Schmand servierte sie Salate, die wie Blumensträuße aussahen. Sie trug Fröhlichkeit zur Schau. Das war eine Masche. Ich erkannte ein Muster. Ihre Freundinnen zwitscherten genauso. Schlechte Laune gehörte sich nicht. Die alten Bienen schwirrten vor einem Himmel voller Geigen durch den Postbalzkosmos. Jede eine Marika Rökk oder Liselotte Pulver. Alle waren ihren Männern gute Kameradinnen und mir gegenüber nachsichtig.

Mit hochgezogenen Brauen und beredtem Schweigen hatte Oma zur Kenntnis genommen, dass ich die Wehrmacht verweigern würde. Die Bundeswehr nannte sie Wehrmacht. Ich bezweifle, dass die Ignoranz ohne Absicht war. Meine Großmutter brachte damit meinen Vater auf die Palme, der so lange ein Kriegsdienstgegnerultra und eine Einmannfriedensbewegung war, bis die Hippielehrer, die sich gegen die Nachrüstung auflehnten, ihn verstimmten und er die öffentlich bekennende Rede einstellte.

Er wechselte sich selbst aus und kam als ein anderer im Neoprenanzug aus der Kabine an den Strand. Von da an ging es um Wind und Wellen auf allen Weltmeeren.

Meine Großmutter nahm mir meine Ansichten nicht übel. Bei diesem Vater war Pazifismus schließlich kein Wunder. Grundsätzlich war ich von den Amis umerzogen worden. Man hatte mich einer Gehirnwäsche unterzogen. Deutschland kannte ich gar nicht. Die Bundesrepublik hatte mit Deutschland nichts zu tun. Das Land schlief hinter den Sieben Bergen unter einer Daunendecke, die von Frau Holle ab und zu aufgeschüttelt wurde.

Ich tat Gutes, indem ich viel Kuchen aß, überhaupt viel aß. Meine Großeltern hintertrieben das pädagogische Programm meiner Eltern. Ich habe die ersten Lebensjahre in Obhut der Alten verbracht und etwas von der Verachtung übernommen, die meinen Vater aus ihrem engsten Kreis heraushielt.

Tille wollte Nutella und kriegte Verständnis

 

„Wie auch immer - am End wollen‘s alle a lichtdurchflutete Altbauscheiße.“ Helmut Dietl

Gottfried Benn erklärte den evangelischen Pfarrhaushalt zum Hochofen des deutschen Geistesadels. Benns Vater war Pfarrer, Gudrun Ensslins Vater auch. Carl von Linde, Karl Friedrich Schinkel, Friedrich Nietzsche, Benjamin von Stuckrad-Barre – alles Pfarrerskinder.

Milieu und Gesinnung der im öko-pazifistischen Weltrettungs- und Chorleitungswahn abstoßend wirkenden Eltern zwangen auch den heranwachsenden Tillmann „Tille“ Freischmidt auf Gegenkurs. Er wünschte sich konsumorientierte, markenbewusste Versorger.

Tille wollte Nutella und kriegte Verständnis.

Das widerfuhr ihm in einer niedersächsischen Ringburg der Verspätung. Da wurde Udo Lindenberg aus Gronau in Westfalen zu seinem Idol. Die Weltstadt Göttingen bot sich der gespannten Erwartung des Heranwachsenden als Exil an. Im Café Kadenz traf Tille seinen ersten Mentor, den Herausgeber eines Stadtmagazins für Kassel und Göttingen. Bald meisterte er das hochstapelnde Vokabular des Musikredakteurs von eigenen Gnaden. Die Wunder der Bemusterung erschienen alltäglich.

Mit Einundzwanzig war Tille seine eigene Marke im Grenzland zwischen Nordhessen, Südniedersachsen, Westthüringen und Ostwestfalen. Er wäre ein Solitär gewesen, hätte es mich nicht gegeben. Wir übernahmen die kulturjournalistisch brachliegenden Einzugsgebiete bis nach Holzminden, Einbeck, Nörten-Hardenberg, Höxter und Paderborn im Norden und Nordosten und Melsungen, Hersfeld, Alsfeld und Hünfeld im Süden.

Ich juckelte in einem R 6 durch die Gegend. Tille fuhr Jaguar, nobel ging die Welt zugrunde, das Auto war anfällig. Wir fuhren abwechselnd und gemeinsam die großen Dorfdiskotheken ab, ich erinnere an die Papiermühle (Adelebsen), das Porträt (Eschwege) und das Treibhaus (Zierenberg). Als Freunde ländlicher Vergnügungen besprachen wir emphatisch Konzerte, die sonst kein Journalist besuchte. Kein Mensch aus Frankfurt oder Berlin hätte das auch nur ansatzweise gut gefunden, was Tille und mir gefiel, so wie leergefegte Landstraßen zwischen Rapsfeldern im Licht eines heraufziehenden Tages. Wir lebten hinter dem Mond, aber für die Veranstalter, die ihre Landgasthöfe vollkriegen wollten, kamen Tille und ich gleich nach dem lieben Gott. Sie taten, was sie konnten, um uns bei Laune zu halten.

Tille und ich rezensierten Sonnenaufgänge und nannten unsere Überlandfahrten Peripheria Shifting. Damit meinten wir aber etwas ganz anderes als die Verschiebung der Peripherie. Wir schrieben äußerst kollegial für das AKK, das Neuronal, das Kagö, die Hessisch-Niedersächsische Allgemeine und das Göttinger Tagblatt. Nebenbei beteiligten wir uns am Rodeo der Wildplakatierung. In der Munizipalität Göttingens groß erschienen Guntram Vesper und Gunter Hampel. Mir reichte das. Tille war nicht so bescheiden. Er schätzte die Provinz mit heimlichen Vorbehalten. Alle kifften, viele tranken zu viel, Tille steigerte sich aber bis zur Polytoxikomanie. Von Strafverfolgung wurde ständig abgesehen, man schickt den delinquenten Patienten in die Kur. Drei Entzüge gliederten die optimistische Suchtphase und bereicherten Tille mit Chiemsee- und Schwarzwaldstimmungen. Im letzten Durchgang war der Abhängige nicht mehr versichert. Man brachte Tille im Niedersächsischen Landeskrankenhaus unter. Er litt wie der späte Oscar Wilde. Er zählte Fatalitäten ständiger Nüchternheit auf. Die Drohungen eines Rückfalls quälten ihn wie die Inquisition; Tille lebte an gegen die Sucht, bis er sich dann doch in Hamburg seinen Schwächen ergab, zur Hochform auflief, Chefredakteur wurde und endlich alle Klischees vom Schneemann erfüllte, einschließlich der Kinder in zweiter Ehe mit einer viel jüngeren Frau.

Evangelische Hausmusik

 

„Mit Recht verlangt der Leser von dem Dichter, der ihm, wie dem Römer sein Horaz, ein theurer Begleiter durch das Leben seyn soll, daß er im intellectuellen und sittlichen auf einer Stufe mit ihm stehe, weil er auch in Stunden des Genusses nicht unter sich sinken will“, sagt Schiller. Es ist nicht genug, Empfindung mit erhöhten Farben zu schildern; man muss auch erhöht empfinden.

Jahrzehnte ist die Tochter einer russischen Zwangsarbeiterin, die ihren Vater nie gesehen hat, landfahrerisch unterwegs, eine Nomadin des Unheils, die sich in Kleingärtnerkolonien Quartier macht und die Unbeholfenheit geistig randständiger junger Leute nutzt, um sich mit drakonischer Fürsorge eine Gefolgschaft zu sichern. Ihre Mündel verwendet sie auch zuhälterisch. Sie vermietet sie an Drücker- und Putzkolonnenführer.

Erika Senzowa wirkt selbst wie eine Schwachsinnige. Sie besitzt aber eine kalte Intelligenz, die so asozial ist, dass sie als Defekt wahrgenommen wird. Mit ringkämpferischen Zugriffstechniken überwindet sie die Abwehr ihrer Opfer.

Erst als von jedem Liebreiz befreite beinah Vierzigjährige bewegt Erika einen schwer herzkranken Ostwestfalen, der von der Welt aus eigener Anschauung nicht mehr kennt als Mallorca und Phuket, sie erst zu heiraten und dann in einer Lebensversicherung zu begünstigen. Er stirbt erschreckend pünktlich nach Ablauf der Fristen. In den Tod folgen ihm ein vermögender niedersächsischer Briefträger im Ruhestand und ein passionierter nordhessischer Taubenzüchter, der die Mittel für ein Leben als Privatier aus Vermietung und Verpachtung gezogen hat.

Die Leute im Bermudadreieck zwischen Höxter, Einbeck und Hofgeismar munkelten lange vor Erikas Verhaftung von einer schwarzen Witwe. Interventionen von Verwandten der Opfer, die sich um ihr Erbe geprellt sahen, führten zu Exhumierungen und gründlichen Leichenschauen.

Erika stritt das Offensichtliche ab. Ich fragte mich, ob mir mit ihr als Heldin ein Capote-Coup à la „Kaltblütig“ gelinge könne, wurde aber von der Bäckertochter Gerda auf eine andere Spur gelenkt. Plötzlich erhöhte mich jede Wolke. Das tägliche Himmelstheater bescherte poetische Erträge. Die meisten Einfälle vermachte ich den Tennessee Rattlesnakes. Das waren Schwestern, Brüder und Cousine Gerda mit einer evangelischen Hausmusiksozialisation, die den US-amerikanischen Süden feierten und im Kasseler Landkreis gut ankamen. Schließlich gab es auch die Natchez Baton Rouge Band in Oberkaufungen und drei Bluegrass Rocker in Eschwege, die sich Swamp Hedgehogs nannten.

Es gab Country- und Westerntanzwettbewerbe und saloonesk aufgemotzte Gaststätten. Ich zweifelte nicht daran, bis an mein Lebensende die Suchscheinwerfer der Grenzanlagen Lichtschneisen in die Dunkelheit schneiden zu sehen. Das DDR-Grenzregime leistete fantastische Theaterarbeit. Leute, die in der Provinz außerdem Theater machten, ich rede nicht von Kassel, Göttingen, Braunschweig und Hildesheim, sondern von Weilern an Werra und Weser und im Sumpf der Fuldaauen halb versunkenen Gemeinden, wurden als problematische Persönlichkeiten wahrgenommen. Den Stigmatisierungen zum Trotz gab es solche Enthusiasten, und es gab mich, der ihre Inszenierungen besprach.

An einem Rand des Reinhardswalds liegt ein Nest, das nach einer nahen Wüstung Fuchstanz heißt. Fuchstanz ist der letzte Außenposten des Einzugsgebiets von Reinhardshagen. Im Gemeindehaus brachte Sieglinde Rauschenbach mit ihrer Familie Singspiele nach Grimms Märchen auf die Bühne.

Die Rauschenbachs machten Theater. Das war ein Rahmen für Geselligkeit. Sieglinge konnte kein Hang zum Höheren nachgesagt werden. Sie nähte gern Kostüme und verkleidete sich gern. Sie besaß Improvisationstalent und Spielwitz. Der gute Wille in allen Lagen, die Standfestigkeit und der gesunde Menschenverstand entlarvten sich in den Inszenierungen als pausbackige Weltaneignungen mit dogmatischen Hebeln.

Sieglinde stellte sich zur Schau. Das unterschied sie von ihren Gemeindeschwestern. Der Exhibitionismus wurde belächelt. Die Nachbarn lechzten nach Fortsetzungen der Rauschenbacher Verfehlungsgeschichte.

Ich habe vergessen zu sagen, dass Gerda bei den Tennessee Rattlesnakes die Wäscheruffel spielte. Als Cousinen-Sidekick unter Geschwistern fühlte sie sich nicht immer wohl.

 

Ende

 

 

Lektorat: Christiane Meyer-Thoss

Erstellungsdatum: 15.01.2025